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Orange Krise in Kiew

Ukrainische Regierungskoalition zerbrochen. Präsident Juschtschenko erhebt Putschvorwürfe in alle Richtungen. Drohung mit Parlamentsauflösung

Von Knut Mellenthin *

Seit der »orangen Revolution« von 2004 herrscht in der Ukraine fast permanent Regierungskrise. Ein wesentlicher Grund ist das persönliche Zerwürfnis zwischen den Führern der damaligen westlich inspirierten »Revolution«, Julia Timoschenko -- zur Zeit wieder einmal Regierungschefin -- und Präsident Viktor Juschtschenko, das schon im Sommer 2005 deutlich wurde. Hauptthema sind gegenseitige Korruptionsvorwürfe, die allesamt nicht unwahrscheinlich klingen.

Am Dienstag abend (2. September) gab Juschtschenkos Partei Unsere Ukraine ihren Ausstieg aus der Regierungskoalition mit dem Timoschenko-Block bekannt. Die Entscheidung fiel mit den Stimmen von 39 der anwesenden 64 Fraktionsmitglieder sehr knapp aus. Zuvor hatte der Timoschenko-Block Anfang der Woche gemeinsam mit der oppositionellen Partei der Regionen und den Kommunisten eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die die weitgehenden Machtbefugnisse des Präsidenten einschränken. Unter anderem soll er das Recht verlieren, den Regierungschef, den Außenminister und den Verteidigungsminister zu ernennen.

Juschtschenko droht jetzt mit Neuwahlen. Laut Verfassung könnte er das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen, falls nicht innerhalb von 30 Tagen eine neue Regierung gebildet wird. Eine wirkliche Drohung ist das allerdings nicht, weil sich der Präsident zur Zeit auf einem Tiefpunkt seiner Popularität befindet: Nur noch sechs Prozent der Bevölkerung stimmen seiner Politik zu. Nach wie vor am beliebtesten ist Julia Timoschenko mit 25 Prozent, gefolgt vom Chef der Partei der Regionen, Viktor Janukowitsch, mit 20 Prozent. Seine Partei hat ihre Anhänger vor allem unter der mehrheitlich russischen Bevölkerung der Ostukraine.

Juschtschenko schlägt jetzt aggressive Töne an, von denen er sich offenbar Unterstützung durch USA und EU erhofft. Im Parlament habe ein »politischer und verfassungsrechtlicher Putsch« begonnen. »Die Basis dieser Formation - gemeint ist das taktische Bündnis zwischen dem Timoschenko-Block und der Opposition - ist nicht ukrainisch. Ich unterstreiche: nicht ukrainisch.«

Juschtschenko versucht, damit zu punkten, daß er seine Gegner als prorussische Agenten mit landesverräterischen Machenschaften gegen die Ukraine diffamiert. Schon im August war gemeldet worden, daß der Präsident den Sicherheitsdienst angewiesen hat, gegen Julia Timoschenko und andere Regierungsmitglieder wegen »illegaler Aktivitäten« zu ermitteln, die »die nationalen Interessen des Landes gefährden« könnten. Es soll untersucht werden, ob ihr Verhalten als »Landesverrat« oder »politische Korruption« einzustufen ist.

Timoschenko hat sich der antirussischen Kampagne von Juschtschenko im Zuge der Kaukasuskrise und seiner zur Schau gestellten Kumpanei mit dem georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili bisher nicht angeschlossen. Das ist in der Tat auffällig, da sie sich früher an militanter Russophobie von niemand überbieten ließ. Nach vorherrschender Interpretation hat der jetzige Streit der beiden einstigen Weggefährten viel mit der Vorbereitung auf die nächste Präsidentenwahl zu tun, die Ende 2009 oder Anfang 2010 ansteht. Am Mittwoch hat Timoschenko ihren Rivalen aufgefordert, in die Regierungskoalition zurückzukehren, und zugleich ihre Bereitschaft angekündigt, auf eine Kandidatur für das Präsidentenamt zu verzichten.

* Aus: junge Welt, 5. September 2008

Kiewer Koalition zerbrochen

Juschtschenko bestätigt Bruch mit Timoschenko nach internen Kämpfen

Die ukrainische Präsidentenpartei Unsere Ukraine hat entschieden, die Koalition mit dem Block Julia Timoschenko aufzukündigen. Damit reagierte sie auf die Beschneidung der Macht des Präsidenten, die der Timoschenko-Block am Dienstag mit der Opposition beschlossen hatte. Moskau/Kiew (dpa/ND). In der ukrainischen Regierungskrise hat die Partei von Präsident Viktor Juschtschenko den Bruch der prowestlichen Koalition bestätigt. Das gab der Parlamentsvorsitzende Arseni Jazenjuk am Donnerstag auf einer Plenarsitzung in Kiew bekannt. Die Koalition der Partei von Juschtschenko und der von Regierungschefin Julia Timoschenko könne aber erst nach einer zehntägigen Frist für offiziell beendet erklärt werden. Danach hätten die im Parlament vertretenen Parteien 30 Tage Zeit zur Bildung eines neuen Bündnisses.

Nach den Worten von Juschtschenko stehe der außenpolitische Kurs der Ukraine ungeachtet der Regierungskrise fest. »Weder unsere innenpolitischen noch die außenpolitischen Richtlinien geraten dadurch in Gefahr«, sagte das Staatsoberhaupt nach Angaben der Agentur Interfax vor westlichen Botschaftern in Kiew. Er unterstützte den Rückzug seiner Partei aus der Regierung und warf der Timoschenko-Partei »schwere Verstöße gegen den Koalitionsvertrag« vor.

Die Regierungschefin forderte in einer Fernsehansprache die Partei Juschtschenkos zur Rückkehr in das Regierungsbündnis auf. »Ich bin überzeugt, dass die demokratische Koalition ihre Arbeit wieder aufnimmt«, sagte Timoschenko am Mittwoch in einer Fernsehansprache. Beide Politiker hatten 2004 gemeinsam die »Orange Revolution« angeführt, sich aber danach wiederholt zerstritten. Timoschenko kündigte auch Koalitionsverhandlungen mit der Partei der Regionen des mehr an Russland orientierten ehemaligen Regierungschefs Viktor Janukowitsch an.

Nach internen Machtkämpfen war die prowestliche Regierung in der Nacht zum Mittwoch auch am Streit um die Russland-Politik zerbrochen. Auslöser war die Zusammenarbeit Timoschenkos mit der Partei der Regionen sowie den Kommunisten. Bereits vor einem Jahr hatte es in der Ukraine vorgezogene Parlamentswahlen gegeben. Experten halten einen Urnengang im Dezember für möglich.

** Aus: Neues Deutschland, 5. September 2008




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