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Viktor Juschtschenko in Berlin

Der ukrainische Staatschef lässt sich feiern - Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen Deutschland-Ukraine vereinbart - EU-Beitritt in weiter Ferne

Am 8. und 9. März 2005 besuchte der ukrainische Staatschef Viktor Juschtschenko die Bundesrepublik Deutschland. Dabei wurde ihm eine große Ehre zuteil: Er durfte im Plenum des Deutschen Bundestags sprechen.
Aus Anlass dieses Ereignisses haben wir im Folgenden eine Reihe von Informationen zusammengetragen:

Neue Dynamik in den deutsch-ukrainischen Beziehungen

Mi, 09.03.2005

Bundeskanzler Gerhard Schröder ist in Berlin mit dem ukrainischen Staatschef Viktor Juschtschenko zusammengetroffen. Im Mittelpunkt standen die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder.

"Deutschland ist Partner Nummer eins für die Ukraine in Europa", sagte Juschtschenko am 9. März nach seinem Treffen mit Schröder und "nach Russland der wichtigste Handelspartner des Landes". Ein Volumen von vier Milliarden Euro sei eine gute Grundlage, die wirtschaftliche Zusammenarbeit weiter auszubauen.

Auf Vorschlag des Bundeskanzlers soll eine Gruppe aus hochrangigen Wirtschaftsexperten den Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder zusätzliche Dynamik geben. Dies gilt insbesondere für die Zusammenarbeit kleinerer und mittlerer Unternehmen. Schröder kündigte an, dass man dazu auch auf Mittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau und auf Hermes-Deckungen zurückgreifen wolle. In zwei Wochen wird eine hochkarätige Wirtschaftsdelegation die Ukraine besuchen. Der Bundeskanzler versicherte, Deutschland werde hilfreich sein, die Ukraine an die euro-atlantischen Strukturen heranzuführen. Deutschland unterstütze den Wunsch, von der Europäischen Union den Status einer funktionierenden Marktwirtschaft zu erhalten und Mitglied der Welthandelsorganisation zu werden. Mit großen Sympathien hätte Deutschland den Reformprozess in der Ukraine begleitet, sagte Schröder. Der ukrainische Präsident dankte Deutschland und insbesondere dem Bundeskanzler für dessen persönliche Rolle bei der friedlichen Demokratisierung der Ukraine.

Nato-Ukraine

Die Nato und die Ukraine unterhalten eine Partnerschaft, die Nato-Ukraine-Kommission. Langfristig strebt die Ukraine die Integration in die europäischen und transatlantischen Strukturen an. Nato-Generalsekretär de Hoop Scheffer würdigte am 22. Februar das Bekenntnis des ukrainischen Volkes zu Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit - Werte, zu deren Verteidigung die Nato einst gegründet wurde.

Quelle: Homepage der Bundesregierung (www.bundesregierung.de), 9.März 2005

"Heldenehrung" in Berlin – Umbruch in Kiew

Viktor Juschtschenko wirbt bei seinem ersten offiziellen Deutschland-Besuch für die »neue Ukraine«

Von Manfred Schünemann

Heute und morgen wird Viktor Juschtschenko in Berlin für die »neue Ukraine« werben. Der Präsident wünscht sich, dass die Deutschen »nicht in jedem Ukrainer eine illegale Arbeitskraft sehen«.

Dem neuen ukrainischen Präsidenten wird in Berlin die seltene Ehre zuteil, vor dem Bundestag sprechen zu dürfen. Der Held der »Revolution in Orange« wird dabei erneut an die »europäische Tür« klopfen und zugleich auf die Erfolge seiner noch kurzen Amtszeit verweisen. Indes: Der nachdrücklichen ukrainischen Forderung nach einer klaren EU-Beitrittsperspektive wurde wiederholt, auch von deutscher Seite, eine höfliche aber klare Absage erteilt. Und die Affäre um den Mordfall Grigori Gongadse und den Tod des früheren Innenministers Juri Kraw-tschenko zeigen die Kompliziertheit der innenpolitischen Situation.

Juschtschenko und seinen Getreuen geht es zunächst vor allem darum, im In- und Ausland das Vertrauen in die neue Führung zu stärken und Reformweichen zu stellen. Ein umfassender Personalwechsel auf allen Verwaltungsebenen ist bereits vollzogen, jetzt werden die staatlichen Strukturen an die neuen Verfassungsbestimmungen angepasst, die der Regierung mehr exekutive Gewalt zubilligen. Die Präsidialadministration, Hauptstütze von Korruption und Vetternwirtschaft in der Amtszeit Leonid Kutschmas, wurde aufgelöst. Ob sich das neue »Sekretariat des Präsidenten« nun tatsächlich auf die Organisation der präsidialen Tätigkeit beschränkt oder doch wieder in die Regierungsarbeit eingreift, muss sich allerdings erst noch erweisen. Als neue Gebietsgouverneure setzte Juschtschenko fast durchweg eigene Gewährsleute ein, was ihm viel Spielraum für »alte« Praktiken lässt.

Eine Opposition braucht die neue Regierung unter Julia Timoschenko vorerst kaum zu fürchten. Außer den Kommunisten entschieden sich fast alle Abgeordneten der Werchowna Rada zur Unterstützung oder zur Duldung des Kabinetts, selbst die Vertreter der Partei des Juschtschenko-Rivalen Viktor Janukowitsch und anderer früherer »Mehrheitsparteien«. Timoschenko hat nun ein Jahr Zeit, ihr Reformkonzept zu verwirklichen, denn laut Verfassung ist eine Abwahl bis zu den Parlamentswahlen im März 2006 nicht mehr möglich.

Laut Gesetz dürfen dazu nur noch Parteien antreten, die mindestens ein Jahr lang registriert sind. Das erfordert im Juschtschenko-Lager rasche Entscheidungen. Ob die Umwandlung des Wahlbündnisses »Unsere Ukraine« ausreicht, eine landesweite Etablierung als Partei zu sichern, bleibt fraglich, zumal Juschtschenko selbst nur als Ehrenpräsident fungieren kann.

Begonnen hat die Regierung mit der Umsetzung einiger populärer Wahlversprechen. Im Laufe des Jahres sollen Mindestsozialhilfesätze, Mindestlöhne und Geburtenzuschüsse angehoben werden. Die Mittel dafür sollen durch die Neuausschreibung des Verkaufs von Großbetrieben erwirtschaftet werden, bei deren »Privatisierung« unter Kutschma offensichtlich Schiebereien stattfanden. Dazu zählt der »Verkauf« von »Kriworoshstal« an Kutschmas Schwiegersohn im Sommer letzten Jahres.

Durch steuerliche Erleichterungen für den Klein- und Mittelstand will die Regierung ihre soziale Basis stärken. Zustimmung dürfte auch eine Gesetzesinitiative des Präsidenten finden, den Gebrauch der russischen Sprache zu regeln und zu erweitern. Danach soll in den Gebieten mit kompakter russischsprachiger Bevölkerung neben Ukrainisch auch Russisch als Amtssprache Verwendung finden.

Deutlich sind die Zeichen für die angekündigte Westorientierung der Ukraine. Juschtschenko und Außenminister Boris Tarasjuk (der von Kutschma einst wegen zu starker »Europa-Orientierung« entlassen worden war) bekräftigen ein ums andere Mal den ukrainischen Anspruch auf Vollmitgliedschaft in NATO und EU. Der jüngst beschlossene Aktionsplan EU – Ukraine ist für sie kein Ersatz für den Beitritt, sondern ein Instrument für die Vorbereitung offizieller Beitrittsverhandlungen nach 2007. Von der NATO möchte man bereits im nächsten Jahr offiziell als Beitrittskandidat anerkannt werden.

Zwar ist die neue ukrainische Führung bemüht, Normalität und Kontinuität auch in den Beziehungen zu Russland zu wahren, schon um die existenziellen wirtschaftlichen Verbindungen nicht zu gefährden. Doch ließ man den russischen Außenminister Sergej Lawrow in Kiew wissen, dass sich diese Beziehungen künftig der »europäischen Orientierung« der Ukraine unterordnen müssen. Eine »mehrgleisige« ukrainische Außenpolitik – so Juschtschenko in Brüssel – werde es nicht mehr geben.

Allerdings ist dieser außenpolitische Kurs nicht unumstritten. So machte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Oleksandr Moros, dessen Unterstützung für Viktor Juschtschenko wesentlich zum Machtwechsel beigetragen hatte, aus seiner ablehnenden Haltung zur NATO kürzlich in Berlin keinen Hehl. Er trat für eine Erneuerung der OSZE und die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems ein.

Die Auseinandersetzungen über Innen- wie Außenpolitik werden sich bis zu den Parlamentswahlen im kommenden Jahr gewiss verstärken und so zur Profilierung und Differenzierung der politischen Kräfte des Landes beitragen.

Aus: Neues Deutschland 8. März 2005
Quelle: Homepage des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e.V. (www.vip-ev.de)


Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Begrüßung des ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko im Deutschen Bundestag

"Ich begrüße Sie als den gewählten Repräsentanten der neuen, jungen ukrainischen Demokratie. Wir haben alle großen Anteil genommen an dem friedlichen Wandel, dem entschlossenen Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den versuchten Wahlbetrug der postsowjetischen Machthaber. Die Ukraine ist nun ein weiteres Glied in der Kette erfolgreicher, friedlicher Revolutionen zur Demokratie. Deshalb war und ist unsere Sympathie mit der orangenen Protestbewegung so groß, weil sie die Freiheitsrevolution von 1989 vervollständigt, die in Polen, Ungarn, Tschechien, Ostdeutschland begann und die kommunistische Diktatur überwand.

Nicht wenige Abgeordnete des Deutschen Bundestages waren in den entscheidenden Tagen und Wochen in Kiew, um ihre Solidarität vor Ort zu zeigen. Ich selbst habe Ihre Amtseinführung miterleben dürfen und wahrnehmen können, mit welcher Begeisterung die ukrainische Bevölkerung dieses Ereignis gefeiert hat. Aber auch welch außerordentliche Hoffnungen und Erwartungen auf Sie gerichtet sind.

Im Namen des deutschen Parlaments wünsche ich Ihnen, Herr Staatspräsident, und dem ganzen ukrainischen Volk die Kraft und das Geschick, die erforderlich sind, um die nun gewonnene Freiheit in sozialer Verantwortung zu festigen und zu bewahren. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Transformation eines Landes zu einer freiheitlichen Demokratie und zu sozialer Marktwirtschaft mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und langwierig ist.

Im Westen der Bundesrepublik Deutschland blicken wir nun schon auf 56 Jahre in Freiheit zurück, im Osten sind es 15 Jahre. Die Freiheit erscheint deshalb vielen als etwas Selbstverständliches, das immer schon da war. Manche vergessen, dass sie ein flüchtiges, ein prekäres Gut ist, schwer zu gewinnen und leicht zu verspielen. Das ukrainische Beispiel sollte uns daran erinnern, wie wertvoll die Freiheit ist und wie lange es dauern kann, bis ein Volk sie sich zurückerobert. Niemand leugnet, dass es auch in Freiheit bedrückende Sorgen und Probleme geben kann und gibt, aber die Generationen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, die die alltägliche Gängelung der SED-Diktatur überstanden haben, die Stalinismus und die Willkür machtversessener Oligarchien kennen, in Deutschland die älteren und Alten, in der Ukraine alle gegenwärtigen Generationen, wissen, dass es ohne Freiheit weitaus unwirtlicher ist.

In den letzten Wochen spielt die Ukraine eine Rolle in den innenpolitischen Auseinandersetzungen hier in unserem Land. Wir haben Ihren Hinweis verstanden, Herr Präsident, dass der Eindruck nicht entstehen darf, Besucherinnen und Besucher aus der Ukraine würden pauschal als potentielle Straftäter verdächtigt. Das Gegenteil ist richtig: Ukrainerinnen und Ukrainer sind uns in Deutschland genau so willkommen wie alle anderen Gäste. Die große Sympathie und Solidarität der Deutschen für die tapfere Revolution, den beharrlichen Protest für den Sieg der Demokratie bringen die Fraktionen des Deutschen Bundestages nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass Sie, Herr Staatspräsident Juschtschenko schon so kurz nach Ihrer Wahl eingeladen sind, vor dem Plenum zu sprechen. Um diese Ansprache bitte ich Sie nun: Sie haben das Wort."

Quelle: Homepage des Bundestags (www.bundestag.de), 9. März 2005



Zur Bedeutung des Auftritts Juschtschenkos im Bundestag

Eine Rede im Bundestag gilt als seltene Ehre für einen ausländischen Politiker. Dass der neue ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko nur rund sieben Wochen nach seiner Vereidigung vor den Abgeordneten im Reichstagsgebäude in Berlin spricht, ist eine besondere Auszeichnung.

Damit will der Bundestag die friedliche "Revolution in Orange" in der Ukraine würdigen.

Juschtschenko steht in der Tradition führender Staatspolitiker. US-Präsident George W. Bush trat am 23. Mai 2002 im Bundestag auf und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. George Bush hatte zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1999 zusammen mit dem früheren sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vor den Abgeordneten im Reichstagsgebäude gesprochen. Vater Bush war bei seinem Auftritt bereits Ex-Präsident der USA.

Ende Februar 2002 hatte Friedensnobelpreisträger Kofi Annan als erster Generalsekretär der Vereinten Nationen im Bundestag eine Rede gehalten. Im September 2001 kurz nach den Terroranschlägen auf die USA hatte Wladimir Putin als erster russischer Präsident im Reichstagsgebäude gesprochen und die Zugehörigkeit Russlands zu Europa betont. Im Juni 2000 hielt der französische Staatspräsident Jacques Chirac eine vielbeachtete Rede zur Europapolitik.

In über 50 Jahren sind 21 ausländischer Gastredner im Bundestag aufgetreten. Zu den Staatschefs, die noch im Bonner Bundeshaus das Wort an die Parlamentarier richteten, gehörten die beiden US-Präsidenten Richard Nixon (1969) und Ronald Reagan (1982) sowie die Präsidenten Francois Mitterrand (Frankreich/1983), Eser Weizman (Israel/1996), Nelson Mandela (Südafrika/1996) und Vaclav Havel (Tschechien/1997). Erster Redner nach dem Krieg war 1951 John Woodburn, der Leiter einer britischen Parlamentsdelegation.

AGF unter Verwendung von dpa-Meldung, 9. März 2005


Was sagte Juschtschenko im Bundestag?

Juschtschenko bezeichnete die Ukraine als "unentbehrlichen Teil der europäischen Völkerfamilie" und warb für den Wunsch, bald über einen EU-Beitritt zu verhandeln, auch mit neuen wirtschaftlichen Perspektiven für die EU-Länder. Sein Land sei wegen seiner Erdgasvorkommen "in der Lage, die Basis für eine stabile Energieversorgung Deutschlands und Europas zu schaffen". Das ukrainische Volk habe mit seinem Eintreten für die Demokratie einen "erweiterten Raum der europäischen Werte" geschaffen. Es habe damit "die europäische Wahl getroffen".
Aus: Frankfurter Rundschau, 10. März 2005

In seiner Rede betont Juschtschenko die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa. "Ost und West gehören zusammen", sagt er. dpa zitiert weiter: "Die Ukraine ist ein europäischer Staat und unentbehrlicher Teil des unabhängigen Europas".

Juschtschenko hat ein Ziel - den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Er stellt seine eigen "Road map" vor, einen Wegeplan, der über ein Assoziierungsabkommen eines Tages zum Beitritt führen soll. "Es gibt nichts Unmögliches", sagt er. "Man muss nur die historische Weitsicht besitzen."

Juschtschenko legt auch ein Bekenntnis zur westlichen Demokratie ab und rückt damit ausdrücklich von der "gelenkten Demokratie" des russischen Präsident Wladimir Putin ab. "Unser Weg liegt ausschließlich in echter Demokratie." Die Ukraine, die jahrelang im Schatten des mächtigen Nachbarn Russland stand, will sich emanzipieren - und der Europäischen Union und der NATO andienen. Deutschland ist für Juschtschenko der zentrale Staat auf dem Weg nach Europa - "der Motor der europäischen Integration".
Sein Dank geht in erster Linie an Außenminister Joschka Fischer. "Bei Ihnen bedanke ich mich stellvertretend für das gesamte deutsche Volk", sagte er. Und spricht auch die Visafrage an - allerdings anders als Thierse: "Unterstützen Sie die Liberalisierung des Visa-Regimes", ruft er allen zu. Applaus bekommt er dafür aber fast nur von den Bänken der SPD und Grünen.

Am Ende stehen alle Abgeordneten auf und spenden höflichen Beifall.

Nach einer dpa-Meldung, 9. März 2005

Kommentare

Frank Herold in der Berliner Zeitung:

Die feierliche Stimmung, die während der Rede von Viktor Juschtschenko im Deutschen Bundestag herrschte, täuscht darüber hinweg, dass die Ukraine auf absehbare Zeit ein sehr schwieriger Fall bleiben wird für die deutsche Politik. Und das liegt überhaupt nicht an der so genannten Visa-Affäre. Bei der geht es bekanntlich ja gar nicht um die Ukraine, auch nicht um unser Verhältnis zu diesem Land. Sie, die Ukraine und die Ukrainer müssen nur als Vehikel dafür herhalten, damit die Opposition den Außenminister vor sich hertreiben kann. Das geht vorüber.
(...)
Juschtschenko will die Integration in die Europäische Union, und er will sie so schnell wie möglich. Aber er weiß sehr genau, dass das nicht allein davon abhängt, wie schnell das Land den notwendigen Prozess tiefgreifender Reformen in Politik und Wirtschaft voranbringt und wie erfolgreich es die EU-Standards erfüllt. Juschtschenko weiß auch, dass er dieses Ziel nur erreichen kann, wenn er daraus keinen Widerspruch zu den russischen Interessen macht.
Das scheint einfacher als es ist. Offiziell sagt schließlich auch Moskau, man wolle die Beziehungen zur EU so gut wie möglich gestalten und die Integration so weit wie möglich vorantreiben. Doch was man für sich selbst wünscht, muss man anderen noch lange nicht freimütig zugestehen. Das zeigt die erste Moskauer Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew ziemlich deutlich. Eine der zentralen Vokabeln russischer Politik unter Putin ist derzeit "Kontrolle". Den Kontrollverlust in Kiew wird man nur schwer überwinden. So schafft Moskau zwangsläufig ein Spannungsfeld, mit dem zunächst die Ukraine zurechtkommen muss, aber auch die deutsche Politik.

Berliner Zeitung, 10. März 2005

Richard Meng in der Frankfurter Rundschau:

(...) Beim Juschtschenko-Auftritt war es wieder wie bei so manchem Besuch aus den osteuropäischen EU-Staaten: Da kommt einer voller Erwartung, während die Gastgeber viel zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt sind, als dass sie zu mehr fähig wären als zu höflicher, nur vorübergehender Aufmerksamkeit. Ein derart freiheitsbegeisterter Nachbar wie die Ukraine aber drängt das alte Kern-Europa über kurz oder lang doch zu neuer Selbstbesinnung. Wie überhaupt die Herausforderungen im Westen (transatlantische Entfremdung), Süden (Islam) und nun auch Osten zunehmend dazu zwingen, über den Kern des Integrationsgedankens wieder verstärkt zu reden.
So gesehen war das offensive Beschwören des ganzen Europa eine Herausforderung zum richtigen Zeitpunkt. Speziell die Deutschen dürfen vor einer Debatte um Werte und Ziele weiterer Integration nicht wegtauchen, die sich auch nicht in plattem Entweder-Oder zur EU-Mitgliedschaft erschöpfen darf. Sie werden von der Entwicklung im Osten direkter betroffen sein als viele andere. Wenn er für diesen neuen Zusammenhang im einst gespaltenen Kontinent mehr Sensibilität - und sei es durch Erschrecken über die Größe der Aufgabe - erreicht hat, ist Juschtschenko in Berlin viel gelungen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 9. März 2005

"Ganz nah dran" an der EU, aber eben längst noch nicht in der EU sieht Christoph von Marschall in seinem Kommentar im "Tagesspiegel" die Ukraine.

(...) Juschtschenko und die Bürger, die ihn unterstützen, sehen in der EU-Perspektive den Lohn für ihren Mut und für den Reformwillen, der ihnen noch manche Härten abverlangen wird. In der Tat ist kaum zu begründen, warum für die Ukraine nicht dasselbe gelten soll wie für die Türkei. Ankara hat ein Datum für Beitrittsgespräche – nicht weil die Türkei beitrittsfähig wäre, sondern als Lohn für die begonnenen Reformen und als Ansporn, weiterzumachen. Unbescheiden oder unrealistisch kann man die von Juschtschenko genannte Frist von zehn Jahren gewiss nicht nennen. Brüssel und Berlin aber zieren sich. Sie vertrösten die Ukraine mit dem Verweis auf die neue Nachbarschaftspolitik. Angesichts der historischen Wende in Kiew klingt das ein wenig nach Abwimmeln.
Im Grunde haben beide Seiten Recht. Die EU muss die Mega- Erweiterung um gleich zehn neue Mitglieder vom Mai 2004 erst einmal verdauen. Die Erfahrungen mit den nächsten Kandidaten mahnen zur Vorsicht. Bulgarien und Rumänien sind noch lange nicht so weit wie Polen oder Ungarn. Kroatien will nicht mal Kriegsverbrecher ausliefern. In der Türkei erlahmt der Reformwille und werden Demonstranten verprügelt. Die EU weiß inzwischen, dass es einen Dauerstatus zwischen ganz draußen und ganz drinnen geben muss. Aber abgesehen von der Schweiz und Norwegen, die reindürften, aber bisher nicht wollen, fehlt ein Beispiel, wie es sich gut leben lässt – ganz nah dran an der EU.

Aus: Tagesspiegel, 10. März 2005


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