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Ukraine 2011: Fall Timoschenko, Spagat zwischen Ost und West

Von Wladimir Fessenko, RIA Novosti *

Im scheidenden Jahr sind in der Ukraine Reformen und Vorbereitungen auf einen Triumph der Regierungspartei (Partei der Regionen) bei den Parlamentswahlen erwartet worden. Diese Prognosen haben sich nur zum Teil bewahrheitet. Es gab auch unangenehme Überraschungen. Die Ereignisse in diesem Jahr lassen keinen Schluss zu, wie sich die politische Situation weiterentwickeln wird.

Wirtschaftliche Fortschritte und politische Misserfolge

Was die makroökonomischen Kennzahlen betrifft, sieht die Situation günstig aus, besonders im Vergleich zu vielen europäischen Ländern, die in der Schuldenkrise stecken.

Laut dem ukrainischen Regierungschef Nikolai Asarow hat das Land erstmals seit mehreren Jahren eine normale Inflationsrate erreicht (rund 4,5 Prozent im Jahr) bei einem BIP-Wachstum in Höhe von fünf Prozent in den ersten zehn Monaten des Jahres. Die Industrieproduktion ist in den ersten zehn Monaten des Jahres um acht Prozent und die Landwirtschaft um 16 Prozent (dank einer großer Getreideernte) gestiegen. Der Einzelhandelsumsatz ist um 15 Prozent und die direkten ausländischen Investitionen um 44,5 Prozent höher geworden.

Laut Umfragen sind in der Ukraine die sozialen und politischen Spannungen gestiegen. Einer Studie des Rasumkow-Zentrums zufolge sind 66,3 Prozent der Befragten der Ansicht, dass sich die Situation in diesem Jahr verschlechtert habe. Nur 6,1 der Befragten sind der Meinung, dass sich die Situation verbessert habe.

Im Herbst schwappte eine neue Welle der sozialen Proteste über die Ukraine. Es kam sogar zu Versuchen, das Parlamentsgebäude (Oberste Rada) zu stürmen.

Die schlechteste Nachricht für die Regierenden in Kiew war wohl, dass die Popularitätsquote des Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Partei der Regionen fast um die Hälfte zurückgegangen ist. Laut einigen Umfragen im Dezember ist die Popularitätsquote von Julia Timoschenko und ihrer Partei Jahren erstmals wieder höher als die Janukowitsch und der Regierungspartei.

Dies hängt damit zusammen, dass es trotz Wahlversprechen von Janukowitsch statt der Verbesserung des Lebensniveaus soziale Probleme (Anstieg der Kommunaltarife und der Benzinpreise, Buchweizenmangel zu Jahresanfang, Entscheidung über die Erhöhung des Dienst- und Rentenalters bei Frauen, Kürzung der Sozialermäßigungen) gegeben hat.

Suche nach langfristigen Verbündeten

Bei der Zunahme der sozial-politischen Spannungen haben wohl die Strukturreformen eine Rolle gespielt. In diesem Jahr fanden Steuer- und Rentenreformen statt.

Jede von diesen Reformen ist für die Erneuerung und Belebung des sozial-wirtschaftlichen Systems des Landes nötig. Doch bei deren Verwirklichung entstanden ernsthafte Probleme.

Die geplanten positiven Ergebnisse sind noch nicht erreicht worden. Dabei waren auch die Interessen der großen und einflussreichen sozialen Gruppen verletzt (kleine und mittlere Unternehmen, Beamte, Ermäßigungskategorien) worden.

Doch das Thema Reformen trat wegen des Gerichtsprozesses gegen Julia Timoschenko und der Vorbereitung eines neuen Assoziierungsabkommens mit der EU und auf eine freie Handelszone in den Hintergrund.

Zu Anfang dieses Jahres begann die Ukraine damit, die Arbeit an einem neuen Abkommen mit der EU zu beschleunigen. Die Verhandlungen wurden von Vizepremier Andrej Kljujew beaufsichtigt. Die ukrainischen Großunternehmen zeigten Interesse an einem erfolgreichen Ende der Verhandlungen. Es wurde geschafft, viele Zugeständnisse in Bezug auf eine freie Handelszone mit den Europäern auszuhandeln.

Die intensiveren Verhandlungen zwischen der Ukraine und der EU verärgerten Moskau, das die Ukraine in der Zollunion sehen will. Janukowitsch versuchte, zwischen Europa und Russland zu lavieren und schlug ein „3 plus 1“-Format zwischen der Ukraine und der Dreier-Zollunion vor (sektorale Partnerbeziehungen – jedoch ohne ukrainischer Mitgliedschaft in der Zollunion). Dieser Vorschlag wurde abgelehnt.

Erstmals in der Präsidentschaft von Janukowitsch wurden Handelssanktionen gegen die Ukraine verhängt. Der zwanghafte Versuch, sich aneinander enger zu binden, verlief ergebnislos. Die Beziehungen spitzten sich zu. Nach dem September-Treffen der Präsidenten Dmitri Medwedew und Viktor Janukowitsch in Sawidowo normalisierten sich die russisch-ukrainischen Beziehungen äußerlich, die „Integrationswidersprüche“ verschwanden jedoch nicht, was zum Scheitern der Gasverhandlungen führte.

Mittlerweile wurden die Verhandlungen mit der EU im November erfolgreich abgeschlossen. Das ist das wichtigste außenpolitische Ergebnis für die Ukraine in diesem Jahr. Beide Seiten bereiteten sich auf die Paraphierung eines großen Dokumentenpakets (1800 Seiten) über eine politische Assoziierung und freie Handlungszone vor. Am 19. Dezember haben die EU-Anführer in Kiew über eine erfolgreiche Beendigung der Verhandlungen mit der Ukraine mitgeteilt. Das neue Abkommen soll im Februar oder März paraphiert werden.

Die offizielle Unterzeichnung des neuen Abkommens mit der EU wird von der Lösung der innenpolitischen Probleme abhängen – ob die Parlamentswahlen Ende Oktober demokratisch verlaufen werden, und welches Schicksal Julia Timoschenko nimmt.

Fall Timoschenko

Der Gerichtsprozess gegen Julia Timoschenko ist das wichtigste politische Ereignis in der Ukraine und eine tickende Bombe für die politischen Prozesse im Lande geworden.

Der Gerichtsbeschluss sollte die Legitimität des Gasabkommens 2009 untergraben.

Timoschenko sollte anfangs angesichts der außenpolitischen Risiken nicht festgenommen werden. Doch sie wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Es kam nicht zu einer Revolution. Das Volk wollte die Oppositionelle mit den hohen Beliebtheitswerten nicht schützen. Das hängt damit zusammen, dass rund 60 Prozent der Bevölkerung ihr nicht vertrauen. Das brachte erneut die Krise der ukrainischen Opposition ans Licht. Doch das Urteil gegen Oppositionsführerin hat das Vertrauen Europas gegenüber der jetzige ukrainischen Führung untergraben und kann das Streben in die EU, darunter die Unterzeichnung und die Ratifizierung des neuen Abkommens mit der EU, in die Länge ziehen.

Der Fall Timoschenko hat die außen- und innenpolitischen Probleme der Ukraine miteinander verflochten und die ohnehin widersprüchliche Politik Kiews erschwert.

Die gerichtlichen Auseinandersetzungen um den Fall Timoschenko werden auch im nächsten Jahr weitergehen, jedoch auf europäischer Ebene. Der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte wird wohl einen Beschluss zugunsten Timoschenko fassen. Dann müssen die ukrainischen Behörden eine akzeptable Reaktion auf diese Entscheidung finden.

2012 – Krise, Wahlen, Fußball

Die Parlamentswahlen werden das wichtigste politische Ereignis des kommenden Jahres sein. In Erwartung der damit verbundenen politischen Wandlungen und der Ankündigung einer besseren Sozialpolitik im Wahlkampf könnten die sozialen und politischen Spannungen zumindest teilweise abgebaut werden.

Falls jedoch die offiziellen Ergebnisse mit den Erwartungen der Wähler, den Exit-Poll-Angaben und den Urteilen der unabhängigen Beobachter nicht übereinstimmen, kann sich in dem Land wieder revolutionärer Protest regen, der erneut zu einer politischen Krise führen könnte.

Der Kampf zwischen den Anhängern der europäischen und der eurasischen Integration wird eines der wichtigsten Streitthemen dieser Wahlen sein. Die Partei der Regionen muss seinen Platz in dieser Diskussion finden und darf nicht vergessen, dass ihre Anhängerschaft in den russischsprachigen Osten und Süden des Landes beheimatet sind, die für einen Ausbau der Beziehungen zu Russland sind. Dies wird vielleicht die ukrainische Außenpolitik in Richtung Russland bewegen. Doch bislang steht Putins Initiative zur Schaffung der Eurasischen Union und die Teilnahme der Ukraine daran nicht im Mittelpunkt der politischen Diskussionen. Sie wurde von der nationaldemokratischen und proeuropäischen Opposition in der Ukraine kritisiert und von der Janukowitsch-Regierung eher skeptisch eingeschätzt.

Das ukrainische Unternehmertum zeigt keinen Enthusiasmus bei dieser Frage. Janukowitsch und die Oligarchen wollen weiter das Sagen in ihrem Land haben und zeigen deswegen kein großes Interesse an der eurasischen Integration.

Das politische System kann kommendes Jahr wegen einer neuen Weltkrise durcheinandergewirbelt werden. Falls es zu einer Weltkrise kommt, wird sie auch tendenziell Krisen im politischen Leben des Landes auslösen.

Das Jahr 2012 bringt auch eine positive Nachricht für die Fußballfans. Die Ukraine (zusammen mit Polen) wird erstmals die Europameisterschaft ausrichten. Sie wird zwar kaum die ukrainische Politik beeinflussen, aber Millionen Fußballfans in Freude versetzen.

* Zum Verfasser: Wladimir Fessenko ist Vorstandschef des Zentrums für angewandte politische Studien Penta, Kiew.

[Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.]

* Aus: Russische nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. Dezember 2011; http://de.rian.ru


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