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Hat Amerika den Krieg wiedergewählt oder geht ein geläuterter Bush in eine "versöhnliche" zweite Amtszeit?

Internationale Pressestimmen zum Wahlausgang in den USA

Die Berliner taz wartet gleich mit mehreren Kommentaren auf - wohl ein Zugeständnis an die politisch sehr heterogene Leserschaft von stramm rot-grün bis wirklich grün oder rot. Robert Misik versucht in seinem Leitartikel die Psychologie der US-Amerikaner zu ergründen. Da gerät die Persönlichkeitsstruktur des Präsidenten ebenso in den Blick wie die interessante Gefühlslage der Bevölkerung:

(...) Die Mehrheit der Amerikaner hat für einen intellektuell minderbemittelten Fanatiker und trockenen Alkoholiker gestimmt, der religiösen Obskurantismus und außenpolitischen Radikalismus aufs Scheußlichste verrührt. Und in einer Demokratie ist, hin oder her, das Volk verantwortlich für die Regierung, die es wählt.
Der Mensch ist, schon im eigenen Interesse, ein nachsichtiges Wesen. Er neigt dazu, besonders dann, wenn er nichts ändern kann, seiner Zeit gewissermaßen mildernde Umstände zuzugestehen: Oh die armen Amis, sie konnten ja gar nicht mit klarem Kopf abstimmen! Oh doch, sie konnten. Sie sind potenziell vernunftbegabte Wesen und sie hätten sich ein paar Gedanken machen können. Sie haben es nicht getan. Wenn andere Völker eine idiotische Regierung oder idiotische Parteien wählen (man hat damit in Europa so seine Erfahrungen), dann haben sie selbst die Folgen zu tragen. Im Falle Amerikas haben wir sie alle zu tragen. Da können wir uns stundenlang darüber unterhalten, dass Amerika eigentlich kein Imperium im klassischen Sinne ist.
Klar, wir alle lieben Amerika. Die Bücher, die Filme, die Musik, Woodstock, Hollywood, "Sex and the City", diesen leicht naiven, aber liebenswerten Zug, in Grenzen nur Schranken zu sehen, die es zu überwinden gilt, die stetigen, optimistischen Versuche, die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Und gewiss sind auch Bush, seine Entourage und seine Wähler Kinder dieses Amerika. Gleichzeitig aber sind sie die Negation dieses Amerika. Sie sind die dunkle Unterseite des amerikanischen Traums. Wir gewöhnen uns besser daran, in Leuten wie Private Lynndie England das wahre Gesicht der Vereinigten Staaten zu sehen.

Aus: taz, 4. November 2004

Bettina Gaus macht sich Gedanken über das deutsch-amerikanische Verhältnis und meint:

(…) Better the devil you know. Gerhard Schröder hat schon einmal einen Konflikt mit dem US-Präsidenten durchgestanden, und beide wissen, was sie voneinander zu halten haben. Sollte George Bush zu neuen militärischen Abenteuern aufbrechen, gibt es für den Bundeskanzler keine Veranlassung, an seiner Seite zu reiten. Zumal er ja die Erfahrung gemacht hat, dass sich auch ein schwerer Konflikt mit Washington politisch überleben lässt.
Die Union ist da interessanterweise in einer weit schwierigeren Lage. Sie hat stets so getan, als ob offener Widerstand gegen politische oder militärische Aktionen der USA grundsätzlich unverantwortlich sei. Jetzt bleibt ihr nur die Hoffnung, dass George Bush nach einem Wahlsieg nicht gänzlich außer Rand und Band gerät. Eine schwache Hoffnung.

Aus: taz, 4. November 2004

Klarer geht Andreas Zumach zur Sache und wünscht im nachhinein den Wahlsieger Bush lieber vor ein Kriegsverbrechertribunal als ins Weiße Haus.

(...) Die Lügen und Manipulationen, mit denen die Bush-Regierung diese Politik gegenüber dem Kongress, der US-Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit gerechtfertigt hat, sind weit gravierender als die von Präsident Nixon im Rahmen des Watergate-Skandals, die ihn 1974 zum Rücktritt zwangen. Somit wären längst die Voraussetzungen erfüllt für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bush sowie für einen Prozess gegen den Präsidenten, Pentagon-Chef Rumsfeld und andere Mitglieder der Administration wegen Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Stattdessen haben die US-BürgerInnen Bush einen Wahlsieg beschert, den er als Mandat zur Fortsetzung seiner verheerenden Politik begreifen dürfte. Bisher deutet nichts auf eine "geläuterte zweite Amtszeit" wie unter Reagan zwischen 1984 und 1988 hin, in der Bush die neokonservativen Scharfmacher und Glaubenskrieger durch Vertreter der so genannten realistischen Außenpolitik ŕ la Kissinger ersetzen wird. So ist zu befürchten, dass die künftige Regierung in Washington unter Berufung auf ihre Präventivkriegsdoktrin vom September 2002 oder mit anderen Rechtfertigungen weitere Angriffskriege führen wird - sei es gegen Iran, Nordkorea, Syrien oder andere Länder. Dafür benötigte die US-Regierung allerdings die militärischen Kapazitäten, mit denen sie derzeit noch den Irak besetzt hält. Bleibt dem "Rest" der Welt also nur die zynische Hoffnung, dass die USA auch die nächsten vier Jahre im Irak militärisch gebunden bleiben?

Aus: taz, 4. November 2004

Michael Streck schlägt moderatere Töne an und hofft, dass Bush in den nächsten vier Jahren zu einer besonneneren Außenpolitik bereit sein könnte.

(...) Bushs Sieg bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Innenpolitisch steht zwar zu befürchten, dass er weiter Steuern senkt, Gesundheitswesen und Sozialversicherung privatisiert und weiter auf den Umweltschutz pfeift. Außenpolitisch könnte er sich jedoch zu einem Versöhnungskurs gezwungen sehen. Weder den Irak, Afghanistan noch Nordkorea stemmen die USA alleine. Zudem will Bush in die Geschichte eingehen. Er vergleicht sich gern mit Ronald Reagan. Dieser zeigte sich in seiner zweiten Amtszeit flexibel und versöhnlich.

Aus: taz, 4. November 2004

Ähnlich argumentiert der Berliner "Tagesspiegel (Clemens Wergin). Eheerfahrungen müssen herhalten, um das Zerwürfnis zwischen den USA und Europa zu beschreiben. Und wie in einer "normalen" Ehe werde man sich doch auch wieder zusammenraufen.

Wenn Partner sich entzweien, kommt irgendwann dieser Moment der Lähmung: Alles ist gesagt, die Argumente sind ausgetauscht, man ist seelisch erschöpft und doch nicht bereit, dem anderen die Hand zu reichen. So ähnlich geht es jetzt in den transatlantischen Beziehungen zu.
(...)
Bush wird vieles tun müssen, damit wenigstens Europas führende Politiker wieder Vertrauen gewinnen in die einzige Supermacht. Aber Europa sollte auch seine naiv anmutenden Ambitionen überdenken, als politisches Gegengewicht zu den USA zu agieren. Solange das Gewaltmonopol der UN eine gut gemeinte Fiktion bleibt, braucht die Welt eine Ordnungsmacht. Es liegt im natürlichen Interesse aller Demokratien, dass Amerika diese Rolle übernimmt und nicht etwa Putins autokratisches Russland oder das diktatorische China. Und im Interesse der USA liegt es, bei dieser kostspieligen Rolle von möglichst vielen Staaten auf der Welt unterstützt zu werden. Dazu reicht aber die Macht militärischer Fakten nicht aus. Die Partner wollen Argumente hören, nicht Angstmache; sie wollen überzeugt, nicht überwältigt werden.
Eine große Liebe wird das nicht mehr zwischen Bush und Europa. Aber wie das so ist unter entfremdeten Partnern: Man hat ein Kind gezeugt oder ein Haus gebaut - das verstärkt den Druck, es noch einmal miteinander zu versuchen. Das westliche Bündnis ist also ein Fall für die Eheberatung. Denn, mal ehrlich, wer will schon mit Russland oder China fremdgehen?

Aus: Tagesspiegel, 4. November 2004

Im "Neuen Deutschland" wird nicht herumgeredet, sondern die Gefahr direkt beim Namen genannt: Amerika habe "den Krieg wiedergewählt", schreibt der Chefredakteur Jürgen Reents und denkt mit Entsetzen an die nächsten vier Jahre:

Oh Gott, noch vier Jahre Bush? Die Wiederwahl des Kriegspräsidenten wird in vielen Teilen der Welt Unbehagen verursachen. Ob mit einem anderen Ausgang die Hoffnung berechtigt gewesen wäre, dass die Weltmacht USA ihre derzeitigen Kriege beendet und keine neuen anzettelt, darf bezweifelt werden. Das Ergebnis konnte dennoch nicht egal sein: Die Fortsetzung der Bush-Ära bedeutet eine Niederlage für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Bush wird den Abstand von rund 3,5 Millionen Stimmen, den er landesweit gegenüber seinem Herausforderer Kerry einfahren konnte (wo er vor vier Jahren - unerheblich für das US-Wahlsystem - nur den zweiten Platz belegte), innen- wie außenpolitisch auskosten.
Es ist müßig, den Blick darauf zu lenken, ob wie im Jahr 2000 noch Manipulationen nachgewiesen werden können. Die Mehrheit der an der Wahl teilnehmenden US-Bürger hat den Krieg wiedergewählt. Fortan haftet der Makel dieses Präsidenten der real majority in den USA selbst an. Bush mag sie verängstigt und verführt haben - aber sie ließ sich verängstigen und verführen. Daraus ist - Obacht! - kein Antiamerikanismus zu saugen, aber die ernüchternde Erkenntnis, dass Bush nicht mehr der Präsident einer Minderheit ist. Genau das macht diesen Ausgang so beunruhigend. Die US-Gesellschaft, nicht nur ihre Regierung, hat die Hoffnung auf eine friedliche Politik abgelehnt. Bush wird es seine gelegentlich unwilligen Verbündeten und die Welt spüren lassen.

Aus: Neues Deutschland, 4. November 2004

In der Frankfurter Rundschau stellt Dietmar Ostermann Überlegungen an, warum Bush trotz seiner durch und durch negativen Regierungsbilanz gewählt wurde.

(...)Statt dessen bleibt die Erkenntnis, dass es die große Unzufriedenheit und Wechselstimmung wohl eben doch nur bei der Opposition gab, nicht als breite Welle, die durchs Land schwappte. Manches spricht zudem dafür, dass es Bush gelungen ist, die Wahl eben nicht zu einer Abstimmung über seine allenfalls gemischte Regierungsbilanz zu machen. Amerika, in zwei große Gesellschaftsblöcke gespalten, hat vielmehr seine konservative Seele gewählt. Knapp, aber deutlich. Die Nation ist mehr kulturell als politisch gespalten; die Kandidaten Bush und Kerry haben diese Kluft verkörpert. Im ländlich-frommen Milieu ist es den Wählern wichtiger, mit Bush in den großen Gesellschaftsfragen übereinzustimmen als mit jedem Detail seiner Politik. Sein Wahlkampf war ganz auf diese Klientel angelegt. Am Ende dürfte sie den Ausschlag gegeben haben.
(...)
Auch für den Präsidenten aber kann sich der Moment der Genugtuung als flüchtig erweisen. Die Wahl war trotz allem knapp. Bush dürfte eine zweite Chance erhalten, doch es wird ihm in der vergifteten Atmosphäre schwer fallen, jene zu erreichen, die leidenschaftlich Kerry unterstützt haben. Sein Rückhalt bleibt begrenzt. Der Präsident muss entscheiden, ob er weiter hart am rechten Rand regiert oder sich in die Mitte bewegt.
In einer zweiten Amtszeit wird Bush all jene Probleme wieder vorfinden, die er in der ersten aufgetürmt hat. Außenpolitisch wartet Irak, innenpolitisch das Defizit. Auf dem Wahlerfolg ausruhen kann er sich nicht. Diesmal tritt Bush nicht das geordnete Erbe eines Bill Clinton an, sondern sein eigenes. die Erkenntnis, dass es die große Unzufriedenheit und Wechselstimmung wohl eben doch nur bei der Opposition gab, nicht als breite Welle, die durchs Land schwappte. Manches spricht zudem dafür, dass es Bush gelungen ist, die Wahl eben nicht zu einer Abstimmung über seine allenfalls gemischte Regierungsbilanz zu machen. Amerika, in zwei große Gesellschaftsblöcke gespalten, hat vielmehr seine konservative Seele gewählt. Knapp, aber deutlich. Die Nation ist mehr kulturell als politisch gespalten; die Kandidaten Bush und Kerry haben diese Kluft verkörpert. Im ländlich-frommen Milieu ist es den Wählern wichtiger, mit Bush in den großen Gesellschaftsfragen übereinzustimmen als mit jedem Detail seiner Politik. Sein Wahlkampf war ganz auf diese Klientel angelegt. Am Ende dürfte sie den Ausschlag gegeben haben."

Aus: Frankfurter Rundschau, 4. November 2004

Holger Schmale fragt in der Berliner Zeitung nach dem Zustand der Bevölkerungsmehrheit, die Bush wieder gewählt hat und stößt dabei auf eine "fundamentalistische Mehrheit". Es sind die "kleinen Leute", die hinter Bush stehen, obwohl sie ihrer "konkreten Interessenlage" nach für Kerry hätten stimmen müssen.

(...) Doch der Blick auf die Wählerlandkarte der USA zeigt deutlich, wonach ihnen, die im Herzen der Vereinigten Staaten leben, der Sinn stand: nach klarer Führung und nach eindeutigen, amerikanischen Werten, denn sie sind christlich orientiert, patriotisch und konservativ. Sie sind das Klientel, auf das George W. Bush all seine Anstrengungen im Wahlkampf gesetzt hat. Sie sind es, die er in seinen Reden über das Gute und das Böse in der Welt, über die Mission Amerikas, über seinen von Gott befohlenen Auftrag anspricht und begeistert. Sie stellen in diesem Land, fast 400 Jahre nach Ankunft der ersten christlichen Siedler, immer noch - oder besser wohl: wieder - eine Mehrheit mit einer grundsätzlich puritanischen Gesinnung. Deshalb hatten Referenden für Eheschließungen von Homosexuellen oder die Legalisierung von Marihuana keine Chance. Auch diese Ergebnisse zeugen von dem konservativen Mainstream, der die USA nach der Clinton-Ära erfasst hat.
Das Problem der Demokraten ist, dass sie dieser Entwicklung nichts entgegenzu- setzen haben. Sie stehen für die kleinere Hälfte der Amerikaner, jene liberalen, in unserem Sinne aufgeklärten und an Europa orientierten Schichten, die an der zunehmend fundamentalistischen Mehrheit in ihrem eigenen Land zu verzweifeln beginnen. Ihr Kandidat John Kerry war geradezu der Prototyp der im anderen Lager so verhassten liberalen Ostküstenschickeria, der man den direkten Weg von den Vietnamprotesten in die Villen und Lofts von Boston und New York vorwirft. George W. Bush aber ist der Mann, der jene einst schweigende Mehrheit mobilisiert und ihr eine mächtige Stimme gegeben hat.(...)

Aus: Berliner Zeitung, 4. November 2004

Ähnlich argumentiert die Süddeutsche Zeitung. Bushs Wähler sind genauso einfach gestrickt wie er selbst:

(...) Bush hat bei einer gewaltig gestiegenen Beteiligung die Mehrheit der Amerikaner hinter sich versammelt. Die US-Bürger unterstützen seinen Kurs und teilen nicht die Wahrnehmung einer Mehrheit in der übrigen Welt, wonach Bush schädlich sei für Amerika. Die Außenpolitik des Landes in schwerer See, ein illegitimer Krieg im Irak mit ungewissem Ausgang, eine exorbitante Staatsverschuldung und ein rasanter Verlust an Arbeitsplätzen - und George Bush hat dennoch das Vertrauen der Mehrheit, weil diese Mehrheit seine Geradlinigkeit und Härte schätzt. Amerika entscheidet aus seiner inneren Befindlichkeit heraus und ist unempfänglich für den Blick von außen. Das Herz Amerikas - auf der Wahlkarte republikanisch rot eingefärbt -, dieses Herz verlangt nach Stärke und einfachen Formeln. Schwierige Probleme müssen simpel gelöst werden. Bushs Wähler sehen die Welt nicht in ein Geflecht aus Abhängigkeiten und in einen Wust von Problemen verstrickt - sie sehen Amerika als Führungsnation, die gestalten muss. (...)

Aus: Süddeutsche Zeitung, 4. November 2004

Auch die "junge Welt" mutmaßt, dass es mit der demokratischen Öffentlichkeit nicht so weit her sein kann. Sonst hätte es für Bush nicht so leicht sein können, die Ängste vor dem Terror und ganz allgemein vor dem Ausland für sich auszuschlachten.

(...) Die US-Bevölkerung ist von Angst beherrscht. Dafür gäbe es durchaus rationale Gründe. Doch das Mehrheitsvotum reflektierte nicht die Angst vor dem sozialen Abstieg, nicht die Angst vor dem Krieg. Die Ängste schlugen für Bush zu Buche. Die Angst vor den apokalyptischen Reitern des Terrors, die Angst vor dem Weltuntergang, sollte Amerika seiner Mission nicht nachkommen, die Angst vor der ausländischen Bedrohung des »American Way of Life«, die Angst vor der Machtergreifung der Schwulen und Lesben. Die Bush-Administration hatte es genial verstanden, den postmodernen 9/11-Mythos in ein evangelikales Weltbild einfließen zu lassen und so das gesellschaftliche Bewußtsein nachhaltig zu idiotisieren.
Solch archaische Bewußtseinsformen können nur auf dem Boden einer Gesellschaft gedeihen, in der der soziale Diskurs weitgehend fehlt. Darin besteht der Grunddefekt der »amerikanischen Demokratie«. (...)

Aus: junge Welt, 4. November 2004

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung thematisiert die Spaltung der US-Gesellschaft, die im Wahlkampf sich zu einem regelrechten "Kulturkampf" gesteigert hätte. Den in der nächsten zeit zu vermeiden, sei Aufgabe des Präsidenten.

(...) Führt man die drei Hauptthemen des Wahlkampfes - die Besetzung des Iraks, den Krieg gegen den Terrorismus und die Entwicklung der Wirtschaft - jeweils auf ihren Kern zurück, erkennt man einen Kampf der Werte und der Weltentwürfe. Die einen fordern vor allem Freiheit, Sicherheit und unerschütterliche Festigkeit der moralischen Überzeugungen; die anderen streben nach Gerechtigkeit, Interessenausgleich im Inneren wie nach außen und Anpassung des Wertesystems an den gesellschaftlichen Wandel. (...)
Sollte die Überhitzung der Herzen, zu welcher es in Wahlkampfzeiten unausweichlich kommt, nicht rasch der erfrischenden Kühle des Gedankens weichen, bestünde tatsächlich die Gefahr eines Kulturkampfes. (...) Es liegt in der besonderen Stellung des Präsidenten der Vereinigten Staaten, die inneren Spannungen und Spaltungen zu überwinden und für sich die Fortentwicklung der Gesellschaft einzusetzen. Der neue Präsident muß deshalb wahrhaft ein Einiger und kein Spalter sein.

FAZ, 4. November 2004

Dem widerspricht die Neue Zürcher Zeitung:

(...) Bush hat einmal mehr davon profitiert, dass er unterschätzt wurde. Dabei ist er der erste gewählte Präsident seit dem Jahr 1988 - als sein Vater Michael Dukakis bezwang -, der mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen gewann. Und dies bei einer offenbar hohen Stimmbeteiligung, die an jene des Jahres 1960 heranreichen könnte. Vorher war immer verkündet worden, eine starke Mobilisierung der Wähler begünstige die Demokraten. Die Wahlen zeigten das Gegenteil. Wer mobilisiert, muss damit rechnen, dass auch der Gegner das tut. In absoluten Zahlen hat kein Präsident, auch nicht Reagan im Jahr 1984, mehr Stimmen gewinnen können. Das Gerede von der gespaltenen Nation, besonders beliebt im wiedervereinigten, doch kaum einigen Deutschland, wird sich bald als leere Floskel entpuppen. Es waren schließlich nicht nur religiöse Hinterwäldler aus dem Mittleren Westen, die für Bush gestimmt haben. (...)
Bushs Sieg bestätigt auch die alte Erfahrung, dass kein Präsident, der die Wiederwahl suchte in Zeiten, in denen Amerika sich in einem Krieg befand, je eine Wahl verloren hat. Und kein Anti-Kriegs-Kandidat hat je gewonnen. (...)

Aus: NZZ, 4. November 2004

In dieselbe Kerbe schlägt auch der Wiener "Standard" und zeichnet ein etwas gruseliges, aber wahrscheinlich nicht ganz unrealistisches Bild von den USA:

(...) Von den US-Wählern, die regelmäßig Gotteshäuser besuchen - und das sind dort 40 Prozent - entschieden sich zwei Drittel für Bush. Selbst unter den Katholiken fand er eine Mehrheit, obwohl mit John Kerry erstmals seit John F. Kennedy einer der ihren zur Wahl stand. Und Faszination für Bush, der sein Sendungsbewusstsein vor sich herträgt, gab es nicht nur auf dem Land. Auch in den Städten legte er um elf Prozent zu. Sogar ein Rekordanteil von 43 Prozent der für "Familienwerte" empfänglichen Latinos stimmte für Bush, obwohl sich die wirtschaftliche Lage vieler von ihnen in den vergangenen vier Jahren verschlechtert hat. Mit Moral im Sinn von tugendhaftem Handeln hat die von den christlichen US-Fundamentalisten entfachte Wertedebatte jedoch nur bedingt zu tun. "Wenn ein Unternehmer zur Gewinnmaximierung seine Leute feuert, gilt das nicht als unmoralisch", sagte eine US-Professorin dem Autor. Auch Kriegsbegeisterung, Waffenfetischismus und Todesstrafe lassen sich mit diesen Werten vereinbaren. Traditionelle ethische Regeln soll die Politik vor allem im Sexualbereich verteidigen.
Die Wähler in elf US-Bundesstaaten haben in Referenden am Wahltag für ein ausdrückliches Verbot der Homo-Ehe gestimmt. Und Führer der religiösen Rechten haben bereits angekündigt, dass sie von Bush verlangen werden, bei den anstehenden Nachbesetzungen am Supreme Court Höchstrichter zu bestellen, die die Straffreiheit von Abtreibungen zurückdrängen. Die christlichen Fundamentalisten sind in den USA so stark, dass liberale Kommentatoren für die derzeit Toleranz predigenden Demokraten nur dann eine Chance zur Rückkehr an die Macht sehen, wenn auch sie deren Grundwerte glaubhaft vertreten. (...)

Aus: Der Standard, 5. November 2004

Der britische "Guardian" sieht schwarz für die Zukunft, zumal Bush das klare Wahlergebnis als eine Art Blankoscheck betrachten kann, seinen neokonservativen Kurs rücksichtslos weiter zu fahren.

(...) Mr Bush faces a clear choice at home. He can treat his mandate as a blank cheque to govern in the interests of the conservative (and for conservative read, in many cases, anti-black) voters who backed him in such numbers - shaping a conservative majority on the Supreme Court, waging war on legal abortion, amending the constitution to prevent gay marriage, unpicking affirmative action, limiting and marginalising dissent still further, flirting with the notion of declaring the USA an explicitly Christian, English-speaking nation, seeking in all things to construct the conservative Republican hegemony for which Karl Rove has long dreamed and schemed. Or he can recognise the greater wisdom and the greater long-term security that mutual respect and bipartisan reconciliation will provide to a United States, and to a wider world, in which the belief in America's manifest destiny is not shared with such fervour as it is among evangelical conservatives - or even shared at all. We have few illusions about the course he will take. Yet both America and the world need a handshake right now, not a clenched fist of defiance. In an interconnected world, such choices matter and shape all our uncertain futures.

The Guardian, November 4, 2004

Und was sagt man in den USA selbst? Die New York Times sieht die Nation gespalten und blickt skeptisch in die Zukunft:

(...) Das Land bleibt gespalten. Die 49 Prozent der Wähler, die einen Regierungswechsel wollten, sind enttäuscht und sehen mit Sorge in die Zukunft. Ihre erste Aufgabe ist es, den Willen der Mehrheit zu akzeptieren. Bush kann nun entweder so weitermachen wie bisher oder sein Augenmerk auf die Suche nach seinem Platz in den Geschichtsbüchern richten. Seine Rede gab zumindest ein wenig Hoffnung, dass er letzteren Pfad verfolgen will. Doch die Erfahrung zeigt, dass solcher Sinneswandel oft von kurzer Dauer ist. (...)

Aus: New York Times, 4. November 2004

Unzufrieden ist auch die konservativere "Washington Post", die auch die Rede des wiedergewählten Präsidenten vom Abend des 3. November kommentiert und zum Schluss doch nicht ganz ohne Hoffnung bleibt:

(...) Bush hat zu Recht die Notwendigkeit unterstrichen, dass er die Unterstützung aller Amerikaner braucht. Wir hätten es jedoch gerne gehört, wenn er auch über die eigene Nation hinaus geblickt hätte. Er sieht sich nicht nur daheim einem gespaltenen Land gegenüber, sondern einer ebensolchen Welt. Eine neue Amtszeit gibt ihm die Chance, den Verbündeten zu zeigen, dass er bereit ist, ihre Ansichten zu Themen wie dem Klimawandel und der Verbreitung von Atomwaffen zu berücksichtigen. Respekt für die Weltmeinung könnte Bush bei der Verfolgung seiner Ziele in Nahost und anderswo zu Gute kommen. (...)

Washington Post, 4. November 2004


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