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Der Fall Manning weist Edward Snowden den Weg

US-Juristin Cohn: Whistleblower drohen Einzelhaft und Folter

Von Harald Neuber *

In der Debatte um den Geheimdienst-Enthüller Edward Snowden haben US-amerikanische Experten wiederholt Kritik an der Regierung von Präsident Barack Obama geübt. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat unterdessen mehrere europäische Staaten zu Erklärungen für das Überflugverbot für Boliviens Präsidenten Evo Morales aufgefordert.

Der Fall des Whistleblowers Edward Snowden schlägt weiter hohe Wellen. »In den USA würde Edward Snowden nach einer Auslieferung wohl andauernde Einzelhaft drohen.« Diese Auffassung äußerte gegenüber »nd« Marjorie Cohn, Juraprofessorin an der Thomas-Jefferson-Fakultät für Rechtswissenschaften im kalifornischen San Diego. Darauf lasse der Fall des Militärs Bradley Manning schließen, sagte die ehemalige Vorsitzende des Juristenverbandes National Lawyers Guild. »Das Problem bei dieser Einzelhaft ist, dass sie Folter gleichkommt, weil sie früher oder später zu Halluzinationen, Katatonie (extreme seelische Anspannung, d.Red.) und sogar Suizid führen kann.« Für Snowden wäre es zudem sehr schwer, einen fairen Prozess zu bekommen, wenn man das politische Klima betrachte, das die Obama-Regierung in Bezug auf Whistleblower geschaffen habe.

Weder Russland noch ein mögliches südamerikanisches Asylland seien vor diesem Hintergrund verpflichtet, den 30-Jährigen auszuliefern, der sich angeblich nach wie vor im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo befindet. Cohn verwies gegenüber »nd« auch auf die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen. Dieses Dokument schreibe das Prinzip der Nicht-Zurückweisung vor, wenn bei einer flüchtigen Person begründeterweise davon ausgegangen werden muss, dass sie in ihrem Herkunftsland Gefahr läuft, Folter ausgesetzt zu sein. »Da Bradley Manning als anderer prominenter Whistleblower durch eine neunmonatige Einzelhaft gefoltert wurde, kann man davon ausgehen, dass Edward Snowden ein ähnliches Schicksal blühen würde«, sagte die renommierte Völkerrechtsexpertin. Aufgrund dieser Überlegung könne jedes Land seine Auslieferung ablehnen.

Nach Ansicht Mark Weisbrots, Lateinamerika-Experte des in Washington ansässigen Zentrums für Politik- und Wirtschaftsstudien, belegt der Umgang mit dem Politflüchtling Snowden vor allem die veränderte internationale Lage. »In Südamerika sind in den vergangenen 15 Jahren Regierungen in freien Wahlen an die Macht gekommen, die sich vom Einfluss der USA wirklich frei gemacht haben«, sagte er gegenüber »nd«. Das sei ein wichtiger Unterschied zu den europäischen Staaten, denen es nicht gelungen sei, eine von Washington eigenständige Außenpolitik zu entwickeln.

Weisbrot erinnerte daran, dass die meisten südamerikanischen Regierungen auch schon bereit waren, dem Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, Asyl zu gewähren. »Der damalige Präsident von Brasilien, Luiz Inácio Lula da Silva, setzte sich vehement für Assange ein – lange bevor sich Ecuadors Präsident Rafael Correa in die Debatte eingeschaltet hat«, erläuterte Weisbrot. Lula habe diese Position eingenommen, obwohl die von Wikileaks veröffentlichten Depeschen nicht unbedingt das beste Licht auf seine Regierung warfen.

Zugleich nahm der US-Lateinamerika-Experte Ecuador und Venezuela in Schutz: »Selbst wenn die Kritik an der Politik Ecuadors und Venezuelas zutreffen würde, was meist nicht der Fall ist: Wer von den Kritikern hat auf die tausenden politischen Flüchtlinge aus El Salvador, Chile oder anderen Staaten Lateinamerikas hingewiesen, die vertrieben wurden, weil die USA dort Terrorregime unterstützt haben?«, begegnete er entsprechenden Vorwürfen. Zudem wisse jeder, der die Lage in den genannten Staaten Südamerikas kenne, dass die internationalen Medien »eine Karikatur der Wirklichkeit und des Zustandes der Pressefreiheit dort verbreiten«.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 11. Juli 2013


»Wir sind alle Bolivien«

Von Martin Ling **

Sie standen allein auf weiter Flur: die USA und Kanada. Deren Unmut zum Trotz verurteilte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die erzwungene Landung des Flugzeugs von Boliviens Präsident Evo Morales ohne Umschweife. Und das nicht in La Paz, sondern in der Höhle des Löwen selbst: Washington. Das ist einmal mehr ein deutliches Zeichen für ein gewachsenes Selbstbewusstsein der lateinamerikanischen Staaten gegenüber der Supermacht, die den Subkontinent nach wie vor als ihren Hinterhof sieht und dementsprechend behandelt.

Bolivien fordert hartnäckig von Italien, Portugal, Frankreich und Spanien »eine offene Erklärung«, warum der Maschine von Morales vergangene Woche der Überflug verwehrt worden sei. Und Bolivien weiß dabei die OAS bis auf die beiden nordamerikanischen Mitglieder hinter sich. Und nicht nur die: Auch UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon hat in aller Deutlichkeit geäußert, dass die Flugzeuge von Staatspräsidenten nicht angetastet werden dürfen.

Bleibt das peinliche Verhalten der besagten europäischen Staaten und der USA, die ihre Hände in Unschuld waschen. Zu halten ist diese Verteidigungslinie freilich nicht. Spanien hat mittlerweile zähneknirschend eingeräumt, die Überflugerlaubnis wegen eines US-Hinweises vorübergehend verweigert zu haben. Das lateinamerikanische Credo »Wir sind alle Bolivien« lässt sich offenbar nicht einfach ignorieren.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 11. Juli 2013 (Kommentar)


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