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Daten-Schurken am Pranger

Neue Vorwürfe gegen USA und Großbritannien / Snowden verlässt Hongkong

Von Olaf Standke *

Nach weiteren Enthüllungen über Lauschangriffe westlicher Geheimdienste hat der US-Informant Edward Snowden am Sonntag Hongkong mit einer russischen Passagiermaschine verlassen und ist in Moskau gelandet. Gerüchten zufolge wollte er nach Venezuela weiterreisen.

Die Vorwürfe der US-amerikanischen Justiz waren schwerwiegend, der Antrag auf Festnahme wegen Spionage, Diebstahls und Weitergabe von Regierungseigentum dringlich, doch den Behörden Hongkongs reichte das alles nicht: Sie ließen Edward Snowden am Sonntag unbehelligt mit einer Aeroflot-Maschine nach Moskau ausreisen. Rechtsexperten von Wikileaks hätten ihm geholfen, in einem »demokratischen Land« politisches Asyl zu bekommen, berichtete die Enthüllungsplattform im Kurznachrichtendienst Twitter. Der einflussreiche demokratische US-Senator Chuck Schumer drohte Russland via CNN, diese Aktion werde »ernste Konsequenzen« für die bilateralen Beziehungen haben. Der frühere Mitarbeiter einer IT-Spezialfirma im Dienste des Geheimdienstes NSA hatte vor zwei Wochen die flächendeckende Spionage der USA im Internet enthüllt und damit weltweit Empörung über die Geheimdienstpraxis ausgelöst.

Am Wochenende sorgte der 30-Jährige mit weiteren Enthüllungen für Schlagzeilen. Wie die Hongkonger »South China Morning Post« unter Berufung auf den Whistleblower berichtete, soll die NSA Millionen SMS in China ausgespäht und Datenleitungen der Tsinghua-Universität in Peking, über die ein Großteil der chinesischen Internetkommunikation läuft, angezapft haben. Auch Pacnet, einer der größten asiatisch-pazifischen Glaskabelnetzbetreiber, sei gehackt worden. Die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua sparte nicht mit scharfer Kritik. Die Enthüllungen zeigten, dass sich die USA, die sich gern als unschuldiges Opfer von Cyber-Attacken darstellten, als »größter Schurke unserer Zeit« entpuppten.

Der britische Abhördienst Government Communications Headquarters (GCHQ) mit Hauptsitz in Cheltenham kann da durchaus mithalten. Er zapft schon seit Jahren mehr als 200 der wichtigsten Glasfaserkabel an, durch die der transatlantische Datenstrom fließt, und späht unter dem Codenamen Tempora so den weltweiten Telefon- und Internetverkehr aus, wie der Londoner »Guardian« berichtete. Und es gehe nicht nur um die Terrorbekämpfung, sondern z.B. auch um das nicht weniger dehnbare Thema »wirtschaftliches Wohlergehen«. Snowdens Urteil: »Schlimmer als die USA.« Wobei auch Zehntausende NSA-Mitarbeiter Zugang zu den Überwachungsdaten haben.

Snowden spricht von dem »größten verdachtslosen Überwachungsprogramm in der Geschichte der Menschheit« – das weiter ausgebaut werden soll. Dabei ist das Londoner Kontrollsystem nach Insiderangaben noch nachlässiger als jenes in Washington. Außenminister William Hague nannte das Tempora-Programm trotz allem legal. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) zeigte sich höchst beunruhigt, sprach von Alptraum und Katastrophe. Berlin will rasche Aufklärung – wobei vieles der Regierung nicht ganz unbekannt sein dürfte, so Kritiker.

Die Datenschutzkampagne Big Brother Watch warnte vor einem »System totaler Überwachung«, das hart errungene Bürgerrechte einschränken könnte. Wie Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin betonte, rechtfertige auch der Kampf gegen den Terrorismus keine »systematische und flächendeckende Überwachung unser aller Kommunikation durch Geheimdienste, egal ob amerikanische oder britische«. Die Linkspartei sprach von einem »Fall für den Internationalen Strafgerichtshof«.

* Aus: neues deutschland, Montag, 24. Juni 2013


Spitzeln ohne Grenzen

Weitere Enthüllungen: Whistleblower Snowden deckt US-Datenspionage in China und britisches Schnüffelprogramm »Tempora« auf. Erfolgreiche Flucht aus Hongkong

Von Rüdiger Göbel **


Großbritannien spitzelt im großen Stil den globalen Telefon- und Internetverkehr aus. Der britische Geheimdienst »Government Communications Headquarters« (GCHQ) in Cheltenham hat sich dafür Zugang zu den Glasfaserkabeln verschafft, durch die der transatlantische Datenverkehr abgewickelt wird, auch der aus Deutschland. Das berichtet der britische Guardian. Der US-Informant Edward Snowden hatte der Zeitung Dokumente über ein umfassende Abhörprogramm, Codename »Tempora«, vorgelegt. Offensichtlich kollaborieren beim Datenklau mehrere Unternehmen, bzw. wurden sie dazu verpflichtet und zum Stillschweigen gezwungen.

Laut Snowden sind die Briten »schlimmer als die USA«. »Tempora« sei »das größte verdachtslose Überwachungsprogramm in der Geschichte der Menschheit«. Die gigantische Abhöroperation läuft seit 18 Monaten. »Das Ausmaß ist beeindruckend«, so dpa: E-Mails, Facebookeinträge, SMS und Telefonate – täglich seien schon vor einem Jahr 600 Millionen »Telefon-Ereignisse« erfaßt worden. 200 Glasfaserleitungen sind bereits angezapft, der GCHQ kann Informationen aus 46 davon gleichzeitig absaugen. Das dabei »gewonnene« Datenvolumen umfaßt 192 Mal den gesamten Inhalt der British Library – täglich. Tatsächlich handelt es sich bei »Tempora« wohl um ein britisch-amerikanisches Gemeinschaftsprojekt. Die USA, deren NSA-Absauprojekt »PRISM« Snowden zuvor enthüllt hatte, stellen rund die Hälfte der »Auswerter« zur Verfügung. Überhaupt arbeiten haben die beiden Länder mit Australien, Neuseeland und Kanada ein globales Spitzelnetzwerk »Five Eye« errichtet.

Snowden machte darüber hinaus weitere Überwachungsprojekte der USA publik. In einem Interview der South China Morning Post in Hongkong berichtete der Whistleblower am Sonntag, die NSA habe Millionen chinesischer Mobilfunknachrichten und Datenübertragungsleitungen an der Tsinghua-Universität in Peking ausspioniert. Dort befindet sich mit dem Bildungs- und Forschungsnetzwerk CERNET eines der sechs großen Netzwerke des Landes. Auch habe es 2009 US-Hackerangriffe auf Pacnet, eines der größten Glasfasernetze in der Asien-Pazifik-Region gegeben sowie auf die chinesische Universität in Hongkong.

Die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua kritisierte Washing­tons Cyberangriffe scharf. Die USA hätten sich lange als unschuldiges Opfer von Internetattacken dargestellt, nun hätten sie sich als »größter Schurke unserer Zeit« entpuppt. Die Behörden reagierten entsprechend. Die US-Regierung hatte Anklage gegen den 30jährigen Edward Snowden wegen Geheimnisverrats erhoben und stellten einen dringlichen Antrag auf Festnahme in Hongkong, wohin er vor seinen ersten Enthüllungen geflüchtet war. Die zuständigen Stellen schickten den Antrag aber als unvollständig mit der Bitte um zusätzliche Angaben wieder zurück, teilte die Regierung der chinesischen Sonderverwaltungsregion mit. Es fehlten »ausreichende Informationen« für eine Prüfung. So habe es »keine rechtliche Grundlage« gegeben, Snowden an der Ausreise zu hindern, hieß es in der Mitteilung am Sonntag weiter. Der 30jährige flog derweil mit einer russischen Passagiermaschine nach Moskau. Ein »demokratisches Land« habe ihm Asyl zugesichert, meldete die South China Morning Post. Welches war bis jW-Redaktionsschluß noch unklar. Der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSur veröffentlichte ein Foto, das Fahrzeuge der ecuadorianischen Botschaft am Moskauer Airport zeigt. Der Fernsehsender Russia Today berichtete, daß ein Arzt der ecuadorianischen Botschaft Snowden im Flughafengebäude untersucht habe.

** Aus: junge Welt, Montag, 24. Juni 2013


Auf dem Kriegspfad

Von Olaf Standke ***

So weltumspannend wie die Überwachungsprogramme, die er enthüllt hat, gestaltet sich auch die Flucht des US-amerikanischen Informanten Edward Snowden, die ihn über Hongkong und Moskau Gerüchten bei Redaktionsschluss zufolge via Havanna nach Venezuela führen könnte. Im Nacken sitzen dem einstigen Internetspezialisten in Diensten des Geheimdienstes NSA die Strafverfolgungsbehörden daheim, die wie schon bei anderen Whistleblowern zuvor schweres Geschütz auffahren. Längst auch wirft man in Washington mit dem politischen Vorwurf der unverantwortlichen Fluchthilfe um sich, etwa Richtung russische Führung.

Dabei war selten ein Glashaus so groß wie das der Obama-Regierung in diesem Fall weltweiter massiver elektronischer Überwachung. Inzwischen sitzt dort auch der Londoner Sonderverbündete. Der große Bruder Barack und sein Brit Brother betätigen sich in einem Ausmaß als globale Datenabsauger, das wohl selbst George Orwell verblüffen würde. Die USA und ihre NATO-Partner haben in den vergangenen Jahren den Begriff des Cyber-Krieges kultiviert, der zuletzt sogar Eingang fand in die strategischen Konzepte des größten Militärbündnisses der Welt. Verstärkte Bemühungen für die Verteidigung vor digitalen Angriffen aus diesem und jenem Reich des Bösen werden dabei gern gefordert. Es zeigt sich nun, dass man selbst seit langem aggressiv und alle Grenzen sprengend auf dem elektronischen Kriegspfad ist.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 24. Juni 2013 (Kommentar)


Klare Kante

Reaktionen auf Snowden-Enthüllungen

Von Rüdiger Göbel ****


Der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden ist auf Flucht, allen Erfahrungen aus der Geschichte seines Lebens wohl nicht mehr sicher. Nach seinen Enthüllungen über die vom US-Geheimdienst NSA betriebene Datenabsaugmaschine »PRISM« nun die Offenbarung, der britische Abhördienst GCHQ treibt’s noch schlimmer. »Tempora« haben die Spitzel Ihrer Majestät ihren ganz persönlichen Zugang zur globalen Kommunikation getauft. Laut Guardian werden E-Mails, Einträge in sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook und Telefongespräche sowie persönliche Informationen der Nutzer 30 Tage lang gespeichert. 600 Millionen Telefonverbindungen können mit der Spitzelsoftware erfaßt und ausgewertet werden – täglich. Darunter alles aus Deutschland, langweilig Privates wie Brisantes aus der Wirtschaft. Großbritannien und die USA haben sich mit Kanada, Neuseeland und Australien zu einer global agierenden Spionageallianz verschworen.

Die Reaktionen hierzulande fallen Verhalten aus, Snowdens »Verrat« trifft ja »Freunde«, nicht die Stasi. Von Verbrechen keine Rede. Was wäre wohl los, nicht die britischen Brüder, sondern die Russen oder Chinesen, Teheran oder Damaskus spielten derart dreist »Big Brother«? Wäre der Chef der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Volker Kauder, da auch so großzügig? Großbritannien müsse seine europäischen Partner »umfassend und schnell« aufklären, fordert der Unionsmann. »Wenn das berichtete Ausmaß der Datenüberwachung so stimmt, wäre dies nicht akzeptabel.« SPD-Innenexperte Michael Hartmann fällt zu Snowdens Enthüllungen nur ein: »Das massenhafte Ausspähen von Deutschen ist durch nichts gerechtfertigt.« Das der ­Polen schon?

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fürchtetet einen »Alptraum à la Holly­wood«. Wenn, ja wenn, »das Programm wirklich so existieren sollte, muß auf europäischer Ebene Druck gemacht werden, daß das in dieser Form – ohne Anlaß, flächendeckend – nicht mehr zum Einsatz kommt.« Die doppelte Einschränkung ist für die Liberale dahingehend wichtig, als für den Bundesnachrichtendienst ja gerade selbst ein neues – nach obigen Maßstäben freilich bescheidenes – 100-Millionen-Euro-Abhörprogramm aufgelegt worden ist. Insofern grenzt es an Volksverdummung, wenn die Ministerin an die deutschen Sicherheitsbehörden appelliert, sicherzustellen, daß sie »nicht an Überwachungsprogrammen beteiligt sind«.

»Klare Kante« fordert nur die Linksfraktion – ihr Innenexperte Jan Kortes wird denn auch konsequent ignoriert. Die weltweite Überwachung des Internets vornehmlich durch US-amerikanische und britische Geheimdienste sei ein »permanenter Angriff auf die Menschenrechte« und also »ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag«. Mit Barack Obama und David Cameron säßen da dann die ersten Nichtafrikaner auf der Schurkenbank. Wer zeigt sie an?

**** Aus: junge Welt, Montag, 24. Juni 2013


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