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"Evil empire"

Vor 30 Jahren nannte US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion "Reich des Bösen". Seine Rede richtete sich gegen Kritiker der nuklearen Aufrüstung im eigenen Land

Von Knut Mellenthin *

Selbst einige Mitglieder seiner eigenen Regierung schüttelten den Kopf oder waren zumindest erschrocken, als US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion am 8. März 1983 als »evil empire«, Reich des Bösen, bezeichnete. Den für die Rede Verantwortlichen war es gelungen, den Stein des Anstoßes so geschickt in ein scheinbar unproblematisches Manuskript zu verpacken, daß die sogenannten Realisten und Pragmatiker, die es vor allem im Außenministerium gab, nicht aufmerksam geworden waren. Darüber hinaus schien der Anlaß der Präsidentenansprache, eine Veranstaltung christlicher Fundamentalisten in der Disneyland-Stadt Orlando (Florida), nicht gerade eine weltpolitische Bühne zu sein. Als Reagan neun Monate zuvor, am 8. Juni 1982, in einer Rede vor beiden Häusern des britischen Parlaments von der Sowjetunion als »focus of evil«, Brennpunkt des Bösen, sprechen wollte, waren die Realisten und Pragmatiker auf dem Posten gewesen und hatten die Streichung dieser Worte durchgesetzt.

Der Begriff »evil empire« hat den 2004 gestorbenen Reagan überdauert. Weitgehend verlorengegangen ist jedoch drei Jahrzehnte später der historische Kontext, in dem er damals sprach, nämlich der Streit um die ¬NATO- »Nachrüstung«, der zu Massenprotesten in allen großen westlichen Ländern geführt hatte. Gut vier Fünftel seiner halbstündigen Rede vor 1200 Mitgliedern der National Association of Evangelicals, des bedeutendsten Dachverbands christlich-fundamentalistischer Gemeinden, widmete Reagan gesellschaftspolitischen und religiösen Fragen, bevor er zum eigentlichen Thema kam. Der Präsident, selbst ein strenger Fundamentalist mit apokalyptischen Wahnvorstellungen über den nahe bevorstehenden Weltuntergang (»Armaggedon«), wetterte zunächst lang und breit gegen die Verschreibung der Pille an minderjährige Mädchen ohne Zustimmung der Eltern, gegen legale Abtreibungen, gegen die Abschaffung des obligatorischen Schulgebets, gegen »Ehebruch«, »teenage sex«, Pornographie und harte Drogen.

Massenproteste

Über die scheinbar banale Feststellung, daß es »Sünde und Böses in der Welt gebe«, und die Behauptung, der Marxismus-Leninismus ordne »die Moral« vollständig den »Interessen des Klassenkrieges« unter, wechselte Reagan zu einer heftigen Polemik gegen die damals sehr aktive Freeze-Bewegung. Sie hatte, und genau deshalb kam der Präsident vor diesem Publikum darauf zu sprechen, zahlreiche, teilweise prominente Anhänger auch in religiösen Kreisen der USA gefunden: im protestantischen Council of Churches, in der Conference of Catholic Bishops, im jüdischen Synagogue Council und eben auch unter den Evangelikalen, die konservative, meist stark missionarisch gestimmte Fundamentalisten unterschiedlicher christlicher Strömungen und Sekten umfassen.

Kern der 1980 entstandenen Freeze-Bewegung war die Forderung an die USA und die Sowjetunion, »ein gegenseitiges Einfrieren (freeze) zu praktizieren für Tests, Produktion und Stationierung nuklearer Waffen und Raketen sowie für neue Flugzeuge, die hauptsächlich dazu bestimmt sind, Atomwaffen zu transportieren«. Am 12. Juni 1982 fand zur Unterstützung der Kampagne in New York die vermutlich größte Demonstration statt, die es in den USA jemals gegeben hatte: Rund eine Million Menschen versammelten sich dazu im Central Park.

Die Sowjetunion brachte schließlich durch ihren Außenminister Andrei Gromyko am 4. Oktober 1983 einen umfassenden Freeze-Vorschlag in die UN-Vollversammlung ein. Am 15. Dezember 1983 wurde er mit 124 gegen 15 Stimmen – darunter neben den USA auch die BRD – bei sieben Enthaltungen als Resolution verabschiedet.

Die Freeze-Kampagne war eine Reaktion auf die Double-Track-Entscheidung der NATO vom 12. Dezember 1979, in Deutschland meist als »Doppelbeschluß« bezeichnet. Die westliche Allianz verlangte von der Sowjetunion, die Ersetzung ihrer älteren Mittelstreckenraketen durch die SS-20 einzustellen und rückgängig zu machen. Für den Fall, daß die Verhandlungen darüber nicht innerhalb von vier Jahren, also bis 1983, zum gewünschten Ergebnis führen würden, kündigte die NATO die Stationierung von 464 Cruise Missiles und 108 Pershing II in Europa an. Am 18. November 1981 bezeichnete Reagan diese Drohung mit einer massiven »Nachrüstung« zur Täuschung der internationalen Öffentlichkeit als »Zero Option«, deutsch Null-Lösung.

Führbarer Atomkrieg

Der »Doppelbeschluß« war noch unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter verabschiedet worden. Reagan übernahm das Amt erst am 20. Januar 1981. Zuvor hatte Carter am 25. Juli 1980 die Directive 59 unterzeichnet, die zum Ziel hatte, einen Atomkrieg planbar und führbar zu machen. Etwa zur selben Zeit erschien in der Zeitschrift Foreign Policy ein Aufsatz von Colin S. Gray und Keith Payne, damals beide Mitarbeiter des Hudson Institute, unter dem Titel »Victory Is Possible«, Sieg ist möglich. Ihre Kernthese: »Die USA müssen die Fähigkeit besitzen, einen Atomkrieg rational zu führen.« Dieser solle »den Tod des Sowjetstaates« zum Ziel haben. Die Friedensbewegung jener Jahre sah in diesem Zusammenhang die geplanten Cruise Missiles und Pershings als Waffen für einen nuklearen »Enthauptungsschlag« gegen die politischen und militärischen Zentren der Sowjetunion.

Im Dezember 1983 begann die NATO trotz anhaltender Proteste mit der angedrohten Umsetzung ihrer »Nachrüstung«. Am 6. November 1984 sicherte sich Reagan seine Wiederwahl mit 58,8 Prozent der Stimmen gegen den Demokraten Walter Mondale. Der Republikaner erreichte damit ein deutlich besseres Ergebnis als vier Jahre zuvor: Damals hatte er sich mit 50,8 Prozent gegen Amtsinhaber Jimmy Carter durchgesetzt. Alle bedeutenden Demokraten, die sich 1983/1984 am Rennen um die Präsidentschaftskandidatur ihrer Partei beteiligten, waren Befürworter eines nuklearen Freeze.

Am 11. März 1985, zwei Jahre nach Reagans Evil-Empire-Rede, wurde der damals 54jährige Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU; Reagan war zu dieser Zeit bereits 74. Neben dem innenpolitischen »Umbau« (Perestroika), der sich innerhalb weniger Jahre zum Abrißunternehmen entwickelte, veranlaßte Gorbatschow auch eine Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik. Ihr spektakulärster Ausdruck war der militärische Rückzug aus Afghanistan. Durch Zugeständnisse belebte der neue erste Mann der Sowjetunion auch die Abrüstungsverhandlungen. Am 8. Dezember 1987 unterzeichnete er zusammen mit Reagan den INF-Vertrag, der die Verschrottung aller Kurz- und Mittelstreckenraketen vorsah. Das konnte einerseits als Erfolg des NATO-»Doppelbeschlusses« interpretiert werden, bedeutete andererseits aber auch einen Rückschlag für die abenteuerlichen Phantasien eines westlichen »Enthauptungsschlages«.

Vom 25. Mai bis zum 3. Juni 1988 besuchte Reagan Moskau, die Hauptstadt des »Reichs des Bösen«. Von Journalisten gefragt, ob er immer noch an dem Begriff festhalte, den er in Orlando gebraucht hatte, antwortete der US-Präsident, das sei nicht der Fall. Damals, 1983, sei »eine andere Zeit« gewesen.

Ronald Reagans Rede in Orlando vom 8. März 1983 (Auszug)

Ich appelliere an Sie, Ihre Stimme gegen jene zu erheben, die die Vereinigten Staaten in eine Position militärischer und moralischer Unterlegenheit bringen wollen. (…) Ich rufe Sie auf, sich in Ihren Diskussionen über die Vorschläge für ein nukleares Freeze vor der Versuchung des Stolzes zu hüten – vor der Versuchung, sich unbekümmert als über dem Ganzen stehend zu erklären und beide Seiten als gleichermaßen schuldig zu bezeichnen, die Tatsachen der Geschichte und die aggressiven Antriebskräfte des Reichs des Bösen zu ignorieren, den Rüstungswettlauf einfach ein gigantisches Mißverständnis zu nennen und sich auf diese Weise aus dem Kampf zwischen Richtig und Falsch, zwischen Gut und Böse zurückzuziehen.

Ich bitte Sie, den Versuchen jener Leute zu widerstehen, die Sie davon abhalten wollen, unsere Anstrengungen, die Anstrengungen dieser Regierung zu unterstützen, Amerika stark und frei zu erhalten. (...)

Amerikas militärische Stärke ist wichtig. Aber lassen Sie mich hier hinzufügen: Ich habe immer daran festgehalten, daß der Kampf um die Welt, der jetzt stattfindet, niemals durch Bomben oder Raketen, durch Armeen oder militärische Macht entschieden werden wird. Die wirkliche Krise, vor der wir stehen, ist eine spirituelle. (...)



* Aus: junge Welt, Samstag, 9. März 2013


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