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Als Rosa Parks sitzen blieb, standen die Schwarzen auf

Die kürzlich verstorbene US-Bürgerrechtlerin hatte es satt, sich zu fügen. Vor 50 Jahren löste sie eine Massenbewegung gegen den Rassismus aus

Von George Pumphrey*

Es ist der 1. Dezember 1955. In Montgomery, Alabama, weigert sich eine schwarze Frau, dem Gesetz zu folgen. Diese Weigerung fordert das rassistische System der USA heraus.

Rosa Parks, die seit vielen Jahren im organisierten antirassistischen Kampf aktiv ist, fährt von ihrer Arbeit mit dem Bus nach Hause. Ein weißer Fahrgast steigt ein und sieht, dass kein Platz frei ist. Er bleibt stehen. Der Busfahrer James F. Blake bemerkt dies und befiehlt den vier schwarzen Fahrgästen, die in der ersten Reihe der Sektion »für Farbige« sitzen, nach hinten zu gehen.

Es ist das Gesetz der Rassentrennung: schwarzen Fahrgästen ist verboten, sich neben weiße zu setzen. Sie dürfen auch nicht die Plätze auf der anderen Seite des Ganges einnehmen, solange ein Weißer in der Reihe sitzt. Damit ein Weißer sich hinsetzen kann, sollen auch an diesem 1. Dezember vier Schwarze die Reihe verlassen. Blake droht mit der Polizei. Drei von ihnen stehen widerwillig auf und gehen nach hinten. Rosa Parks rutscht lediglich einen Sitz weiter zum Fenster. Blake fragt, ob sie nicht aufstehen will. Sie antwortet mit ruhiger Stimme »Nein«. Dieses Nein erfasst bald Millionen und ändert den Lauf der Geschichte. Es ist der Beginn der großen Bürgerrechtsbewegung.

Rosa Parks erklärte viele Jahre später: »Ich wusste nicht, welche Reaktion mein Handeln hervorrufen würde. Ich wollte nur deutlich machen, wie es ist, wenn man diskriminiert wird. Ich wusste, dass ich ins Gefängnis gehen muss, als der Busfahrer drohte, mich verhaften zu lassen. Ich fühlte mich bei dem Gedanken nicht wohl. Aber ich war bereit dazu, damit deutlich wurde, dass Schwarze viel zu lange viel zu viel ausgehalten hatten. Ich war nicht müde, wie so oft gesagt wurde. Ich hatte es einfach nur satt, mich zu fügen.«

Klima der Angst in der »McCarthy-Ära«

Ein Klima der Angst herrschte zu jener Zeit in den USA. Die antikommunistische Hysterie der »McCarthy-Ära« (1950-1954) war gerade erst offiziell beendet worden. Viele fortschrittliche und liberale Kräfte waren als »Kommunisten« gnadenlos verfolgt, aus den Ämtern getrieben und vor den Kongress-Ausschuss »für unamerikanische Aktivitäten« gezerrt worden. Nur wenige Jahre nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition sollte die Nation auf die Konfrontation zur Sowjetunion eingestimmt werden. Die antikommunistische Hysterie sollte jede Opposition gegen diese Politik einschüchtern. Für die meisten Medien war nicht länger der Faschismus das verabscheuenswürdigste System, sondern der Kommunismus. Jeder soziale Protest wurde als »kommunistisch inspiriert« angeprangert und kriminalisiert.

Der Kampf der Schwarzen richtete sich gegen die Rassentrennung und gegen rassistische Angriffe und Lynchmorde. Es war die NAACP (Nationaler Verein für den Fortschritt der Farbigen), die größte und älteste Bürgerrechtsorganisation in den USA, die diesen Kampf anführte. Einen wichtigen Sieg konnte sie bereits erringen: Das Oberste Gericht hatte 1954 die Rassentrennung in den Schulen als verfassungswidrig aufgehoben. Doch viele Südstaaten weigerten sich, dieses Urteil durchzusetzen. Die NAACP war in vielen Orten des Südens verboten und agierte teilweise im Untergrund. Rosa Parks war seit 1943 Sekretärin der NAACP in Montgomery. Die Rassentrennung war eine Folge der Sklaverei, die in den USA 250 Jahre lang geherrscht hatte. Schwarze wurden nicht als Teil der Menschheit betrachtet und wie Lastvieh behandelt. Nach dem Gesetz waren sie keine Personen, sie genossen keine Bürgerrechte.

Dabei hatten in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, der »Geburtsurkunde der Vereinigten Staaten«, die höchsten revolutionären Ideale der damaligen Zeit ihren Ausdruck gefunden: die Gleichheit der Menschen, das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück ebenso wie das Recht – und die Pflicht – der Unterdrückten, gegen Tyrannei zu rebellieren und sie abzuschaffen. Doch die Tyrannei der Sklaverei findet keinerlei Erwähnung in diesem Dokument.

Die US-Verfassung von 1787 garantierte die weitere Einfuhr von Sklaven und forderte, dass jene, die in Regionen ohne Sklaverei geflüchtet waren, zu ihren Sklavenhaltern zurückgebracht werden müssen. 1857 entschied das Oberste Gericht, dass Schwarze keine Rechte haben, die von Weißen respektiert werden müssen und dass sie aufgrund ihrer Minderwertigkeit nicht als Bürger anerkannt werden können. Erst der Bürgerkrieg befreite die Schwarzen 1863 von der Sklaverei. Doch im Süden wurde die Rassentrennung Gesetz. Schwarze durften kein Eigentum besitzen und nicht wählen. Im Norden wurden sie gesellschaftlich diskriminiert und in Ghettos und schlecht bezahlter Arbeit marginalisiert. Über viele Jahre hatten die Schwarzen versucht, durch Gerichte und Petitionen Gerechtigkeit zu erlangen. Doch solange sie vor allem auf weiße Verbündete in hohen Ämtern hofften, ging es nur langsam voran. Mit der Weigerung von Rosa Parks änderte sich dies. »Als Rosa Parks sitzen blieb, standen die Schwarzen auf«, resümierte ein New Yorker Stadtrat.

Zwölf Monate wurden die Busse boykottiert

Die große Mehrheit der schwarzen Bevölkerung in Montgomery boykottierte zwölf Monate lang die Busse – und hatte Erfolg: Im November 1956 erklärte das Oberste Gericht die Rassentrennung im öffentlichen Transport für verfassungswidrig. Das bedeutendste an diesem Sieg war die große Einheit, die die Schwarzen im Kampf gegen die Rassentrennung gewonnen hatten. Dr. Martin Luther King wurde durch diesen Kampf zum eloquentesten und unangefochtenen Sprecher und Führer der Bürgerrechtsbewegung.

Massen setzten sich in Bewegung und leisteten zivilen Ungehorsam, um die Rassentrennung in allen öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Universitäten und Bibliotheken, Kaufhäusern und Restaurants aufzuheben. Polizei und faschistischer Pöbel gingen brutal gegen die gewaltlosen Demonstranten vor. Polizeihunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer gegen Männer, Frauen und Kinder eingesetzt. Tausende wurden verhaftet, einige entführt und ermordet.

Der US-Regierung wurden die Bilder der rassistischen Polizeibrutalität peinlich. Und die Welt wurde Zeuge der Entschlossenheit, Disziplin und Würde, mit der die Schwarzen gegen alle Hindernisse kämpften, um gleiche Rechte als Bürger der USA zu erlangen. Ihre Bewegung richtete sich gegen die legale Rassentrennung im Süden und sie klagte die Praxis der Rassendiskriminierung im Norden an.

Malcolm X, einem muslimischen Prediger und bekannten schwarzen Führer in den Ghettos des Nordens, ging die Forderung nach Bürgerrechten nicht weit genug. Für ihn war das größte Problem, dass die US-Regierung sich weigerte, Schwarze als Menschen zu sehen, und damit die Charta der Vereinten Nationen missachtete. Er wollte das Problem des amerikanischen Rassismus vor die UNO bringen und war sich sicher, dass er die Unterstützung von Entwicklungsländern und sozialistischen Staaten erhalten würde, die für eine menschenwürdige und friedliche Welt eintraten. Er begann, Führer von afrikanischen und arabischen Staaten zu überzeugen, das Problem auf die Tagesordnung der UNO-Vollversammlung zu setzen. Die New York Times berichtete im August 1964, dass dies große Unruhe im Außen- und Justizministerium der USA hervorrief: Falls Malcolm X auch nur einen UNO-Botschafter für sein Anliegen gewinnen konnte, würden sich die USA in einer ähnlichen Situation befinden wie Südafrika »oder andere Länder, deren Innenpolitik in der UNO zur Debatte steht«. Sechs Monate später, am 21. Februar 1965, wurde Malcolm X ermordet. Die Bewegung unter Martin Luther Kings Führung entwickelte ein politisches Bewusstsein, das schließlich über die Probleme der Rassendiskriminierung hinausging. In einer Rede 1966 sagte Dr. King: »Der Reichtum muss besser verteilt werden, und vielleicht brauchen wir in Amerika den demokratischen Sozialismus«.

Auch die Zusammenhänge zwischen Rassismus und Armut im eigenen Land und der Verschwendung der Ressourcen im Krieg gegen Vietnam wurden immer deutlicher. Genau ein Jahr bevor Dr. King ermordet wurde, verurteilte er in einer Rede am 4. April 1967 den Krieg und erklärte: »Vor einigen Jahren gab es einen glanzvollen Augenblick in unserem Kampf. Es sah so aus, als ob mit dem ›Programm gegen die Armut‹ Schwarzen und Weißen neue Hoffnung gegeben wurde. (…) Dann wurde der Krieg gegen Vietnam intensiviert, und ich sah, wie das Programm zur Bedeutungslosigkeit verkam, als ob es nur das politische Spielzeug einer durch den Krieg verrückt gewordenen Gesellschaft sei. Und da wusste ich, dass Amerika niemals die notwendigen Mittel und Kräfte aufbringen würde, um die Armut zu beseitigen, solange Abenteuer, wie das vietnamesische, Menschen, Begabungen und Geld verschlingen. So wurde ich immer mehr gezwungen, den Krieg als den Feind der Armen anzusehen und diesen Feind zu bekämpfen.«

Martin, Rosa – und Katrina

Fast vier Jahrzehnte später sind diese Worte immer noch aktuell. Der Hurrikan Katrina konfrontierte das selbstgefällige Amerika mit dem Zusammenhang von Rassismus, Armut und Krieg. Katrina hat die Widersprüche und die Heuchelei des reichen mächtigen Amerika deutlich gemacht, die viele nicht mehr wahrnehmen wollten. Vierzig Jahre nach der gesetzlichen Aufhebung der Rassentrennung werden Afroamerikaner durch Armut und Diskriminierung ausgeschlossen, so wie früher durch die Gesetze der Rassentrennung. Und die Welt konnte zusehen, mit welch rabiater Selbstverständlichkeit Hilfe verweigert und verzögert wurde, nur weil die Notleidenden schwarz und arm waren.

Katrina hat das Thema Rassismus wieder auf die innenpolitische Tagesordnung gesetzt. Und mit dem Tod von Rosa Parks am 24. Oktober 2005 wurde die Geschichte des Kampfes gegen den Rassismus plötzlich wieder lebendig. Beide Ereignisse haben eine heftige Debatte unter den Afroamerikanern ausgelöst, die sich die Frage stellen: Wie weit sind wir wirklich gekommen? Warum ignorieren die schwarze Mittelklasse und jene, die es bis in die höchsten Ämter des Landes geschafft haben, die Realitäten einer immer noch zutiefst rassistischen Gesellschaft? Obwohl die gesetzliche Rassentrennung abgeschafft wurde, ist die Ungleichheit geblieben, hat sich in den letzten Jahren sogar wieder vergrößert. Heute lebt ein Viertel der Afroamerikaner unter der Armutsgrenze. Die Armut unter schwarzen Amerikanern ist fast dreimal und die Arbeitslosigkeit mehr als doppelt so hoch wie unter Weißen. Immer weniger schaffen es, dem fatalen Kreislauf von Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlter Arbeit, ungenügender Gesundheitsfürsorge, vernachlässigten Wohngegenden und Schulen, Drogen und Gefängnis zu entkommen.

Rosa und Katrina haben nicht nur eine neue Diskussion über den Zustand des Landes ausgelöst, sie haben auch den Protest verstärkt. Der »Rosa Parks Jahrestag« wurde in diesem Jahr zum »nationalen Streiktag gegen Armut, Rassismus und Krieg« erklärt.

Über 1000 Organisationen, Gruppen und Personen aus der Bürgerrechts-, Menschenrechts-, Gewerkschafts- und sozialen Bewegung sowie aus der Bewegung gegen den Irakkrieg, Politiker, Künstler und Repräsentanten verschiedener Religionen ebenso wie zahlreiche Stadträte haben dazu aufgerufen, am morgigen 1. Dezember nicht in die Schulen, nicht zur Arbeit und nicht zum Einkaufen zu gehen, sondern überall Kundgebungen zu organisieren und am zentralen Protestmarsch durch die Wall Street in New York teilzunehmen. Sie fordern auf, alle Kräfte im Kampf gegen Armut, Rassismus und Krieg zu bündeln. »Der Krieg gegen und die Besetzung des Irak und die Empörung über die Folgen von Katrina haben der Welt deutlich gemacht, dass ein fundamentaler Wandel dringend notwendig wird, und eine Bewegung, die groß und entschlossen genug ist, diesen Wandel herbeizuführen«, heißt es im gemeinsamen Aufruf.

* Der 1946 in Washington D.C. geborene Autor (ND-Foto: B. Lange) engagierte sich in der US-Bürgerrechtsbewegung und bei der Black Panther Party. 1972 musste er wegen rassistischer Verfolgung aus den USA fliehen. Zusammen mit seiner Ehefrau Doris schrieb er 1982 das Pahl-Rugenstein-Buch »Ghettos und Gefängnisse – Rassismus und Menschenrechte in den USA«.

Aus: Neues Deutschland, 30.11.2005



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