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Schönredner made in USA

Zwanghafter Optimismus: Zu Beginn des neuen Jahres prophezeien Experten in den Vereinigten Staaten ein "neues amerikanisches Jahrzehnt". Die Realität sieht anders aus

Von Rainer Rupp *

Es ist Tradition jenseits des Atlantiks, Vorhersagen über die wirtschaftliche Entwicklung zum Jahresbeginn rosarot zu verpacken. Das hat mit der vermeintlichen »Theorie der positiven Erwartungen« zu tun, die vor sich selbst erfüllenden Prophezeiungen warnt und besagt: Wenn die Masse der Bevölkerung die Perspektive als zu negativ empfindet, wird mehr gespart, weniger konsumiert und investiert. Ergebnis wäre, daß die ohnehin bereits gebremsten wirtschaftlichen Aktivitäten weiter zurückgingen. Auf Optimismus zu Jahresbeginn versteht man sich in den Vereinigten Staaten von Amerika deshalb besonders gut.

Wer die einschlägigen Prognosen für 2012 gläubig akzeptiert, braucht sich über die Zukunft kaum noch Sorgen zu machen. Getrübt wird das Ganze, so die Auguren, lediglich vom alten, nicht mehr lebensfähigen Europa. Das leide an seinen nicht mehr zu lösenden Schuldenproblemen und bedrohe den unmittelbar bevorstehenden, wundersamen wirtschaftlichen Aufschwung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

»Experten« des US-Nachrichtensenders CNBC verkündeten am 29. De­zember 2011 die einsetzende »Morgendämmerung für ein neues amerikanisches Jahrzehnt«. Die USA würden zur Lokomotive, die die Welt aus dem wirtschaftlichen Morast zieht und die Aktienkurse an der Wall Street setzten bald zu neuen Rekordhöhenflügen an. Begründet wird das mit einer abnehmenden Importabhängigkeit bei der Energieversorgung des Landes und der Wiedergeburt der verarbeitenden Industrie. Dadurch würde eine autarke US-Wirtschaft erneut an die Weltspitze katapultiert, behauptete z. B. der CNBC-Chefanalytiker Ron Insana. Aber das war nur eine Stimme im Chor euphorischer CNBC-Kommentatoren, die den USA eine glänzende Zukunft voraussagten, während Europa unrettbar dem Untergang entgegensteuerte.

Bei nüchterner Betrachtung erweisen sich die »Visionen« als Trugbilder. Zwar ließen sich in den zurückliegenden vierteljährlichen und monatlichen wirtschaftlichen US-Statistiken positive Ansätze entdecken. Deren Nachhaltigkeit ist indes fraglich. Beispielsweise die der auf dem Nachfrageschub vor Weihnachten basierenden allgemeinen Prognosen. Außerdem werden die Zahlen gern willkürlich interpretiert, wie der gefeierte Rückgang der Arbeitslosenquote. Die sank nach offiziellen Angaben während der letzten vier Monate von 9,8 Prozent auf 8,5 Prozent und fiel somit auf den niedrigsten Stand seit Mai 2009.

Den Angaben der Statistiker liegen statistische »Reformen« zugrunde, bei denen, ähnlich wie in Deutschland, Menschen, die für eine bestimmte Zeit keine Arbeit gefunden haben, per Definition nicht mehr als arbeitslos gelten. Die fallen aus der entsprechenden Statistik heraus, und schon ist die Welt des schönen Scheins gerettet. Die Realität auf dem US-Arbeitsmarkt sieht dagegen anders aus. Von Beginn der Rezession im Dezember 2007 bis Ende Juni 2009 gingen fast acht Millionen Arbeitsplätze verloren. Im Jahr 2010 wurden laut US-Arbeitsamt netto nur 940000 Jobs zurückgewonnen, wobei für diese durchschnittlich niedrigere Löhne und Gehälter gezahlt wurden, was sich in einem Kaufkraftverlust auswirkte und den Rückgang der privaten Nachfrage verstärkte. Füe 2011 hat ersten Schätzungen zufolge die US-Wirtschaft 1,6 Millionen neue Jobs geschaffen. Die Entwicklung dürfte dennoch nicht besser gewesen sein. Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote in den USA je nach Berechnung zwischen 16 und 22 Prozent.

Es gibt in Wahrheit wenig Hoffnung, daß sich die wirtschaftliche Großwetterlage verbessert. So sind keine Anzeichen für eine nachhaltige Erholung des wichtigen Immobiliensektors zu sehen. Der befindet sich weiter in desolatem Zustand. Zweitens gehen die Menschen der geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten Jahren in Rente. Das bedeutet, daß weniger Geld für den Konsum ausgegeben wird. Der Hoffnungsträger für die US-Erholung, die Exportindustrie, sieht sich zudem durch die auch von heimischen Finanzmedien und -experten herbeigeredete starke Abschwächung des Euro-Kurses zum Dollar in den Chancen auf dem Weltmarkt beeinträchtigt.

Eine Abschwächung der Konjunktur in China und anderen Schwellenländern sowie eine erneute Rezession in Europa würden sich zusätzlich negativ auf die Auslandsnachfrage für US-Produkte auswirken. Unter dem Druck eines Haushaltsdefizits von weit über einer Billion (1000 Milliarden) Dollar auch im Jahr 2012, wächst der Druck auf die US-Bundesregierung, ihre Ausgaben zu kürzen, was ebenfalls die Nachfrage senken wird. Zugleich sind Banken und Industrieunternehmen ebenso wie die Privatbürger dabei, ihre teils unglaublich hohe Verschuldung in einem – noch Jahre dauernden Prozeß – auf ein tragbares Niveau abzubauen. Das heißt, sie zahlen Kredite zurück und haben daher weniger Geld für Investitionen und Konsum. Und auch die US-Bürger haben wieder die Tugend des Sparens entdeckt. Nachdem die entsprechende Rate lange Zeit negativ war, liegt sie derzeit bei 3,5 Prozent (zum Vergleich: Japan – 30 Prozent).

Bill Gross, Chef des mit 600 Milliarden Dollar weltgrößten Investmentfonds PIMCO’s, sieht daher nicht die Morgendämmerung eines rosigen neuen amerikanischen Jahrzehnts am Horizont, sondern eine neue Ära des »eingeschränkten Kapitalismus«, mit nur noch bescheidener Eigenkapitalrendite, niedrigem Wachstum und wenig neuen Arbeitsplätzen.

* Aus: junge Welt, 7. Januar 2012


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