Auch Amerika hat einen Tahrir-Platz
Der Bürgeraufstand von Wisconsin hatte die ägyptische Revolution zum Vorbild – die USA sind reif für Umbrüche
Von John Nichols *
Am gleichen Tag, als Ägyptens
diktatorischer Staatschef Husni
Mubarak sein Amt nach 30 Jahren
Regierungszeit aufgeben
musste, holte im Bundesstaat Wisconsin
Gouverneur Scott Walker
zum Streich gegen das geltende
Arbeitsrecht und die lokalen Demokratiebestimmungen
aus. Der Gewerkschaft des Öffentlichen
Dienstes wollte er das Recht auf
Tarifverhandlungen entziehen.
Wie die Ägypter in Kairo antworteten
die Menschen in Wisconsin
auf die unverhohlene Unterdrückung
und den Angriff auf
ihre Grundrechte, indem sie den
Protest nach draußen trugen. Das
Land am Nil hatte der Welt das
jüngste Beispiel erfolgreicher Protestpolitik
geliefert – Wisconsin
schloss sich dem nun an. Die Aktivisten
begannen genau dort auszuharren,
wo sie nicht erwünscht
waren, vor dem Regierungssitz.
Unermüdlich riefen sie
die Menschen zur Teilnahme auf.
Es folgte die größte Massenmobilisierung
von Gewerkschaftsanhängern
in der modernen Geschichte
der Vereinigten Staaten.
Tausende Bewohner belagerten
drei Wochen lang die politische
Machtzentrale des Bundesstaates,
und Hunderttausende demonstrierten
auf den Straßen der
Hauptstadt Madison. Wisconsins
Massenkundgebungen bewegten
das gesamte Land, sie inspirierten
die ganze Welt.
Der Funke sprang auch auf
Amerikaner jenseits des Bundesstaates
über. Im Februar 2011
war schließlich auch Tom Morello,
Gitarrist der für ihr politisches
Engagement weltweit bekannten
Rockgruppe »Rage
Against The Machine«, nach Madison
gekommen. Im Gepäck hatte
er eine Nachricht aus Ägypten,
von einem Demonstranten von
Kairos Tahrir-Platz.
Demonstranten aus Ägypten senden Grüße
Darin wandte sich der Ägypter
Maor Eletrebi per Grußbotschaft
an die Demonstranten in Wisconsin:
»Ich wünschte, ihr könntet
mit eigenen Augen die Veränderungen
sehen, die wir hier
erreicht haben. Gerechtigkeit ist
wunderschön, aber sie hat ihren
Preis. Die Schönheit wie die vom
Tahrir-Platz, ihr könnt sie in jede
Ecke der Welt tragen, in jede
Stadt, mitten in eure Herzen. Haltet
sie fest, lasst sie nicht los … Atme
tief ein, Wisconsin, denn es
liegt Gerechtigkeit in der Luft. Möge
der Geist vom Tahrir-Platz auch
in den Herzen von Madison sein.«
Musiker Morello endete, indem er
Tausenden Gewerkschaftern und
Studenten vor dem Kapitol zurief:
»Madison ist das nächste Kairo
«. In gewisser Weise lag er damit
ziemlich richtig.
Auch die Aktivisten aus Wisconsin
nutzten die technischen
Möglichkeiten sozialer Medien und
Netzwerke, um ihre teils radikalen
Protestbotschaften öffentlichkeitswirksam
zu verbreiten.
Botschaften, die aufgrund ihrer
Betonung von Arbeitskampf und
Gerechtigkeit mehr mit Amerikas
antifaschistischer Bewegung
der 30er Jahre gemein haben, als
mit den weich gespülten Kampagnen
des heutigen Medienzeitalters.
Als durch die Fernsehnachrichten
bekannt wurde, dass es in
Madison ein kleines Restaurant
namens »Ian’s Pizza« nahe dem
Kapitol gebe, das sich solidarisch
mit den Demonstranten zeige,
indem es sie mit Snacks und
Stärkungen versorge, meldeten die
Pizzabäcker plötzlich Anrufe aus
dem gesamten Land. Aus sämtlichen
50 Bundesstaaten der USA
und aus über 60 Ländern weltweit
bestellten Menschen Pizzalieferungen
für die Gewerkschafter
und Studenten auf den
Straßen. Sogar aus der Antarktis
seien Anrufe gekommen. Und
schließlich meldeten die Inhaber
der Pizzeria, es habe sich ein Gewerkschaftsführer
vom ägyptischen
Suez Kanal gemeldet – auch
er wollte im Namen seiner Kollegen
eine Solidaritätspizza für
Wisconsin bestellen.
Doch auch eine Bewegung, die
so romantisch begann wie die Protestbewegung
in Wisconsin, muss
einmal ihr Lehrgeld zahlen. Gerade
als sich in Ägypten abzuzeichnen
begann, dass die Umwälzungen,
für die in Kairo Zehntausende
zunächst so erfolgreich
protestiert hatten, weit hinter den
Erwartungen vieler Menschen zurückbleiben
würden, sah sich auch
der Aufstand in Wisconsin an eine
Grenze gekommen.
Die Verlagerung des Protestes
von der Straße in die politische
Arena gestaltete sich schwierig.
Dabei gab es auch auf diesem Feld
bemerkenswerte Erfolge. Durch
den gezielten Einsatz direkter Demokratie.
So gelang es beispielsweise,
unter Berufung auf
eine über hundertjährige Klausel
in der Verfassung des Staates Wisconsin,
eine Reihe von Abgeordneten,
die sich für die Aufhebung
des Rechts auf Tarifverhandlungen
ausgesprochen hatten,
durch örtliche Neuwahlen per
Stimmzettel aus dem Amt zu befördern.
Die Strategie bestand darin, die
Zahl republikanischer Abgeordneter
um Gouverneur Walker so
sehr zu reduzieren, dass dessen
Parteianhänger schließlich keine
tragfähige Mehrheit mehr aufbieten
konnten. Die Neuwahlen
brachten vielerorts gewerkschaftsfreundliche
Demokraten ins
Amt – ein klarer Sieg für die Anhänger
des öffentlichen Dienstes.
Wisconsins romantische Revolutionäre,
die sich im Vergleich mit
dem Durchschnittsliberalen des
politischen Mainstreams als weitaus
handfester erwiesen hatten,
jagten den Politikern und ihren
milliardenschweren Finanziers
eine Heidenangst ein. Der undurchdringliche
Schutzschild, den
ihre randvollen Wahlkampfkassen
bisher gebildet hatten, war
nun plötzlich durchbrochen.
Auch Gouverneur Walker blieb
nicht verschont. Auf Druck der
stimmberechtigten Bürger Wisconsins
musste er sich einer außerplanmäßigen
Neuwahl stellen. Allein die Möglichkeit, dass ein
amerikanischer Spitzenpolitiker
auf diese Weise frühzeitig aus dem
Amt gewählt werden könnte,
schreckte landesweit die Wirtschaftseliten
auf.
Doch für die Nachwahl konnte
Walkers Lager in kürzester Zeit
das Achtfache an Wahlkampfgeld
mobilisieren, wie der demokratische
Herausforderer. Walker siegte im Verhältnis von
53 zu 47. So behielt die Macht des
Geldes am Ende die Oberhand und
der Gouverneur schaffte es auf die
Titelseiten amerikanischer und
weltweiter Medien.
Es ist die Zeit für Massenbewegungen
Doch die Bewegung, die in Wisconsin
ihren Anfang nahm, war
damit längst nicht aus der Öffentlichkeit
verschwunden. Im Gegenteil,
sie breitete sich auf andere
Bundesstaaten und die landesweite
Occupy-Bewegung aus.
Ein besonderes Charakteristikum
von politischen Bewegungen,
insbesondere solchen, die sich
für radikale Veränderungen einsetzten,
ist es, dass ihre Möglichkeiten
zur politischen Einflussnahme
und Mitbestimmung
oftmals auf das Erreichen eines
konkreten Wahlergebnisses ausgerichtet
sind und häufig darauf
reduziert werden. Praktisch macht
das keinen Sinn. Im Laufe der Geschichte
wurde das Schicksal einer
Nation nur selten durch den
Ausgang einer einzigen Wahl bestimmt,
und wenn, dann nur selten
zum Guten. Das sehen auch
ernst zu nehmende Progressive so.
Leider sind diese – und noch viel
weniger ernst zu nehmende Radikale
– eher selten aufseiten der
Medien zu finden, wo sie politische
Ereignisse aus einem anderen
Blickwinkel beleuchten
könnten.
Nach Abschluss der ersten
Wahlrunden in Wisconsin lässt
sich dennoch ein erstes Résumé
ziehen. Wenn wir die Lehren historischer
Anführer radikaler Bewegungen
einbeziehen, ergeben
sich dadurch Perspektiven für die
Gegenwart – nicht nur im engeren
Rahmen von Politik und
Wahlkampf, sondern auch im Sinne
politischer Bewegungen an sich.
Wir wissen, dass in den Vereinigten
Staaten die Zeit reif ist
für politische Massenbewegungen.
Der zündende Moment ist bereits
erfolgt. Seit Jahrzehnten hat
es in der nordamerikanischen
Linken keine Zeit wie diese mehr
gegeben, in der die Politik der
Straße und die Möglichkeiten direkter
Demokratie längst über die
Grenzen politischer Galionsfiguren
oder Institutionen hinwegreichen.
Doch der Übergang dieser
Massenbewegung von ihrem Ursprung
als reine Demonstrations-
und Protestbewegung in eine
politisch ambitionierte Bewegung
mit eigener Wählerschaft,
wird ein schwieriger sein. Dafür
bedarf es grundlegender struktureller
Reformen. Im Falle Wisconsins
möglicherweise auch Zusätze
in der Verfassung des Bundesstaates.
Wie das Beispiel der
Bürgerrechtsbewegung in den 50-
er und 60er Jahren gezeigt hat, erfordern
solche Umwälzungen viele
schwierige Jahre radikaler Bürgerbeteiligung.
Das weiß nicht zuletzt Barack
Obama, der selbst vom Fortschritt
dieser Bürgerrechtsbewegung
profitieren konnte. Allein
deswegen wird der Präsident jedoch
kein scheuloser Reformführer
werden, wie einst Abraham
Lincoln oder Teddy Roosevelt.
Obama mag ein kühner Redner
sein, doch bleibt er ein vorsichtiger
Steuermann. Im Wahlkampf
um eine zweite Amtszeit
wird der Präsident sich kaum als
Radikaler präsentieren. Eher wird
er das Bild des umsichtigen Lenkers
auf Sparkurs verbreiten. Keinesfalls
aber ist Obama einer, der
Probleme durch grundlegende Reformen
zu lösen vermag. Selbst
wenn Obama die Wahlen gewinnen
sollte, ändert sich daran
nichts.
Die Zukunft wird nicht im Kapitol entschieden
Es mag gute Argumente dafür geben,
dass es besser wäre für Amerika
und die Welt, wenn auch
künftig ein Barack Obama anstatt
des Republikaners Mitt Romney
im Weißen Haus säße. Doch
die Zukunft der Vereinigten Staaten
wird sich nicht allein im Weißen
Haus oder in Washingtons
Kapitol entscheiden. So wenig, wie
sich die Zukunft Ägyptens im Ausgang
der letzten Wahlen Hosni
Mubaraks entschied.
Die tatsächliche Zukunft der
Vereinigten Staaten, deren Verfassung
ausdrücklich das Versammlungsrecht
und den Bürgerentscheid
proklamiert, wird
sich im Zuge einer weitaus bedeutenderen
Auseinandersetzung
herauskristallisieren, die auf den
Straßen und Vorplätzen der Politik-
und Wirtschaftszentren
Amerikas ausgetragen wird.
Gewaltfrei wird diese Auseinandersetzung
sein, auf deren einer
Seite die Verfechter einer präsenten,
wählbaren Protestpolitik
stehen werden, ganz gleich ob aus
Wisconsin oder von der Wall Street
kommend. Auf der anderen Seite
müssen sich die Befürworter der
alten und zunehmend korrupten
Strukturen behaupten. Wie mit so
vielen Kämpfen auf amerikanischem
Boden wird der Verlauf
dieser Auseinandersetzung nicht
nur Hinweise auf Amerikas Entwicklung
geben, auch die Zukunft
der ganzen Welt könnte
hierbei beeinflusst werden.
* Der amerikanische Journalist John Nichols schreibt für das US-Magazin »The Nation«. Er ist Autor oder
Mitautor von zehn Büchern zum
Thema Medien und Politik, darunter:
»Das S-Wort: Eine kurze
Geschichte einer amerikanischen
Tradition – Sozialismus«.
Dieser Beitrag basiert auf einer
Studie des Autors über Wisconsin,
Occupy und die Schlussfolgerungen
für die amerikanische
Linke. Sie wird im August auf der
Website des neuen New Yorker
Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung
veröffentlicht: www.rosalux-nyc.org.
Aus: neues deutschland, Samstag, 28. Juli 2012
Zurück zur USA-Seite
Zur Seite "Soziale Bewegungen, Friedensbewegung"
Zurück zur Homepage