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Überwachung verletzt USA-Verfassung

Washingtoner Bundesrichter kritisiert willkürliche Datensammlung der NSA scharf

Von Olaf Standke *

Erstmals seit Beginn der NSA-Spionageaffäre hat ein Gericht in den USA die Verfassungsmäßigkeit der Überwachungsprogramme offen in Frage gestellt.

»Ich kann mir kein willkürlicheres und rücksichtloseres Eindringen vorstellen als dieses systematische High-Tech-Sammeln und Speichern von persönlichen Daten fast jedes einzelnen Bürgers« – das schrieb Richter Richard Leon in einer Urteilsbegründung, die politische Sprengkraft hat. Waren es in den USA bisher vor allem Bürgerrechtsbewegungen, die gegen die flächendeckenden Überwachungsprogramme der Geheimdienste protestierten, hat nun erstmals ein Bundesgericht deren Verfassungsmäßigkeit in Zweifel gezogen. In einem 70-seitigen Papier stufte es am Montag (Ortszeit) das systematische Abgreifen von Telefondaten durch die NSA als gravierende Verletzung der Privatsphäre von USA-Bürgern ein. Das beliebige Abschöpfen von Telefondaten verletze im Kern den vierten Zusatzartikel zur Verfassung, der sie vor unverhältnismäßigen staatlichen Durchsuchungen schützt. Zudem führe die Regierung nicht einen Fall an, in dem massenhafte Datenspeicherung einen bevorstehenden Terroranschlag gestoppt hat.

Die Klage von Privatleuten, darunter der konservative Gründer des juristischen Netzwerkes »Freedom Watch«, Larry Klayman, bezieht sich auf eine der ersten Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden. Anfang Juni hatte der Londoner »Guardian« einen Beschluss des für die Geheimdienstkontrolle zuständigen Foreign Intelligence Surveillance Court öffentlich gemacht. Er verpflichtete die Mobilfunkfirma Verizon, für einen dreimonatigen Zeitraum Informationen zu allen Anrufen ihrer über 120 Millionen Kunden – sowohl in den USA als auch grenzüberschreitend – an die Sicherheitsbehörden weiterzugeben.

Snowden begrüßte jetzt die Entscheidung des Bundesgerichts in Washington. »Ich habe aus dem Glauben heraus gehandelt, dass die Massenüberwachung der NSA einer Verfassungsprüfung nicht standhalten würde«, zitierte ihn die »New York Times«. Nachdem Rick Ledgett, Leiter der zuständigen NSA-Ermittlergruppe, öffentlich eine Amnestieregelung ins Gespräch brachte, bleibt die Obama-Regierung aber hart und forderte jetzt erneut seine Auslieferung. Der nach Russland geflohene Snowden wird der Spionage beschuldigt und mit internationalem Haftbefehl gesucht. Wie am Dienstag bekannt wurde, hat der Whistleblower Brasilien Hilfe bei der Aufklärung der NSA-Abhöraktivitäten angeboten, sollte ihm das Land Asyl gewähren.

Welche Folgen die Ohrfeige des Bundesrichters für die Regierung haben wird, ist noch nicht absehbar. Denn Leon sieht bei der Klage zwar »eine erhebliche Wahrscheinlichkeit auf Erfolg«, kennt aber auch die Grenzen der Gewaltenteilung in den USA und verzichtete auf eine einstweilige Verfügung gegen die Überwachungspraxis – gehe es doch um »erhebliche nationale Sicherheitsinteressen«. Deshalb erhalte das Weiße Haus eine Einspruchsmöglichkeit. Regierungsjuristen prüften jetzt den vorläufigen Entscheid des Gerichts.

Barack Obama hat immer betont, die NSA agiere verfassungskonform, ordnete aber zumindest eine Überprüfung der Geheimdienstpraxis an. Ein Gremium aus fünf externen Experten legte dieser Tage einen entsprechenden Report mit über 40 Reformempfehlungen vor, die allerdings nicht bindend sind. Der Präsident, der für Januar eine Grundsatzrede zum Thema angekündigt hat, sprach bislang lediglich von »Selbstbeschränkungen« für die NSA. Und was die Ausspähung von Ausländern anbetrifft, da seien die Geheimdienste ohnehin nicht an US-amerikanische Gesetze gebunden und »aggressiver«.

Wie die »New York Times« berichtet, sei auch die Vereinbarung über ein deutsch-amerikanisches Geheimdienstabkommen als Konsequenz aus der NSA-Spionageaffäre am Widerstand Washingtons gescheitert. Die Bundesregierung dementierte am Dienstag: Man erwarte immer noch eine Reaktion auf die eigenen Vorschläge.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Dezember 2013


»Orwellianische« Überwachung

US-Gericht: NSA-Datensammelei verfassungswidrig. Snowden will dauerhaftes Asyl in Brasilien **

Erstmals hat ein US-Bundesgericht massiven Einspruch gegen das Sammeln von Daten durch den US-Geheimdienst NSA erhoben. Das millionenfache Abspeichern von Telefondaten in den USA sei im Kern verfassungswidrig, urteilte das Gericht in Washington in einer vorläufigen Entscheidung am Montag. Eine Klage gegen die Praxis habe »eine erhebliche Wahrscheinlichkeit auf Erfolg«, meinte der Richter Richard Leon in der Entscheidung. Das Gericht kritisierte, die Überwachungspraxis der National Security Agency (NSA) verstoße gegen den verfassungsmäßig verankerten Schutz vor unbegründeten Durchsuchungen und habe fast »orwellianische Ausmaße« – wie im Roman »1984« von George Orwell. Ein Sprecher des US-Justizministeriums sagte dagegen: »Wir glauben, daß das Programm verfassungsgemäß ist, wie dies in der Vergangenheit Richter befunden haben.« Regierungsjuristen prüften die Entscheidung des Gerichts, sagte der Sprecher laut New York Times.

Die Bundesregierung erwartet keinen raschen Abschluß eines Geheimdienstabkommens mit den USA als Konsequenz aus der NSA-Spionageaffäre. »Die Verhandlungen gehen weiter«, hieß es am Dienstag in Regierungskreisen in Berlin. Die New York Times hatte unter Berufung auf einen ungenannten deutschen Regierungsbeamten gemeldet, das Abkommen sei praktisch gescheitert. Die USA weigerten sich, auf elektronische Überwachung zu verzichten.

Der frühere US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden will Brasilien bei der Aufklärung der US-Abhöraktivitäten helfen, wenn er dauerhaftes Asyl in dem Land erhält. Solange ihm ein Land kein permanentes politisches Asyl gewähre, werde die US-Regierung ihn weiter daran hindern zu sprechen, schrieb Snowden in einem »Offenen Brief an das brasilianische Volk«, der am Dienstag unter anderem in der Zeitung Folha de São Paulo veröffentlicht wurde. Die brasilianische Regierung hatte allerdings bereits im vergangenen Sommer abgelehnt, Snowden dauerhaft Asyl zu gewähren.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. Dezember 2013


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