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"Whistleblower" gesucht

Größter Geheimnisverrat in der US-Militärgeschichte: Bradley Manning soll Zuarbeit für Wikileaks nachgewiesen werden. Anhörung bis Weihnachten

Von Jürgen Heiser *

Achtzehn Monate nach seiner Verhaftung in Bagdad ist Bradley Manning, Obergefreiter der US-Armee, am vergangenen Freitag (16. Dez.) zum ersten Mal den Anklägern des Pentagon gegenübergetreten. Verhandelt werden in diesem vorgerichtlichen Verfahren die 23 Punkte umfassende Anschuldigung, der ehemalige Nachrichtenanalyst habe als »Whistleblower« den größten Geheimnisverrat in der militärischen Geschichte der USA begangen, indem er Videomaterial und rund 250000 Dokumente der US-Armee und des US-Außenministeriums an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergab.

Am ersten Tag der Anhörung auf dem Militärstützpunkt Fort Meade im US-Bundesstaat Maryland sah sich der vorsitzende Militärrichter, Oberstleutnant Paul Almanza, zunächst mit einem ausführlichen Befangenheitsantrag der Verteidigung konfrontiert. Anwalt David Coombs, Mannings ziviler Hauptverteidiger, dem noch zwei militärische Pflichtverteidiger beigeordnet sind, warf Almanza vor, als »investigating officer«, dem militärischen Äquivalent zu einem zivilen Richter, handverlesen und voreingenommen sein. Coombs forderte, Almanza solle sich für befangen erklären, da er für seinen Dienstherrn, das US-Justizministerium, auch als Staatsanwalt arbeite. Das Justizministerium betreibe derzeit mittels einer nicht öffentlich tagenden Grand Jury strafrechtliche Ermittlungen gegen den Gründer von Wikileaks, Julian Assange, und seine Organisation.

Des weiteren nannte Coombs als Fakt für Almanzas Befangenheit, daß er den Anklägern zehn ihrer beantragten Zeugen genehmigt habe, der Verteidigung von 48 aber nur zwei außer den zehn, die sich mit jenen der Anklage deckten. »Und das in einem Verfahren, in dem der Staat meinen Mandanten wegen ›Unterstützung des Feindes‹ anklagt, worauf ihm als Höchststrafe die Todesstrafe droht!« rief der Anwalt aus. Die Ablehnung von Zeugen wie US-Präsident Barack Obama, Außenministerin Hillary Clinton und Exverteidigungsminister Robert Gates zeige, daß die Verantwortlichen offenbar in keiner Weise daran interessiert seien, »eine sorgfältige und unparteiische Untersuchung zu ermöglichen«, so Coombs.

Der Anwalt stellte zudem Almanzas fachliche Kompetenz als Richter in Frage. Er habe bislang nur sechs Militärgerichtsverfahren geleitet, in denen alle Angeklagten sich für schuldig erklärt hatten, also keine Beweisaufnahme stattfand. Im Gegensatz dazu habe er in 20 Fällen als Staatsanwalt die Anklage vertreten.

Nach längerer Beratungspause erklärte sich Almanza für nicht befangen und kündigte an, den Vorgang an die übergeordnete Instanz zur Bestätigung weiterzuleiten. Nach den Regeln militärischer Strafverfahren sei Befangenheit nur gegeben, wenn eine »vernünftige Person« in Kenntnis aller Fakten zu dem Schluß käme, daß er nicht fähig sei, die Vorwürfe gegen Manning unparteiisch zu prüfen, so Almanza. Das sei hier nicht der Fall. Die Ermittlungen gegen Wikileaks im Justizministerium räumte er ein. Er habe aber im Ministerium mit niemandem darüber gesprochen.

Schließlich griff Coombs noch einen anderen wesentlichen Zusammenhang der Anklage gegen seinen Mandanten auf. Er vermute, daß die US-Regierung seinen Mandanten weichkochen wolle, um ihn zum Kronzeugen einer künftigen Anklage gegen Julian Assange zu machen. »Würde das Justizministerium damit Erfolg haben, ein Geständnis in diesem Verfahren zu bekommen«, so der Verteidiger, »dann könnte mein Mandant als Zeuge gegen Assange und Wikileaks aufgefahren werden«.

In der Bilanz des Tages hatte das Gericht wegen der zahlreichen Anträge der Verteidigung zu den grundlegenden Verfahrensfragen mehr Zeit im Beratungszimmer als im Gerichtssaal verbracht. Nach Berichten von Prozeßbeobachtern brachten den vorsitzenden Richter die scharfen Attacken der Verteidigung mehrfach aus dem Konzept. Oberstleutnant Almanza vertagte die Sitzung auf den nächsten Tag, den 17. Dezember, Bradley Mannings 24. Geburtstag.

An diesem Samstag wurden die ersten Zeugen der Anklage aufgerufen. Die beiden ersten erschienen jedoch nicht im Gerichtssaal, meldeten sich vielmehr telefonisch von ihren momentanen Einsatzorten und waren über Lautsprecher zu hören. Spezial­agentin Toni Graham rief aus Hawaii an. Nach Überwindung einiger technischer Verständigungsprobleme mit dieser Spezialistin der Militärpolizei für »strafrechtliche Ermittlungen«, die den Vorsitzenden ratlos machten und von seiner wenig professionellen Verhandlungsführung zeugten, konnte die Zeugin über ihre Arbeit berichten. Sie hatte im Mai 2010 in Bagdad den Auftrag, eine Sondereinheit zu bilden, um den Mißbrauch von Computernetzwerken der US-Armee zu ermitteln. Auch Spezialagent Calder Robinson war nur telefonisch bei seiner Dienststelle in Deutschland zu vernehmen, wo er als Spezialist der US-Armeeeinheit zur Untersuchung von Computerkriminalität (CCIU) stationiert ist.

Die noch mindestens bis Weihnachten angesetzte Anhörung soll klären, ob diese und weitere Zeugen jene erforderlichen Beweise liefern können, die die Eröffnung des Hauptverfahrens vor einem Militärgericht rechtfertigen. Ziel der Anklage ist vor allem, Bradley Manning die unmittelbare Zuarbeit für Wikileaks nachzuweisen. Doch bislang steht nach wie vor als einziges Beweisstück das Protokoll eines Internetchats im Raum. Angeblich soll sich Manning dabei dem bekannten Hacker Adrian Lamo anvertraut haben (siehe jW vom 18. März 2011) Der aber war ein Informant des FBI.

* Aus: junge Welt, 20. Dezember 2011


Hintergrund: Öffentlichkeit im Militärgericht **

Die Veranstalter der seit Freitag (16. Dez.) laufenden Anhörung vor dem Militärgericht in Fort Meade haben sich auf einen enormen Besucherandrang eingestellt. Ein Parkplatz groß wie ein Fußballfeld ist eingerichtet. Neben den für die Öffentlichkeit reservierten Sitzplätzen im Gerichtssaal steht ein Raum für 100 Personen bereit, in dem das Geschehen im Saal per Videowand verfolgt werden kann.

9.00 Uhr beginnt die Anhörung, Einlaß ist ab 7.00 Uhr. Denn es gibt akribische Sicherheitskontrollen, wie man sie von US-Flughäfen und aus politischen Prozessen in Sondergerichtsgebäuden in der BRD kennt. Wer diese geduldig durchlaufen hat, findet sich in einem Warteraum wieder, von dem aus man durch Militärpersonal in den Saal geleitet wird.

Der Herr des Verfahrens, Oberstleutnant Paul Almanza, verwendet zu Beginn geraume Zeit darauf, die Zuschauer auf »geziemendes Verhalten« einzustimmen. Mobiltelefone und Audiorekorder sind verboten. Auch die Vertreter der Presse müssen sich mit Stift und Papier begnügen. Störungen jeder Art seien strengstens verboten und würden mit sofortiger Entfernung aus dem Zuschauerraum geahndet.

Als sich Hauptverteidiger David Coombs während seiner Ausführungen den Zuschauern und nicht der Richterbank zuwendet, unterbricht ihn der Vorsitzende barsch und fragt: »Mr. Coombs, an wen wenden Sie sich?« Der Anwalt: »An die Öffentlichkeit; dieses Verfahren ist öffentlich!«

Auch vor den Toren des Militärgeländes ist sie versammelt, die Öffentlichkeit. Viele wurden vom »Bradley Manning Support Network« mobilisiert oder sind von der Occupy-Bewegung in Washington D.C. in Bussen angereist. »Freiheit für Bradley Manning« und »Ich bin Bradley Manning«, rufen sie. Und fordern von Barack Obama: »Mr. President, reißen Sie diese [Gefängnis-] Mauern ein!« Die Demonstranten finden die Art, wie »Whistleblower« Öffentlichkeit herstellen, wichtig als Korrektiv einer Staatsmacht, die Informationen über ihre imperialen Kriege geheimhalten will.

Die »freie Presse« der USA wird dem Bedürfnis nach »Öffentlichkeit« nicht gerecht: Nur neun Medienvertreter, davon zwei Gerichtszeichner, berichten über die Arbeit des Militärgerichts.
(jh)

** Aus: junge Welt, 20. Dezember 2011


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