Angst vor Amerika
"Der Mehltau des Totalitären liegt über den Vereinigten Staaten"
Von Ekkehart Krippendorff
Meinen Studenten habe ich immer wieder eingeschärft, in der
außenpolitischen Analyse nie von "den" Franzosen, Engländern oder
Deutschen zu sprechen, die dies und jenes wollten, täten oder gemacht
hätten: es handelt sich immer um Regierungen. Gerade für uns Deutsche
ist es ja nahezu lebenswichtig geworden, dass vor allem für die Zeit des
Dritten Reiches unterschieden werde zwischen "Machthabern" und Volk -
was die kollektiv-moralische Verantwortung für Verbrechen "im Namen des
deutschen Volkes" selbstverständlich nicht berührt. Diese wichtige
Unterscheidung gilt natürlich auch, wenn wir von amerikanischer Politik
sprechen - nicht "die Amerikaner" tun oder taten dies oder jenes in der
Welt, sondern deren jeweilige Regierung.
Diese analytisch und politisch wichtige Differenzierung, in der ja auch die
Demokratie-Chance einer kritischen Distanz zur eigenen Regierung steckt,
wird allerdings derzeit für die USA fragwürdig, wenn wir lesen, dass die
alarmierende Kriegsrede George Bushs Zur Lage der Nation nicht nur von
den Abgeordneten beider Häuser des Kongresses - dem höchsten
Verfassungsorgan - mit "stehenden Ovationen" gefeiert wurde, sondern
auch auf eine nahezu uneingeschränkte Zustimmung der amerikanischen
Bevölkerung stieß. Die Rede ist von mindestens 85 Prozent, wie ja
überhaupt dieser Präsident eine größere Billigung seiner innen- und
außenpolitischen Entscheidungen nach dem 11. September gefunden hat,
als jeder Amtsinhaber in vergleichbarer Lage vor ihm. (Wenn er - so
kürzlich Norman Mailer vorsichtig in einem in England publizierten Interview
- noch an Verschwörungstheorien glaubte, so müsste man zu der
Folgerung kommen, dass dieser 11. September von der amerikanischen
Rechten selbst gemacht worden sei.) Insofern wird man derzeit von "den
Amerikanern" sprechen dürfen und müssen, wenn von der Politik ihrer
Regierung die Rede ist. Und das macht Angst.
Angst macht das Fehlen einer Opposition ...
..., die das Lebenselement einer jeden Demokratie ist. Die einzige
Abgeordnete, die ihre Stimme gegen einen Militäreinsatz zur
Terrorismusbekämpfung gegeben hatte, Barbara Lee, musste ebenso um
Polizeischutz bitten wie eine zweite, Marty Meehan, die lediglich laut
Zweifel an der Gefahr geäußert hatte, die angeblich nach dem 11.
September für das Präsidentenflugzeug bestanden habe (später stellte
sich heraus, sie befand sich im Recht). Wer, wie Susan Sonntag, so
unvorsichtig war, das "Unisono" von regierungsoffiziellen und
Medien-Kommentaren zum 11. September als "einer reifen Demokratie
unwürdig" zu kritisieren, der sah sich wegen "moralischer Idiotie" und als
"Amerika-Hasser" zum Abschuss freigegeben. Sonntag habe sich, so hieß
es, "Abscheu, Verachtung und Zorn, die sie selbst über ihr eigenes Land
ausgeschüttet" habe, nun selbst zugezogen. Eine streitbare Demokratin
wie Barbra Streisand eliminierte Bush-kritisches Material auf ihrer Website
mit der Begründung, in Zeiten nationaler Krisen sei Einheit und nicht
Dissens gefordert.
Die um den 11. September herum vorgesehene Veröffentlichung einer
Untersuchung der zweifelhaften Hintergründe der Präsidentschaftswahl
Ende 2000 wurde ebenso zurückgezogen, wie die große Buchhandelskette
Barnes & Noble die Autorenlesungen eines Bush-kritischen Buches
absagte. Der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, warnte ganz
unmissverständlich, die Amerikaner "sollten genau darauf achten, was sie
sagen und was sie tun". Und der auch in Deutschland nicht unbekannte
Princeton-Historiker Arno Mayer konnte seine Einschätzung des 11.
September, in der er die US-Regierung als Hauptverantwortliche für
"präventiven Staatsterrorismus" und für eine lange Serie von
Mordanschlägen gegen unliebsame Staatsmänner bezeichnet, nicht in den
USA unterbringen und musste dafür zu Le Monde nach Frankreich
ausweichen. Mayer: "Ich bin schockiert von der enormen Angst, die einige
meiner Kollegen ergriffen hat" - die Angst von Intellektuellen, eine
abweichende, politisch nicht korrekte Meinung über die Lage zu haben.
Und sie haben alle Veranlassung dazu. Es ist die Angst vor einer
"öffentlichen Meinung" der amerikanischen Bürger, die anscheinend bereit
sind, ihre größte historische Errungenschaft - die Menschen- und
Bürgerrechte, wozu schließlich auch Presse- und Meinungsfreiheit gehören
- ohne Bedenken den "entschiedenen Sicherheitsmaßnahmen" zu opfern:
zwei Drittel gleich nach dem Anschlag, heute noch immer 47 Prozent;
zwischen 53 und 77 Prozent finden nichts dabei, um der Sicherheit willen
zu foltern, Terroristen außerhalb der normalen Rechtsprechung von
Militärgerichten abzuurteilen oder einfach umzubringen oder auch
Staatsoberhäupter zu ermorden, die Terroristen Unterschlupf gewähren.
Angst macht die Schlichtheit des Weltbildes ...
..., aus dem heraus die politische Klasse Amerikas sich und dem Volk die
aktuelle Bedrohung erklärt. Da wird die Außenwelt nunmehr eingeteilt in
die, denen unser American Way of Life ein nachahmenswertes Vorbild ist -
die Guten, und diejenigen, die ihn uns neiden, die Bösen.
Dieser Manichäismus hat keine Schwierigkeiten mit der Erklärung des 11.
September. Auf die Frage: "Warum hassen sie uns so" steht schon eine
andere Antwort als die: "weil wir so großartig sind", unter dem Verdacht
der Illoyalität und des mangelnden Patriotismus. Für die eigene, kritische
Meinungsbildung gibt es derzeit wenig Hilfestellung. "Man schalte eine der
großen politischen Talkshows an - Face the Nation, Meet the Press,
Sunday Morning - und sie alle haben dieselben Gäste, alle stellen
dieselben Fragen, alle kommen zu denselben Ergebnissen", so einer der
Herausgeber der renommierten Columbia Journalism Review. "Ein
allgemeines Klima hat sich über die Presse gelegt, das die Journalisten
ängstlich macht, sich allzu sehr vom Konsens zu entfernen, der sich
herausgebildet hat."
Eine auf patriotische Geschlossenheit eingeschworene Öffentlichkeit hört
nun Bushs Botschaft zur Lage der Nation, die jenes "Wir-die-Guten -
Ihr-die-Bösen-Weltbild" geradezu fundamentalistisch bedient. Keinem
iranischen Ayatollah hätten wir, der aufgeklärte Westen, das nachgesehen.
Die iranischen Straßenproteste vom Wochenanfang schienen dagegen fast
eine rational-politische Veranstaltung.
Bushs Rede begann mit den Worten: "Unser Land befindet sich im Krieg,
unsere Wirtschaft in der Rezession, die zivilisierte Welt sieht sich
beispiellosen Gefahren gegenüber." Eine Botschaft, die einem das
Fürchten lehren kann - denn dieser Krieg, den manche vielleicht mit dem
Abschluss der Afghanistan-Operation für beendet glaubten, "hat gerade
erst angefangen."
"Zehntausende ausgebildeter Terroristen" laufen noch immer frei herum und
haben Lager "in mindestens einem Dutzend Ländern", die gemeinsam mit
den prominentesten Schurkenstaaten - Nordkorea, Iran und Irak - "eine
Achse des Bösen" bilden (eine historische Erinnerung an die
faschistischen "Achsenmächte").
"Das Böse" selbst wurde von Bush in seiner Rede gleich dreimal
beschworen, und "die Zeit arbeitet nicht für uns" - "die Gefahr rückt näher
und näher." Die innere Sicherheit Amerikas "hängt ab von den wachsamen
Augen und Ohren seiner Bürger" - "die Terroristen sind unter uns". Aber
"gegen Angriffe schützt nur kräftiges Handeln draußen": Das "mächtige
amerikanische Militär" hat bewiesen, dass es unsere Feinde auch in den
fernsten Gegenden der Welt aufzuspüren und "vor die Gerichte dieses
Landes" (nicht etwa eine UN-Weltgerichtsbarkeit) bringen wird. "Die
Geschichte" hat Amerika zur Tat aufgerufen, "unsere Sache ist gerecht
und geht weiter", wir werden obsiegen - denn "Gott ist nahe".
Angst macht diese Rhetorik, weil sie nicht von irgend jemand, sondern
eben vom Präsidenten der USA kommt. Wodurch, so fragt man sich, sieht
diese Supermacht ihre Sicherheit bedroht, wenn sie doch bereits 50
Prozent aller Weltmilitärausgaben auf sich vereinigt, wenn sie mindestens
zehn Mal so viel für ihre Sicherheit ausgibt wie alle erkennbaren Feind- und
Gegnerstaaten zusammen? Dieses Militärbudget soll nun noch einmal um
20 Prozent aufgestockt werden.
Es bedarf wohl psychologischer Kategorien, um daraus realpolitischen
Sinn zu gewinnen. 30 Millionen Dollar pro Tag hat die Bush-Regierung für
ihren bisherigen Anti-Terror-Krieg ausgegeben - 300 Millionen, also ganze
zehn Tagessätze, sind für den großzügigen Wiederaufbau Afghanistans
vorgesehen.
Angst macht die atemberaubende Bündelung amerikanischen
Selbstverständnisses aber auch wegen all der Auslassungen in Bushs
Proklamation des Weltführungsanspruches: Kein Wort wenigstens der
Besorgnis über die wachsende Kluft zwischen arm und reich, kein Wort zu
den weltweit täglich 14.000 Hungertoten, kein Wort zum Klimaschutz, nur
ein halbes Wort über "saubere Umwelt", kein Wort zur katastrophalen
globalen Gesundheitssituation, zur Verknappung der
Trinkwasserressourcen - und nicht ein Wort über den Schutz der
Menschenrechte, über das Völkerrecht oder die UNO, auch kein Wort des
Dankes für die von den Alliierten unaufgefordert erbrachte
"uneingeschränkte Solidarität".
Angst macht aber auch der Kretinismus ...
... der politischen Klassen der sogenannten "Staatengemeinschaft". Auf
der jüngsten Sicherheitskonferenz in München wurde der Primitivismus
dieser regierungsoffiziellen theologischen Welt-Anschauung - außer von
Frankreichs Außenminister Védrine - nur hinter vorgehaltener Hand
kritisiert: ins Gesicht sagt das den US-Emissären niemand - man hat
Angst vor ihnen.
Wo bleibt die laute, moralbebende Stimme unseres
verantwortungsethischen Außenministers, der es einem CDU-Politiker wie
Jürgen Todenhöfer überlassen muss, an die 5.000 unschuldig und in einem
völkerrechtswidrigen Krieg getöteten Afghanen zu erinnern, "der teuerste,
blutigste und peinlichste Flop in der Geschichte der Terrorbekämpfung"?
Auch Todenhöfer hat Angst vor seinem Bündnispartner. Ja, selbst die
deutschen Pressekommentatoren und Analysten scheinen zwar irgendwie
zu sehen, dass es eigentlich ganz schlimm ist, was sich da an
amerikanischer Interessenpolitik unter dem Vorwand der
Terrorismusbekämpfung ungehindert über die Welt ausbreitet - aber beim
Namen nennen sie diese Gefahr auch nur in Sklavensprache. Bushs
beispiel- und offenbar bedenkenloser Bruch olympischer Tradition, die
Spiele mit dem militanten Selbstlob des Gastlandes - "im Namen einer
stolzen, entschlossenen und dankbaren Nation" - zu eröffnen, war den
meisten sogar ein unterwürfig-wohlwollendes Verständnis wert.
* Der Autor war bis zu seiner Emeritierung Professor für amerikanische Politik
am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin
Aus: Freitag 08, 15. Februar 2002
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