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Obama: "Die Zeit der Spielchen ist vorbei"

US-Präsident verteidigt Gesundheitsreform

US-Präsident Barack Obama geht im Kampf für sein wichtigstes innenpolitisches Projekt in die Offensive: Leidenschaftlich forderte er den US-Kongress zu einer Verabschiedung der Gesundheitsreform auf.

»Ich bin nicht der erste Präsident, der sich dieses Themas annimmt, aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein«, sagte Obama vor beiden Häusern des Parlaments in Washington. Die »Zeit zum Handeln« sei nun gekommen. »Die Zeit der Spielchen ist vorbei.«

Die Rede:

"The time for games has passed. Now is the season for action." / "Die Zeit für Spielchen ist vorbei - jetzt ist die Zeit zu handeln."
US-Präsident verteidigt Gesundheitsreform vor dem Kongress - Die Rede im Wortlaut (englisch) / REMARKS BY THE PRESIDENT TO A JOINT SESSION OF CONGRESS ON HEALTH CARE



Obama nannte drei zentrale Ziele seines Plans, den er aber nur in Grundsätzen erläuterte. Künftig soll die überwältigende Mehrheit der krankenversicherten US-Amerikaner einen sicheren und auch bezahlbaren Schutz haben. Zudem müssten 30 Millionen nicht versicherte US-Amerikaner eingebunden werden. In früheren Reden hatte er noch von 47 Millionen ohne Krankenversicherung gesprochen. Von größter Bedeutung nannte Obama die Senkung der explodierenden Kosten für das Gesundheitswesen, das ein Sechstel der gesamten Wirtschaftsleistung der USA verschlinge. »Wir zahlen anderthalb mal mehr pro Person für die Gesundheitsversorgung als jedes andere Land, aber wir sind dafür nicht irgendwie gesünder.«

Die Reform werde 900 Milliarden Dollar in den kommenden zehn Jahren kosten, »weniger als wir für die Kriege in Irak und in Afghanistan ausgegeben haben und weniger als die Steuerkürzungen für die kleine Zahl der reichsten Amerikaner in der Zeit der letzten Regierung«, sagte Obama.

In der von allen großen US-Fernsehstationen übertragenen Rede versuchte der Präsident, eine Brücke zwischen den gegensätzlichen politischen Positionen zu bauen. Er strebe keinen Systembruch an, betonte Obama. Weder solle die Gesundheitsversorgung verstaatlicht werden, wie das die Linke wolle; noch solle sie die private Angelegenheit jedes Einzelnen bleiben, wie von den Rechten gewollt. Es müsse aber mehr Konkurrenz im Gesundheitswesen geben. Deshalb sei auch ein staatliches Versicherungsangebot notwendig.

Obama stieß bei den Republikanern schon während seiner kämpferischen Rede auf Proteste und Widerstand. Als der Präsident sagte, dass das neue System keineswegs die Illegalen im Land einbeziehen würde, schrie der Abgeordnete Joe Wilson aufgebracht: »Sie lügen!«. Der Republikaner entschuldigte sich später für sein »unzivilisiertes Verhalten«.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2009


Bruchstellen

Von Olaf Standke **

Bei den US-amerikanischen Fernsehzuschauern hat Barack Obama mit seiner kämpferischen Rede vor beiden Häusern des Kongresses gepunktet. Fast zwei Drittel der Befragten unterstützten anschließend in Umfragen seine Vorschläge für die überfällige Gesundheitsreform. Aber vielleicht saßen auch nur mehr Anhänger der Demokraten vor den Bildschirmen. Doch selbst dann wäre die deutlich gewachsene Zustimmung ein Erfolg für Obama, denn ihm bereiten bei der Erfüllung seines wichtigsten Wahlversprechens nicht nur völlig losgelöste Konservative mit den absurdesten Vorwürfen schwere Probleme. Auch in den eigenen Reihen ist das Jahrhundertprojekt des Präsidenten umstritten. Schon Bill Clinton hatte einst an gleicher Stelle für einen radikalen Umbau des zwar eminent teuren, aber sozial höchst ungerechten und überaus ineffizienten Gesundheitssystems der Supermacht geworben. Vergeblich, trotz ähnlich guter Umfragewerte unmittelbar nach seiner Rede. Sie hielten nicht. Obama will es anders machen, indem er versucht, Brücken zwischen den gegensätzlichen politischen Positionen zu bauen. So kann man es positiv formulieren. Kritiker im nichtkonservativen Lager befürchten allerdings, dass sein Versprechen, keinen »Systembruch« anzustreben, vor allem den Verzicht auf einen Wandel etwa durch die Stärkung der staatlichen Komponente zugunsten der Millionen und Abermillionen Nicht- und Unterversicherten bedeutet.

** Aus: Neues Deutschland, 11. September 2009 (Kommentar)


Obama setzt zurück

Pathos ohne Substanz: US-Präsident signalisiert Kompromißbereitschaft bei Gesundheitsreform. Allgemeine staatliche Krankenversicherung hat kaum noch Chancen

Von Tomasz Konicz ***


Wenig Neues kam vom US-Präsidenten zur Gesundheitsreform. Mit Pathos sparte Barack Obama bei seinem Auftrit vor dem US-Parlament am Mittwoch nicht: »Ich bin nicht der erste Präsident, der sich dieser Sache annimmt, aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein,« verkündete er im Hinblick auf die mehrmals gescheiterten Reformbemühungen. »Jetzt ist die Zeit des Handelns.« Dabei zeigte er sich bei einem zentralen Punkt der Gesundheitsreform kompromißbereit, sehr zum Ärger seiner progressiven Basis. Obama beteuerte zwar seine weitere Unterstützung für die Einrichtung einer staatlichen Krankenversicherung, doch zugleich zeigte er sich offen gegenüber Alternativen, die den Bürgern »Stabilität und Sicherheit« bringen würden.

Schon Tage vor der Rede hatte das Weiße Haus unablässig Kompromißbereitschaft gegenüber Republikanern, rechtsgerichteten Demokraten und der Gesundheitsindustrie signalisiert. Die stemmen sich mit Macht gegen die Einführung einer landesweiten staatlichen Krankenversicherung. Präsidentenberater David Axelrod erklärte gegenüber dem Fernsehsender NBC, daß Obama eine öffentliche Krankenversicherung immer noch als ein »gutes Werkzeug« ansehe, doch dürfe diese Option nicht »die gesamte Gesundheitsdebatte dominieren«.

Ursprünglich galt diese Versicherung als ein unverzichtbares Kernelement der Gesundheitsreform. Sie sollte es den nahezu 50 Millionen US-Bürgern ohne Versicherungsschutz ermöglichen, erstmals einen solchen zu erwerben. Ziel war es auch, hierdurch die hohen Kosten für die privaten Krankenversicherungen zu senken. Das größtenteils privat betriebene Gesundheitssystem gilt als maßlos überteuert, notorisch verschwendungssüchtig und ineffizient. Die Kosten pro Kopf der Bevölkerung sind etwa doppelt so hoch wie die in vergleichbaren Industriestaaten. Und die Gesamtaufwendungen steigen beständig: Von 2,1 Billionen US-Dollar 2006 auf 2,5 Billionen (2500 Milliarden) in diesem Jahr. Ein Ende dieser Kostenexplosion ist laut einer von der Washington Post zitierten Studie nicht in Sicht. Demnach könnten die Gesamtausgaben sogar auf vier Billionen Dollar im Jahr 2016 anwachsen – sollte keine substantielle Reform realisiert werden.

Der Gesundheitsindustrie ist es jedoch bereits gelungen, zentrale Aspekte des Reformvorhabens aufzuweichen oder gar ganz zu verhindern. Während die staatlichen Gesundheitsprogramme für verarmte und ältere Bürger, Medicaid und Medicare, finanziell massiv beschnitten wurden, sollen im Gegenzug milliardenschwere staatliche Subventionen bereitgestellt werden, damit mehr US-Bürger sich die ineffektiven, überteuerten, auf das finanzielle Wohl der Anbieter ausgerichteten privaten Krankenversicherungen leisten können. Der Pharmaindustrie sicherte das Weiße Haus zu, bei Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung deren Einkaufsmacht nicht dazu nutzen zu wollen, die gnadenlos überhöhten Medikamentenpreise zu senken. Ähnliche Deals wurden mit den Kranken­hausgesellschaften und angeblich sogar mit der Krankenversicherungsbranche vereinbart. Letzterer soll die Regierung sogar einen Verzicht auf eine öffentliche Krankenversicherung im vorhinein zugesichert haben (siehe jW vom 27. August) – die jüngsten Äußerungen aus dem Weißen Haus scheinen dies zu bestätigen.

Ungeachtet der pathetischen Rede Obamas geht hinter den Kulissen das Tauziehen um das ohnehin bereits bis zur Unkenntlichkeit verwässerte Reformprojekt weiter. Inzwischen kursieren im Kongreß sehr »industriefreundliche« Vorschläge, die beispielsweise erst dann eine staatliche Krankenversicherung greifen lassen wollen, wenn private Krankenversicherer an einem Patienten kein Interesse haben. Sollte das Realität werden, könnten die privaten Gesundheitskonzerne »kostenintensive Kunden« beliebig entsorgen. Hoch im Kurs steht auch die Idee der Einführung von Krankenversicherungsgenossenschaften, deren Kapital größtenteils von den Genossenschaftsmitgliedern aufgebracht werden müßte.

Schließlich gibt es auch Überlegungen, unter Androhung von Bußgeldern alle Bürger zum Abschluß von Krankenversicherungen zu nötigen. Im Gespräch sind Strafen von bis zu 3800 US-Dollar. Diese Ideen brütete das wichtigste Senatsgremium aus, das sich um die Ausgestaltung eines parteiübergreifenden Kompromisses in der Gesundheitsreform bemüht. Es wird von dem demokratischen Senator Max Baucus geleitet. Darin sind drei republikanische und drei demokratische Senatoren vertreten. Kurz vor der Ansprache Obamas ließ Baucus einen Vorschlag in Umlauf bringen, der ab 2013 alle Bürger verpflichten würde, eine Gesundheitsversicherung zu erwerben. Genau auf diese Überlegungen nahm Obama in seinen Ausführungen Bezug. Staatliche Unterstützung für den Erwerb privater Krankenversicherungen werden all diejenigen US Bürger erhalten, die nicht durch ihre Unternehmen krankenversichert sind. Eine allgemeine, staatliche Krankenversicherung sieht dieser Vorschlag nicht mehr vor.

Damit gehen Baucus und auch Obama auf direkte Konfrontation zum linksliberalen Flügel der Demokraten, der weiterhin auf der Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung im Rahmen der Gesundheitsreform besteht. Am 8. September machte Nancy Pelosi, die Demokratin und einflußreiche Sprecherin des Repräsentantenhauses, nach einem Treffen mit Obama nochmals klar, daß »eine öffentliche Option essentiell sein wird, um unser Gesetz durch das Repräsentantenhaus zu bringen.«

Doch auch seitens der Republikaner dürfte selbst der von Baucus propagierte weichgespülte Reformvorschlag kaum Unterstützung erfahren. Die Rechte hofft hingegen, die Gesundheitsreform gänzlich scheitern lassen zu können, um so Obamas Präsidentschaft bereits jetzt eine vernichtende Niederlage zu bereiten: »Wenn wir Obama jetzt stoppen können, wird das sein Waterloo und es wird ihn zerbrechen«, frohlockte der republikanische Senator Jim DeMint.

*** Aus: junge Welt, 11. September 2009

Weitere Pressestimmen:



Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG beleuchtet die Rede des amerikanischen Präsidenten, der im Kongress für seine umstrittene Gesundheitsreform geworben hat:
"Mit seinem energischen Reformplädoyer im Kongress hat Obama, von der segensreichen Rolle des Staates im Gesundheitswesen überzeugt, wieder die Initiative ergriffen - nach Wochen einer hitzigen bis hysterischen Debatte, in denen die Reformgegner zeitweise die Oberhand zu gewinnen schienen, während er selbst merkwürdig abwesend war und seine Partei sich zerstritt. Dunkle Wolken hatten sich über Obamas wichtigstem innenpolitischen Projekt gebildet, und zwar auch deshalb, weil immer mehr Wähler die ausufernde Staatsverschuldung ängstigt und weil sie dem Versprechen, die Gesundheitsreform werde billig zu haben sein, nicht glauben. Einige Wolken hat der Präsident vertrieben, aber nicht alle Skeptiker im eigenen Lager überzeugt. Eine ausreichende Mehrheit hat er noch nicht beisammen", ist das Fazit der F.A.Z.

"Es war eine glänzende, eine leidenschaftliche Rede", lobt die RHEINISCHE POST aus Düsseldorf:
"Nur: Eine Rede allein ändert eben noch nichts. Worauf es ankommt, ist die Kleinarbeit, das Feilen am Kompromiss. Obamas Idealvorstellung, seine Demokraten könnten sich mit den Republikanern auf einen gemeinsamen Plan einigen, scheint an der nüchternen Realität zu scheitern. Zu verhärtet sind die Fronten", konstatiert die RHEINISCHE POST.

Auch die SCHWERINER VOLKSZEITUNG findet:
"Obama hat dabei die Chance genutzt, leidenschaftlich auf die Notwendigkeit einer Reform hinzuweisen - mit erschütternden Beispielen aus dem Alltag und einem Appell des verstorbenen Ted Kennedy. Er hat aber auch eine Chance verpasst: Wichtige offene Fragen glasklar zu beantworten und Ungereimtheiten aufzuklären. Wie diese: Sollen Bürger, die sich nicht versichern lassen wollen, tatsächlich hohe Strafsummen zahlen? Und warum die Eile, wo doch die Sorgen der Bürger derzeit vor allem den Arbeitsplätzen gelten?", fragt die SCHWERINER VOLKSZEITUNG.

Und die DRESDNER NEUESTEN NACHRICHTEN erwarten keine schnelle Einigung, denn:
"Im Land der unbeschränkten Möglichkeiten wird die persönliche Freiheit nun mal höher gehängt als die staatlich reglementierte Fürsorge. Diese, seit den Gründervätern gepflegte Gesellschaftsmentalität, ändert sich nicht über Nacht. Das hätte auch Obama wissen müssen. Stattdessen gibt er ein Lehrstück von: Gut gemeint ist lange nicht gut gemacht. Obama, dessen Politik-Stil wie ein ermüdender Dauerwahlkampf wirkt, will weiter wort- und pathosreich mit dem Kopf durch die Wand. Yes we can? Mag sein, nur das 'Wir' wird zusehends kleiner."

Deutschlandfunk: Presseschau, 11. September 2009; www.dradio.de/presseschau/


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