Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Risse im Sternenbanner" - Die Vereinigten Staaten von Amerika vor der Wahl

Befindlichkeitsprotokolle und Diagnosen, Zustandsbeschreibungen und Antworten

Die in der Schweiz erscheinende Zeitschrift "du" brachte im September 2004 ein ganz besonders spannendes Heft heraus mit dem Schwerpunkt "USA". Im Editorial wurde mit folgender Geschichte in das Heftthema eingeführt:

Der englische Bestseller-Autor Ian McEwan wollte Ende März dieses Jahres von Vancouver in Kanada nach Seattle in den USA fliegen, um dort von seiner Arbeit als Schriftsteller zu berichten. Aber als er ins Flugzeug einsteigen wollte, wurde er von US-Grenzbeamten daran gehindert. McEwan hatte die Frage, ob er für den Vortrag Geld bekommen würde, wahrheitsgemäss mit Ja beantwortet, worauf die Grenzschutzwächter befanden, er brauche ein Visum.

36 Stunden musste der Schriftsteller – den sein Fan, die Präsidentengattin Laura Bush, zum Kaffee eingeladen hatte, als sie im Herbst bei Tony Blair an der Downing Street 10 zu Besuch war – in einem Hotel warten, bis ein Anwalt, zwei US-Kongressabgeordnete, das britische Konsulat und die Veranstalter in Seattle seine Einreise in die USA erwirkt hatten.

Anderthalb Stunden vor seinem Vortrag traf McEwan schliesslich in Seattle ein. Seine Rede begann er mit dem Dank an die US-Behörde, dass sie das amerikanische Volk vor einem englischen Romanschriftsteller schütze.

Die Redaktion fand diese Begebenheit "symptomatisch für den Zustand der USA seit den Anschlägen vom 11. September 2001". Dem ist zuzustimmen. In zahlreichen Beiträgen wird versucht, den äußerst widersprüchlichen "Zustand" der USA zu vermessen, ein großes Land und seine Menschen mit all ihren Ängsten und Projektionen, mit ihrem Patriotismus, Rassismus, mit ihrer Toleranz und Freiheitsliebe, mit ihrer Überheblichkeit und ihren Minderwertigkeitskomplexen zu schildern - schonungslos offen, wie es sich für Amerika gehört. Im Editorial heißt es weiter:

«du» hat Kenner des Landes um Befindlichkeitsprotokolle und Diagnosen, um Zustandsbeschreibungen und Antworten gebeten; Politologen wie Michael Walzer und Joseph Nye, Wirtschaftsspezialisten wie Ted Halstead und Michael Lind, Fernsehstars wie Tim Russert und Journalisten wie den Autor der «Herald Tribune», William Pfaff, der eine zutiefst gespaltene Nation ausmacht. Und schliesslich stellen wir die einflussreichsten Vertreter der linken und rechten Demagogie und Argumentation vor, von Ann Coulter und William Kristol über Susan Sontag und Seymour Hersh bis Michael Moore, die teilweise seit Jahrzehnten die Diskussion beherrschen.

Die Beiträge des Schwerpunkts und ihre Autoren im Einzelnen:
  • Nach der Utopie, vor der Wahl: Amerika.
  • In einem Land vor unserer Zeit. Eine Saurier-Safari. Von Robert Huber
  • Risse im Sternenbanner. Was aus der Utopie geworden ist. Von William Pfaff
  • «Amerika ist kein Imperium.» Interview mit Joseph S. Nye. Von Peter Haffner
  • Wie werde ich Präsident. Eine Gebrauchsanweisung. Von Stefan Howald
  • El futuro de los Estados Unidos. Interview mit dem Politologen Michael Walzer über die Immigration. Von Sacha Verna
  • Yale University, Ltd. Amerikanische Universitäten sind Grosskonzerne. Ihre Rektoren verdienen wie Topmanager. Von Jörg Häntzschel
  • Die vierte Republik. Vorschläge für eine amerikanische Sozialpolitik im 21. Jahrhundert. Von Ted Halstead und Michael Lind
  • Die Angst der Politiker vor dem Sonntag. Tim Russert ist der berüchtigtste Interviewer von ganz Amerika. Von Martin Kilian
  • «Kunst wirkt, aber wir können nicht steuern wie.» Der Kulturkritiker Greil Marcus über Politik, Kultur, die USA und Europa. Von Stefan Howald
  • Patronen im Bibelgürtel. Militante Christen erobern das Weisse Haus vom Süden aus. Von Charles Simic
  • In ständiger Mission. Amerikas Kulturkämpfer. Von Andrian Kreye
Im Folgenden dokumentieren wir - sozusagen als Leseprobe - Auszüge aus zwei Beiträgen aus dem Heft. Die Beiträge sind in voller Länge in der Internetausgabe der Zeitschrift enthalten (http://www.dumag.ch/):
  1. Risse im Sternenbanner. Was aus der Utopie geworden ist. Von William Pfaff
  2. «Amerika ist kein Imperium.»Interview mit Joseph S. Nye. Von Peter Haffner.

Risse im Sternenbanner.

Was aus der Utopie geworden ist.

Von William Pfaff


Das amerikanische Volk ist von allzu vielen Bruch- und Verwerfungslinien durchzogen, als dass man von einer blossen «Teilung» sprechen könnte. Man könnte sagen, die aktuellen Ereignisse hätten das Land zerrüttet, zerlegt, gespalten und sogar demoralisiert. Die Spaltung geht weit über die bekannten, religiös begründeten «Kulturkämpfe» zur Frage der Abtreibung oder der Homosexuellenehe und auch weit über die politische Spaltung in «rote» und «blaue» Wähler hinaus. Die stellt allenfalls Symptome einer Krise der politischen Kultur dar. Der Mangel an Einheit, der zugleich ein Mangel an Gewissheit ist, resultiert aus mehreren bedeutsamen Veränderungen in den letzten vier Jahrzehnten, die den sozialen und kulturellen Zusammenhalt des amerikanischen Volkes wie auch dessen Gefühl für nationale Identität und Ziele betreffen. Auch wenn viele Amerikaner sich dieser Veränderungen vielleicht nicht bewusst sind, spüren sie doch deren Auswirkungen und leiden darunter.

Bis 1945 und weiter bis in die sechziger Jahre gab es im Volk ein starkes Gefühl gemeinsamer kultureller Identität, das an eine bekannte Geschichte und an wichtige Gestalten der kollektiven Erinnerung anknüpfte, an Theodor und Franklin D. Roosevelt etwa, an Abraham Lincoln, Ulysses S. Grant und Robert E. Lee aus der Zeit des Bürgerkriegs und an die zweifellos mythologisierte, aber dennoch grossartige Elite der politischen Führer und Denker der Aufklärung, die einst die amerikanische Verfassung entwarfen und als Gründungsväter bezeichnet werden. Überall in den Public und Secondary Schools wurde amerikanische Geschichte gelehrt – in triumphalistischer Manier zwar, doch das ist bei der nationalen Geschichte allgemein üblich. Und daneben lehrte man oft auch die Geschichte des jeweiligen Bundesstaates. Die Amerikaner kannten ihre Vergangenheit.

In den Jahren nach 1945 waren beide Weltkriege noch sehr lebendige Erinnerung, aber Menschen ab Ende fünfzig konnten sich auch noch gut an den Spanisch-Amerikanischen Krieg erinnern. Selbst der Bürgerkrieg (1860–1865) hatte noch erheblichen Einfluss auf das Denken der Amerikaner, vor allem im Süden, wo immer noch Menschen lebten, die selbst in der Sklaverei geboren oder Kinder ehemaliger Sklaven oder Sklavenhalter waren.

In weiten Teilen des Nordens wurde stillschweigend oder sogar legal weiterhin Rassentrennung betrieben, und im Süden hielt man die meisten schwarzen Bürger mit der Wahlsteuer und anderen gesetzlichen Mitteln von den Wahlen fern. In den Streitkräften herrschte bis 1948 Rassentrennung, im Süden bis in die sechziger Jahre hinein auch in den Schulen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln. All das war lebendige Erinnerung, oft auch schmerzliche, verband aber die Bürger untereinander durch Familiengeschichte, gemeinsame Erziehung, patriotische Traditionen öffentlichen Gedenkens und durch eine lebendige Nationalliteratur. Die Bevölkerung des Landes war in der überwältigenden Mehrheit westeuropäischer, vor allem angelsächsischer oder anglokeltischer Herkunft und protestantischen Glaubens (in der Regel aus dem Bereich der Dissenter-Kirchen). Mit der Ankunft der deutschen, irischen und italienischen Einwanderer im 19. Jahrhundert nahm der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung deutlich zu.

Gesellschaft mit universellen Werten

Die Einwanderungspolitik war entschieden auf Assimilation ausgerichtet. Deren wichtigstes Instrument bildeten die Public Schools (im 20. Jahrhundert spielten dann auch die Unterhaltungsmedien eine wichtige Rolle, vor allem Kino und Rundfunk).

Die nationale Ideologie war – wie auch heute – nationalistisch und vom Glauben an eine Ausnahmestellung des Landes geprägt. Damals wie heute waren die Amerikaner der festen Überzeugung, ihre Gesellschaft habe eine einmalige und beispielhafte Stellung in der Geschichte, sie sei in ihrer Lebensweise von «überragender Güte» (wie William Bennet, ein führender republikanischer Konservativer, es einmal ausgedrückt hat). Damals wie heute hielten die Amerikaner sie für ein Vorbild, das universelle Werte verkörpere und dem andere Gesellschaften nachstreben sollten.

Dieser Glaube trennt die Amerikaner von der Geschichte anderer Länder, die keine Bedeutung für eine Gesellschaft haben kann, deren Ziel und Bestimmung es ist, die Vergangenheit durch eine von der Vision und dem Fortschritt Amerikas bereits eindeutig vorgezeichnete Zukunft zu ersetzen. Wissen über den Rest der Welt gilt weitgehend als bedeutungslos für eine Gesellschaft, deren Aufgabe es ist, die Zukunft zu schaffen. Die meisten Amerikaner wissen daher so gut wie nichts über das aktuelle Geschehen ausserhalb Amerikas. Sie nehmen es allenfalls als ein Kaleidoskop ferner Ereignisse wahr, die kein besonderes Interesse verdienen.

Unverdorbene Wildnis für Auserwählte

(...) Die Idee einer Ausnahmestellung Amerikas ist in ihrer aktuellen aggressiven Form ein Produkt des späten 20. Jahrhunderts, doch die Wurzeln reichen weit zurück in die Geschichte der amerikanischen Kultur. Schon im 17. Jahrhundert sahen die Puritaner (oder Calvinisten) Neuenglands in Amerika eine unverdorbene Wildnis, die Gott den Auserwählten geschenkt hatte und in der die Erlösten ein neues Jerusalem erbauen sollten.

Man war der festen Überzeugung, die neue Gesellschaft müsse sich vor der Verdorbenheit des «unerlösten» Europa schützen und sich vor einer «Verwicklung» in politische Allianzen mit den dort herrschenden Dynastien hüten. Diese im wesentlichen religiös begründete Verpflichtung auf eine wachsame, von Europa getrennte Existenz fand ihre Bestätigung in den politischen Ereignissen des 17. und 18. Jahrhunderts und wurde bestärkt von den geistigen Einflüssen der Aufklärung, die zur Gründung der amerikanischen Republik im Jahr 1783 beitrugen. In seiner Ausnahmestellung ging Amerika auf Abstand zu der jenseits der Grenzen herrschenden Verderbnis.

Die Praxis nationaler Isolation und Neutralität überstand mehrere Herausforderungen (insbesondere das imperialistische Abenteuer des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 und Wilsons utopische Intervention in Europa 1917–1919). Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg wünschten die meisten Amerikaner eine Rückkehr zur Isolation. Dieser Wunsch erwies sich jedoch als unerfüllbar angesichts der sozialen und ökonomischen Krise 1947/48 in Europa, angesichts des griechischen Bürgerkriegs, des Staatsstreichs in der Tschechoslowakei 1948 und des folgenden Koreakriegs. So fand denn der Isolationismus sein Ende mit dem Kalten Krieg.

Heute ist Amerika von seiner Vergangenheit weitgehend abgeschnitten, und zwar durch eine Reihe von Ereignissen und Veränderungen, von denen einige positiv waren wie die grossen Bürgerrechtsreformen der sechziger Jahre und einige negativ wie insbesondere die direkten und indirekten Auswirkungen des Kalten Kriegs und des Vietnamkriegs.

Die Militarisierung

Der Kalte Krieg führte zu einer Militarisierung der amerikanischen Gesellschaft. Auf den Zweiten Weltkrieg folgte zunächst eine überstürzte Demobilisierung. Zur Zeit des kommunistischen Staatsstreichs 1948 in der Tschechoslowakei standen auf dem Staatsgebiet der Vereinigten Staaten lediglich eineindrittel Divisionen zur Verfügung. Die in Deutschland und Japan stationierten Truppen waren unmotiviert und schlecht ausgebildet.

Die Wiederaufrüstung begann erst 1950 nach dem nordkoreanischen Angriff auf Südkorea, wurde seither jedoch ohne Unterbrechung fortgesetzt. Trotz verfassungsrechtlicher Beschränkungen hinsichtlich der Einrichtung «stehender Heere» besassen die Ver- einigten Staaten 1939 eine Berufsarmee, die einschliesslich Luftwaffe über 174 000 Mann verfügte. Heute ist das Land die stärkste Militärmacht der Welt, und die Militärausgaben sind höher als die aller übrigen Industriestaaten zusammengenommen.

Selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts verfolgte Washington weiterhin eine Politik technologischer Hochrüstung, um sich die vollständige militärische Herrschaft über die Erde zu sichern und die Herrschaft über den Weltraum vorzubereiten. 1988 warnte der damalige Leiter des sowjetischen Nordamerika-Instituts, Georgij Arbatow, amerikanische Offizielle, Russland werde Amerika «etwas ganz Schreckliches antun. Wir werden euch einen Feind nehmen.» Und er hatte recht. Als der Kalte Krieg beendet war, suchten die Vereinigten Staaten nach neuen politischen Zielen und fanden sie schliesslich in einer von Francis Fukuyama formulierten Theorie, wonach die Geschichte durch den Sieg des amerikanischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems an ein Ende gelangt sei.

Alle anderen Möglichkeiten seien erschöpft oder diskreditiert. Die Welt könne nur noch akzeptieren, dass es ihr Schicksal sei, Teil eines von Amerika definierten und beherrschten Weltsystems zu sein, welches «jenseits der Geschichte» stehe.

Bei der Anpassung dieser Theorie an die Bedürfnisse staatlicher Politik ersetzte man den abhanden gekommenen Feind durch die «Schurkenstaaten», die «zerfallenden Staaten» und schliesslich durch den «Krieg gegen den Terrorismus». (...)

Der demografische Wandel

Der Vietnamkrieg hatte unerwartete Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft, deren Folgen bislang nicht ausreichend erkannt worden sind. Er sorgte für eine einschneidende Veränderung der Einwanderung und in der Folge auch der ethnischen Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung und verursachte einen tiefgreifenden Wandel in der politischen Kultur Amerikas wie auch im Selbstbild der amerikanischen Eliten.

Viele Amerikaner gelangten im Rückblick zu der Überzeugung, dass der Krieg zum Teil auf rassistischen Vorstellungen basiert hatte, und sie empfanden eine tiefe Scham über das Unrecht, das man Vietnam, Kambodscha und Laos angetan hatte. Während des Vietnamkriegs hatten die Vereinigten Staaten dort mehr Bomben abgeworfen, als während des Zweiten Weltkriegs auf die Achsenmächte niedergegangen waren. Doch als der Krieg beendet war, blieb die Sicherheit der Vereinigten Staaten unangetastet. Kein «Dominoeffekt» sorgte dafür, dass nach dem Sieg Nordvietnams auch andere asiatische Staaten kommunistisch wurden. Die Vietnamesen machten sich daran, ihr Land mit beispielloser Energie wieder aufzubauen. Die amerikanischen Eliten und die Öffentlichkeit mussten sich fragen, wozu man diesen Krieg überhaupt geführt hatte.

Die wichtigste Reaktion war die Einwanderungsreform von 1965, deren Motive niemals deutlich ausgesprochen wurden. Sie beendete das Quotensystem für die verschiedenen Herkunftsländer, das die Einwanderung bis dahin hauptsächlich auf Europäer beschränkt hatte. In den achtziger Jahren hatte die Einwanderung ein ähnlich hohes Niveau erreicht wie in den zwanziger Jahren, doch nun war sie nicht mehr in erster Linie europäisch geprägt.

Der durch einen grosszügigen Impuls ausgelöste Politikwechsel fand unerwartet Unterstützung in gewöhnlich konservativen und rassenbewussten Kreisen der Vereinigten Staaten. Die amerikanische Industrie und die Landwirtschaft unterstützten diese gewaltige Zunahme der Einwanderung, meist aus armen Ländern Lateinamerikas und Asiens, weil dadurch anspruchslose Arbeiter ins Land kamen, die niedrige Löhne akzeptierten und die Arbeitskosten in Amerika insgesamt niedrig hielten. Das wiederum schwächte oder beseitigte sogar den Einfluss der amerikanischen Gewerkschaften und förderte das amerikanische Wirtschaftswachstum.

Dasselbe Schuldgefühl, das zu der neuen Einwanderungspolitik führte, sorgte auch dafür, dass die bisherige Praxis der kulturellen Assimilation der Einwanderer als «Aggression» gegen die Kultur und die Werte der Neubürger empfunden und daher abgelehnt wurde. Die Folgen dieser Veränderungen für die Einheit der amerikanischen Gesellschaft und Kultur sind erst in jüngster Zeit in Frage gestellt worden, und zwar von «traditionellen» Konservativen, die sich gegen den wertfreien Radikalismus des neuen amerikanischen Kapitalismus wenden.

Vor kurzem hat der Harvard-Professor Samuel Huntington eine Kontroverse ausgelöst, weil er behauptete, allein schon das Ausmass der Einwanderung aus dem spanisch sprechenden Raum (ohne Berücksichtigung der Einwanderung aus Ost- und Südasien) bedrohe bereits den Fortbestand der kulturellen und politischen Werte, welche die amerikanische Gesellschaft geprägt haben. (Während bei der Volkszählung 1970 noch 4,5 Prozent der Bevölkerung lateinamerikanischer Herkunft waren, hatte dieser Anteil sich im Jahr 2000 bereits auf 12,5 Prozent erhöht, und die Geburtenrate liegt bei dieser Bevölkerungsgruppe um 40 Prozent höher als bei den weissen Amerikanern.)

Der neue Kapitalismus

Zu einem zweiten bedeutenden Bruch in der Kontinuität der amerikanischen Gesellschaft kam es durch die Lehren, die Ende der sechziger und in den siebziger Jahren von Volks- und Betriebswirtschaftlern vertreten wurden. Die neuen volks- und betriebswirtschaftlichen Theorien verlangten eine Deregulierung der amerikanischen und der internationalen Wirtschaft und eine Neuausrichtung der Unternehmen, die allein die Rendite zum Kriterium des Unternehmenserfolgs erhob. Danach hatte das Management die Interessen der Beschäftigten und der Gemeinschaft ausser Acht zu lassen, sofern die Rendite dadurch geschmälert wurde. Der einzige Massstab für den Erfolg war nun die Börsennotierung.

Zu den sozialen Folgen gehörten sinkende Löhne und ein objektiver Rückgang des Lebensstandards für die meisten abhängig Beschäftigten; die Notwendigkeit für beide Elternteile, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, wo bislang ein Einkommen ausgereicht hatte; eine Verschlechterung oder ein vollständiger Wegfall der Kranken- und Rentenversicherung; auf der anderen Seite schliesslich ein eklatanter Anstieg der Einkünfte bei leitenden Managern samt den seit 2001 aufgedeckten Machenschaften in den Unternehmensführungen.

Früher sorgten gesetzliche Bestimmungen und Druck aus der sozialen Gemeinschaft dafür, dass amerikanische Unternehmen Verantwortung für das Wohl der Beschäftigten und Verpflichtungen gegenüber der lokalen und nationalen Gemeinschaft übernahmen, die rein wirtschaftlich betrachtet zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Unternehmenserfolgs führten.

Die daraus resultierende Schwächung oder Zerstörung der Gemeinschafts- und Sozialstrukturen wie auch der Normen in den Vereinigten Staaten wurde nach 1992 auch auf die Weltwirtschaft übertragen, als die Clinton-Administration weltweit auf eine Deregulierung der Wirtschaft drängte, mit ähnlich sozial desintegrativen Wirkungen auf die Weltwirtschaft.

Die Bedeutung der kommerziellen Massenunterhaltungsmedien und der Starkultur im amerikanischen Leben wie auch die Abhängigkeit der Politik von bezahlter Fernsehwerbung und einer simplifizierenden Manipulation der Bilder sorgten zugleich für eine drastische Verarmung der politischen Diskussion im Land, förderten die Wahlenthaltung und trugen dazu bei, dass weite Teile der Öffentlichkeit grundlegende politische Daten nicht mehr kennen und viele Fragen nicht mehr stellen.

Die Ideologie

Eine weitere Ursache für die Spaltung der Nation liegt in einer neueren Entwicklung im Bereich der religiösen Ideologie. Die Republikanische Partei ist über ihre Wählerschaft in die Abhängigkeit einer messianisch-apokalyptischen Variante eines protestantisch-evangelikalen Fundamentalismus geraten. Diese Bewegung ist zur stärksten religiösen Kraft des Landes geworden und kann inzwischen etwa 30 Prozent der Bevölkerung zu ihren Anhängern zählen, darunter auch Präsident Bush.

Viele Mitglieder dieser Bewegung hängen einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Deutung biblischer Prophezeiungen nach, denen zufolge das Ende der Zeiten nahe ist, und sie meinen, die amerikanische Aussenpolitik müsse sich an diesem Gedanken ausrichten. (...)

Der liberale Imperialismus

Schliesslich hat der wachsende Einfluss der als Neokonservatismus bezeichneten intellektuellen Bewegung mehrere neue Faktoren in die amerikanische Aussenpolitik eingeführt. Dazu gehört die Überzeugung, das nationale Interesse verlange eine Manipulation des Wahlvolks durch die Elite. Diese Überzeugung basiert auf einem Geschichtspessimismus, der (in verzerrter Form) mit dem Werk des politischen Philosophen Leo Strauss assoziiert wird.

Ein zweiter Faktor ist die Einstellung zur Gewalt, die nach Ansicht des angesehenen Harvard-Professors Stanley Hoffman Ähnlichkeit mit den Ansichten mancher faschistischer Philosophen im Italien der dreissiger Jahre hat. Dahinter steckt die objektiv naive Version einer politischen Erwartung profan-apokalyptischer Prägung, die vom trotzkistischen Glauben an die schöpferische Kraft der «permanenten Revolution» und von Vorstellungen des österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph Schumpeter hinsichtlich des ökonomischen Phänomens der «schöpferischen Zerstörung» beeinflusst ist.

In ihrer Verbindung führen diese Elemente zu der Zuversicht, dass man die bestehenden politischen und sozialen Strukturen zerstören müsse, wenn man der Demokratie und dem Kapitalismus amerikanischer Prägung zum Sieg verhelfen will, zumal beides ein Ziel darstellt, nach dem alle Menschen aus eigenem Antrieb streben.

Der neokonservative Glaube ist eine moderne Version des rousseauschen Glaubens, wonach der Mensch von Natur aus gut sei, sofern er nicht unterdrückt und durch die Verhältnisse verdorben wird. Die Neokonservativen glauben, wenn man die dem Kapitalismus und der Demokratie feindlich gesinnten Systeme zerstöre, würden die betreffenden Gesellschaften ganz von selbst Kapitalismus und Demokratie übernehmen (sie bilden gleichsam den «Default-Modus», um es in der modernen Computersprache auszudrücken).
(...)
Die Illusionen im gegenwärtigen Weltbild Amerikas kollidieren mit den Realitäten der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft, mit den sozialen und rechtlichen Standards in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu den in Westeuropa üblichen Standards, mit einem Krieg im Irak, der immer grössere Ähnlichkeit mit dem Krieg gegen den vietnamesischen Nationalismus gewinnt, und mit dem Schaden, den eine Politik der Folter den Bündnissen und dem moralischen Ansehen Amerikas zugefügt hat. Bei vielen Amerikanern nähren all diese Vorgänge das deutliche Gefühl, dass die Vereinigten Staaten «auf dem falschen Weg sind» (wie es Meinungsumfragen formulieren, die einen stetigen Rückgang der nationalen Zuversicht konstatieren). Im Augenblick sind wir jedoch mitten in der politischen Krise des modernen Amerika.

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

«Amerika ist kein Imperium.»

Die Armee der USA ist darauf ausgerichtet, die Tür einzutreten, den Diktator aus dem Sessel zu prügeln und nach Hause zu gehen. Sagt Joseph S. Nye*, Dekan der Kennedy School of Government der Universität Harvard. Er sagt auch: Im eigenen Interesse sollte Amerika mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse der übrigen Welt nehmen. Doch in deren Interesse ist es, dass die USA stark bleiben.

Von Peter Haffner


(...) Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die USA die einzige Supermacht der Welt. Was bedeutet das für die Beziehungen zwischen den USA und Europa? Europa versucht ja, sich von den USA zu emanzipieren – die Opposition gegen Bush spielt dabei wohl eine geringere Rolle als die Tatsache, dass der gemeinsame Feind verschwunden ist.

Wenn ein gemeinsamer Feind verschwindet, werden die Bindungen lockerer. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass es andere Gründe gibt, die Europa und die USA zusammenhalten. Auf der ökonomischen Ebene sind das der Handel und die Investitionen, die europäische Unternehmen in den USA und amerikanische Unternehmen in Europa tätigen. Und trotz der Differenzen bezüglich bestimmter Aspekte der Kultur und bestimmter ideeller Werte sind Europäer und Amerikaner einander doch ähnlicher als anderen. Gerade die Reibungen zeigen, wie nahe man sich steht. Ausserdem stehen sie beide vor einer neuen Gefahr, der Bedrohung durch die Dschihadisten des islamischen Terrorismus.

Worum ging es im Irakkrieg? An diesem Krieg zeigten sich die Differenzen zwischen Amerika und Europa sehr deutlich.

Meiner Meinung nach ist der Irakkrieg ein Überbleibsel aus dem 20. Jahrhundert; er geht zurück auf den Golfkrieg von 1991, der nicht zu Ende geführt wurde. Wäre Bush der Ältere drangeblieben, wäre der neue Krieg nicht nötig gewesen. Offiziell wurden als Gründe die Massenvernichtungswaffen genannt, die Gefahr, dass diese in die Hände von Terroristen geraten, und die Aussicht, den Mittleren Osten zu transformieren, indem man Saddam stürzt und demokratische Rechte im Irak etabliert. Um Öl, wie oft behauptet wird, ging es nicht.

Nicht?

Wenn man sich die Studien ansieht, die gemacht worden sind, und die Debatten verfolgt, die geführt wurden, sieht man, dass von Öl kaum je die Rede ist. Bob Woodwards Recherchen für seine Bücher Bush at War und Plan of Attack belegen das – für die Leute, die den Krieg wollten, stand anderes im Zentrum.
(...)

Man hat oft den Eindruck, es gebe einen «Kampf der Kulturen» innerhalb der USA zwischen Demokraten und Republikanern und die Demokraten seien «europäischer» als die Republikaner. Wie würden Sie den Unterschied zwischen einer europäischen Weltsicht und der Weltsicht amerikanischer Demokraten charakterisieren?

Wir sollten die Unterschiede nicht dramatisieren. Generell tendieren die Demokraten mehr zu Multilateralismus und sind eher willig, Alliierte zu konsultieren, als die Republikaner. Doch was die Bereitschaft zur Gewaltanwendung angeht: Auch die Franzosen und die Deutschen haben den ersten Golfkrieg mit deutlichen Mehrheiten unterstützt, und Europäer waren dabei, als man sich 1999 trotz fehlender Resolution des UNO-Sicherheitsrats entschloss, im Kosovo einzugreifen.

Wie sollen die Europäer auf die amerikanische Aussenpolitik reagieren, was wäre klug?

Europa muss einen Weg finden, seine Identität und sein selbständiges Urteil zu bewahren, ohne sich einfach als Gegensatz zu den USA zu definieren. Und zwar zur Sicherung seiner eigenen Interessen. Ein Amerika, das sich von Europa entfernt, wird nicht sehr gut für Europa sein. Möglicherweise sorgt man sich in Zukunft nicht über zu viel Amerika, sondern über zu wenig. Der transnationale Terrorismus ist ein Problem, das nur gemeinsam gelöst werden kann.

Zwischen den USA und Europa gibt es Differenzen in verschiedenen Bereichen. Zwar sind die USA die einzige Weltmacht, aber in manchen globalen Fragen wie dem internationalen Recht, den Menschenrechten oder dem Umweltschutz ist Europa voran. Den USA scheint das nicht so wichtig.

Das variiert je nach Gegenstand. Was beispielsweise das Kyoto-Protokoll betrifft, so waren auch viele Ökonomen hier an der Kennedy School der Meinung, es sei ein sehr schlechtes Instrument, um dem globalen Klimawandel zu begegnen, und zwar sowohl für arme Länder wie auch für die USA. Was die Bush-Regierung falsch machte, war, dass sie einfach verkündete, Kyoto sei gestorben, statt Alternativen vorzuschlagen und zu verhandeln. Beim Internationalen Strafgerichtshof waren die Amerikaner wegen ihres einzigartigen internationalen Engagements besorgt, übereifrige Ankläger würden aus üblen Motiven versuchen, amerikanische Politiker zu blossen Propagandazwecken vor Gericht zu bringen. Man fürchtete den Missbrauch. Doch anstatt den Internationalen Strafgerichtshof zu attackieren in der Weise, wie das die Bush-Regierung getan hat, hätte sie zustimmen und abwarten sollen, wie sich das entwickelt, und erst reagieren, wenn solche Fälle aufgetreten wären. Man hätte so den Zorn und die Frustration vermieden, mit welchem auf die Entscheidung reagiert wurde.
(...)

Sie haben den Ausdruck «soft power» geprägt in Ihrem 1990 erschienenen Buch Bound to Lead, um diese Art Politik der Rücksichtnahme zu beschreiben. Was bedeutet «soft power»?

Es gibt verschiedene Wege, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Man kann sie mit Drohungen unter Druck setzen, man kann sie mit Bestechungen dazu bewegen, oder man kann sie dazu bringen, zu tun, was man will, indem man attraktiv ist – eben durch «soft power». Amerika hatte über eine lange Zeit viel «soft power». Denken Sie an die Bedeutung von Franklin Roosevelts vier Freiheiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, an die jungen Leute hinter dem Eisernen Vorhang, die amerikanische Musik hörten und Nachrichten auf dem Sender Freies Europa. Oder an die chinesischen Studenten, die ihre Proteste auf dem Tiananmen-Platz mit einer Nachbildung der amerikanischen Freiheitsstatue symbolisierten, an die befreiten Afghanen im Jahr 2001, die eine Kopie der Bill of Rights verlangten, an die jungen Iraner, die verbotene amerikanische Videos und Satellitenfernsehen schauen. Das sind Beispiele von Amerikas «soft power». Verführung ist wirkungsvoller als Zwang, und viele Werte wie Demokratie, Menschenrechte oder individuelle Entfaltungsmöglichkeiten sind enorm verführerisch.

Die Bush-Regierung hat viel getan, die «soft power» der USA zu zerstören. Gab es vergleichbare Phasen zuvor?

Es hat vier Perioden gegeben, in denen die Attraktivität der USA in Europa stark gelitten hat – 1956 nach der Suezkrise, während der Antiatombewegung in den fünfziger und sechziger Jahren, während des Vietnamkrieges in den sechziger und siebziger Jahren und während der Nachrüstung in Deutschland in den frühen Achtzigern. Vor allem während des Vietnamkrieges waren die Amerikaner sehr unpopulär. Damals verloren wir viel von unserer «soft power». Doch innert eines Jahrzehnts gewannen wir sie wieder zurück. Teils, weil wir unsere Strategie in Indochina änderten, teils, weil wir den Schwerpunkt auf andere Themen legten, wie Jimmy Carter auf die Menschenrechte. Es steht ausser Frage, dass wir verlorene «soft power» zurückgewinnen können. Doch es ist frustrierend zu sehen, wie Politiker sie unnötig verspielen und uns alle den Preis dafür zahlen lassen. Vor allem in der arabischen Welt hat der Antiamerikanismus neue Höhen erreicht. Der Antiamerikanismus in der islamischen Welt ist besorgniserregend. Das Scheitern arabischer Länder, den Weg in die Modernität zu finden, kann nicht allein den Wandel in der Attraktivität der USA erklären. Er hat auch mit der unpopulären Politik im Irak und mit dem Israel-Palästina-Konflikt zu tun.

Was sollten denn die USA in der Palästinafrage tun – den Weltpolizisten spielen? <

Die USA können nicht der Polizist sein in der Palästinafrage. Doch sie können vermitteln, wie das Clinton sehr gut gemacht hat. Das hat die Sache vorwärts gebracht. Bush ist darin viel schlechter.

Welches sind die Hauptprobleme im Mittleren Osten?

Die Hälfte aller Länder der Welt sind Demokratien, aber keines der 22 arabischen Länder ist eine Demokratie. Das Wirtschaftswachstum ist schwach, schätzungsweise die Hälfte aller Frauen sind Analphabetinnen, und die Region ist schlecht in die Weltwirtschaft integriert. Mit einer Gesamtbevölkerung von über 300 Millionen exportieren die arabischen Staaten, Öl und Gas eingeschlossen, weniger als Finnland. 45 Prozent der Bevölkerung sind unter 14 Jahre alt, aber es gibt keine Möglichkeiten für junge Leute, sinnvolle Arbeit zu finden. Gleichzeitig gibt es die Mittel der modernen Kommunikation, die für antiamerikanische Propaganda genutzt werden.

Welche Politik sollten die USA angesichts dieser immensen Probleme verfolgen?

Sicher ist, dass eine Demokratie nicht mit Gewalt installiert werden kann. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einer Politik, die offen ist gegenüber der regionalen Wirtschaft, bürokratische Kontrollen reduziert, das Wirtschaftswachstum beschleunigt, das Erziehungssystem verbessert und graduelle politische Veränderungen der Art ermuntert, wie sie in kleinen Ländern wie Bahrein, Oman, Kuwait und Marokko bereits stattfinden.

Das bedeutet einen Strategiewechsel gegenüber früher.

Während des Kalten Krieges haben die USA die Stabilität in der Region gefördert. Ziel war, den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen, die Ölversorgung für die Weltwirtschaft zu garantieren und Sicherheit für Israel zu gewährleisten. Während der Reagan-Regierung etwa wurde Saddam Hussein unterstützt als Gegengewicht zum islamischen Regime, das im Iran den Schah gestürzt hatte, einen Verbündeten Amerikas.

Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihren ehemaligen Feinden Deutschland und Japan beim Wiederaufbau geholfen – zwei Ländern, die heute Wirtschaftsgiganten und Konkurrenten der USA sind. Lässt sich so etwas im Mittleren Osten wiederholen?

Deutschland und Japan waren Nachkriegs-Erfolgsgeschichten, aber beides waren relativ homogene Gesellschaften mit einer starken Mittelschicht und ohne organisierten Widerstand gegen die amerikanische Besatzung. Es brauchte allerdings auch einige Jahre, um demokratische Institutionen zu schaffen nach einem langen Krieg. Man kann daraus keine Lehren ziehen für den Wiederaufbau im Irak; da haben die Neokonservativen falsche Parallelen gezogen.

Um Amerikas «soft power» ist es derzeit auch im Westen nicht zum Besten bestellt. Hockey-Fans in Montreal buhen zur amerikanischen Landeshymne, Schweizer Gymnasiasten wollen zum Austausch nicht mehr in die USA, und ein Drittel aller Deutschen unter dreissig glauben gemäss einer Meinungsumfrage vom vergangenen Jahr, die amerikanische Regierung selber stecke hinter den Anschlägen vom 11. September. Was sind die Gründe für diesen furiosen europäischen Antiamerikanismus?

Man muss unterscheiden zwischen der Opposition gegen amerikanische Politik und der generellen Opposition gegen die USA als solche. Wenn wir von Antiamerikanismus reden, reden wir von letzterem. Dieser Antiamerikanismus hat zunächst einen strukturellen Grund: Die USA sind eine Hypermacht, und die Ungleichheit der Machtverteilung bringt eine Mischung von Bewunderung, Neid und Abneigung hervor. Dann aber gibt es einen Antiamerikanismus im Sinne einer tieferen Ablehnung der amerikanischen Gesellschaft, ihrer Werte und ihrer Kultur. Er geht zurück auf die ersten Tage der Republik, als Europäer Amerika in ein Symbol ihrer eigenen Kulturkriege verwandelten. Schon im 18. Jahrhundert haben Europäer absurderweise argumentiert, die hohe Luftfeuchtigkeit in der Neuen Welt führe zu degenerierten Formen des Lebens. Später hat die europäische Linke Amerika als ein Symbol der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiterklasse betrachtet, während die Rechte es seiner rassischen Unreinheit wegen als degeneriert ansah. Hannah Arendt hat bereits vor einem halben Jahrhundert bemerkt, dass der Prozess, den die Leute als «Amerikanisierung» bezeichnen und beklagen, in Wirklichkeit die Entwicklung der modernen Welt mit all ihren Verwirrungen und Verwicklungen ist.
(...)
Die amerikanische Aussenpolitik ist ein verwirrlicher Prozess aus Gründen, die tief in unserer politischen Kultur und in unseren Institutionen verankert sind. Die Verfassung basiert auf einer liberalen Sicht des 18. Jahrhunderts, die sagt, dass die Macht am besten kontrolliert ist, wenn sie fragmentiert ist – eben die «checks and balances». Was die Aussenpolitik betrifft, lädt sie den Präsidenten und den Kongress geradezu ein, um die Kontrolle zu kämpfen. Andererseits produziert dieses System von «checks and balances» durchaus Stabilität in anderen Bereichen, etwa um Allianzen aufrechtzuerhalten wie die NATO. Ich denke, unter dem Strich ist es gut, weil es das vermag, selbst wenn es schlecht geeignet ist, ein Empire zu führen.

Was sind denn die USA eigentlich – ein richtiges Imperium sind sie ja offensichtlich nicht?

Es ist ein Fehler, die Vorrangstellung Amerikas mit der Macht eines Empires zu verwechseln. Was die klassischen zwischenstaatlichen militärischen Beziehungen betrifft, sind die Vereinigten Staaten tatsächlich die einzige Supermacht mit einer Armee von globaler Reichweite, und es ist sinnvoll, hier von Unipolarität oder Hegemonie zu sprechen. Was zwischenstaatliche ökonomische Beziehungen angeht, ist die Verteilung der Macht multipolar. Die USA können sich in der Handels- und Finanzpolitik oder in der Antitrustgesetzgebung nicht gegen das Einverständnis der Europäischen Union, Japans, Chinas und anderer durchsetzen. Von Hegemonie kann hier nicht die Rede sein. Und in transnationalen Bereichen wie Terrorismus, internationales Verbrechen, Klimawandel und die Verbreitung infektiöser Krankheiten ist die Macht breit verteilt zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, dies eine unipolare Welt oder ein amerikanisches Empire zu nennen.

Manche fürchten dennoch, die USA würden zum Imperium, andere, auch Linke und Liberale, hoffen das geradezu.

Üblicherweise reden wir von Imperium, wenn eine Macht politische Kontrolle ausüben kann. Aber die Vereinigten Staaten konnten im Frühjahr 2003 nicht einmal Mexiko oder Chile überzeugen, in der UNO für sie zu stimmen. Die Briten hatten diese Probleme mit Indien oder Kenya nicht. Die USA sind zwar militärisch stärker als Grossbritannien auf dem Höhepunkt seiner Macht, haben aber weniger Einfluss auf das innere Geschehen anderer Länder, als es das britische Empire hatte, das zu seiner Glanzzeit ein Viertel des Globus beherrschte. Überdies finden die Amerikaner die Idee, ein Imperium zu haben, nicht sehr attraktiv.

Warum das?

Die Amerikaner sind nicht besonders gute Imperialisten. Sie sind ungeduldig, und sie sind nicht wie die Briten willens, in fremden Ländern und unwirtlichen Weltgegenden lange nach dem Rechten zu sehen.
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Bezüglich vieler heutiger Schlüsselfragen wie internationale finanzielle Stabilität, Drogenschmuggel oder globale Klimaveränderung kann militärische Macht nichts ausrichten, ja sie kann sogar kontraproduktiv sein. Isolationisten, die denken, wir blieben vom Terrorismus verschont, wenn wir uns aus der Welt zurückzögen, begreifen die Realitäten des globalen Informationszeitalters nicht. Die neuen Unilateralisten dagegen, die uns drängen, ohne Scham von unserer Macht Gebrauch zu machen im Sinne eines selbstdefinierten Weltinteresses, offerieren ein Rezept zur Untergrabung unserer «soft power» und ermuntern andere, die Koalitionen zu schmieden, die schliesslich auch unsere «hard power» untergraben werden.

Also handelt Amerika im eigenen Interesse multilateral?

Multilateralismus hilft uns, unsere Vorherrschaft zu bewahren, weil es den Anreiz vermindert, Allianzen gegen uns zu schmieden. Die Tatsache, dass unsere Verbündeten ihre Bedenken frei äussern konnten, erklärt, warum die amerikanischen Bündnisse so lange über die Bedrohungen des Kalten Krieges hinaus gehalten haben. Grossbritannien im 19. Jahrhundert und Amerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärkten ihre Macht, indem sie liberale internationale ökonomische Regeln und Institutionen schufen, die mit ihren eigenen demokratischen Strukturen übereinstimmten – Freihandel und Goldstandard im Falle Grossbritanniens, Internationaler Währungsfonds, Welthandelsorganisation und andere Institutionen im Falle der Vereinigten Staaten.
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Der Anschlag vom 11. September hat die Welt schockiert, die Amerikaner zudem aber auch erstaunt. Sie wunderten sich, dass es Leute gibt, von denen sie gehasst werden. Europäer waren darüber nicht so erstaunt, aus verschiedenen Gründen.

Die Amerikaner glauben an ihre Ideologie. Sie glauben, dass die USA für Freiheit und Menschenrechte stehen. Sie finden es schwer verständlich, dass andere das in Zweifel ziehen. Sie nehmen manchmal an, dass gute Absichten dasselbe sind wie gutes Benehmen. Offensichtlich ist das nicht der Fall. Aber selbst dort, wo die Absichten und das Benehmen Amerikas integer sind, wird das von einer Organisation wie al-Qaida nicht so wahrgenommen. Bin Laden plante die Attacke auf das World Trade Center zu einem Zeitpunkt, als der Friedensprozess im Nahen Osten ernsthafte Fortschritte machte. Das spielte für ihn keine Rolle.

Es gibt Leute, die sehen heute in den USA mehr ein Problem für die Welt als eine Lösung. Wie würde die Welt aussehen mit schwächeren USA?

Es gäbe weniger Sicherheit. In Ostasien hat die amerikanische Präsenz geholfen, ein Gleichgewicht zwischen Japan und China aufrechtzuerhalten. In Europa gibt es jetzt weniger Grund zur Besorgnis als auch schon, doch die amerikanische Präsenz war eine stabilisierende Kraft. Sie ermöglichte es Europa, seine Integration in einem Rahmenwerk internationaler Sicherheit voranzubringen. Wenn sich die USA sich selbst zuwenden würden, wäre das schlechter für die Welt. Es wäre falsch, aus dem Irakkrieg diese Lehre zu ziehen.

Wie lange werden die USA noch dominant sein?

Militärisch, nehme ich an, für die nächsten paar Jahrzehnte. Ökonomisch sind sie es bereits heute nicht mehr, Europa ist ein gleichwertiges Gegengewicht.

* Joseph S. Nye, geboren 1937 in South Orange, New Jersey, ist Dekan der John F. Kennedy School of Government der Universität Harvard. Die Ausbildungsstätte für Führungskräfte im öffentlichen Dienst bietet Studiengänge in verschiedenen akademischen Disziplinen an wie Ökonomie, politische Wissenschaft, Soziologie, Recht, Staatspolitik und Geschichte. Ausserdem offeriert sie Kurse für Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft. Die Kennedy School ist parteiungebunden; vier der derzeitigen Absolventen kandidieren für den Kongress, zwei davon für die Republikaner, zwei für die Demokraten. Von den derzeit 828 Studenten für einen Magisterabschluss sind 41 Prozent Ausländer. Joseph S. Nye war Vorsitzender des National Intelligence Council und Stellvertreter des Verteidigungsministers für Fragen der internationalen Sicherheit in der Clinton-Regierung. Er hat längere Zeit in Ostafrika, Zentralamerika und Europa gelebt und unter anderem in Genf gelehrt. Als überzeugter Multilateralist und Verteidiger des transatlantischen Bündnisses kommt Joseph S. Nye in den führenden amerikanischen Tageszeitungen und in politischen Zeitschriften wie «Foreign Affairs» regelmässig zu Wort. Er ist Autor mehrerer Bücher über internationale Angelegenheiten und amerikanische Politik, darunter Bound to Lead: The Changing Nature of American Power (1990), The Paradox of American Power: Why the World’s Only Superpower Can’t Go It Alone (2002) und Soft Power (2004). Im Herbst 2004 wird sein erstes belletristisches Werk erscheinen, der politische Thriller The Power Game. (haf.)



Quelle: du (Internet: www.dumag.ch/)

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