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USA brauchen neuen Columbus

Experten sehen vermehrte Anzeichen für eine Systemkrise

Von Reiner Oschmann *

Nicht nur der bekannte britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash sieht einen dramatischen Verfall US-amerikanischer Macht.

Washingtons jüngste Beschwerde über den deutschen Exportüberschuss ist mehrfach interessant: Die Klage des Finanzministeriums markiert den Versuch einer Gegenoffensive in einem Moment, da der Weltmacht die Spionagevorwürfe aus aller Welt um die Ohren fliegen. Sie nährt die Vermutung, dass Washington Deutschland inzwischen für einen wirtschaftspolitischen Schurken wie China hält. Vor allem jedoch ist das Lamento weiteres Indiz für die Systemkrise, in der – mit »government shutdown«, NSA-Skandal oder zunehmender Unregierbarkeit des Landes – eine wachsende Zahl von Beobachtern die USA sehen.

Die Haushaltskrise um den Schuldenstreit, die bekanntlich mit einem Kompromiss in später Stunde wieder nur für Wochen aufgeschoben ist, wird auch in den USA als Beleg für drei allgemeine Krisen gewertet: Die Wirtschaft leidet an Dynamikschwund, die Kluft zwischen arm und reich wird auch zu Lasten der breiten Mittelschicht immer absurder, und das politische System gerät mit dem Resultat der Selbstblockade aus den Fugen.

Der Publizist Gary Younge sprach in Verbindung mit dem Last-Minute-Kompromiss zur Vertagung des Haushaltsstreits von »einer Lähmung der US-Politik in chronischer Funktionsstörung«. Aktuell habe die rechte Tea-Party-Fraktion der Republikaner, vor der notdürftigen Einigung, ihre Opposition »auf eine maßvolle Bereitstellung dessen gerichtet, was in den meisten westlichen Länder selbstverständlich ist: eine Krankenversicherung.«

Andere Experten registrieren die Riesenverschuldung der USA. Laut »Wall Street Journal« hält China derzeit »US-Staatsanleihen im Wert von 1,3 Billionen Dollar, dicht gefolgt von Japan mit 1,1 Billionen.« Gegenüber der Bundesrepublik stehen die USA mit 56 Milliarden Dollar in der Kreide. Die angesehene Zeitschrift »The New Yorker« griff eine neue Studie der OECD auf. Die in Paris ansässige Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die 33 entwickelte Mitgliedsstaaten zählt, untersuchte Fähigkeiten, die weniger für den Augenblick als für die Zukunft entscheiden. Sie kam für die USA zu alarmierenden Ergebnissen.

Unter dem Titel »Amerikas Niedergang in drei Tabellen« präsentierte der »New Yorker« OECD-Befunde zu Analysen mit 16- bis 24-Jährigen in den Mitgliedsstaaten: In der Kategorie Problemlösungsfähigkeit, wo Südkorea, Finnland und Schweden die ersten Plätze belegten, kamen die USA auf Rang 19. Bei Lesefähigkeit, wo Finnland vorn liegt, belegten die Vereinigten Staaten den vorletzten Platz (vor Italien), und in Sachen Rechenfähigkeit, mit Finnland, Niederlande und Südkorea auf dem Treppchen, wurden die USA Letzter.

Solche Moment- wie Langzeitaufnahmen veranlassten den britischen Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash nach Rückkehr von seinem jüngsten Amerika-Aufenthalt zur Diagnose, er erlebe die USA »als ein Land, das in einem solchen Maße mit Selbstbeschädigung beschäftigt ist, dass jeder Freund, beobachtete er dies bei einem Teenager, sofort nach dem Arzt rufen würde«. Der Verfall amerikanischer Macht vollziehe sich »rascher, als die meisten von uns vorhersagten, während sich Washingtons Politiker wie brünstige Hirsche mit verhakten Geweihen aufführen«.

Sein Fazit: Die USA bräuchten ein umgekehrtes Columbus-Erlebnis. Während der Seefahrer vor über 500 Jahren die Potenzen Amerikas einer staunenden Welt übermittelt habe, müsse »die Welt heute nicht länger Amerika entdecken, Amerika vielmehr dringend die Meinung der Welt über Amerika zur Kenntnis nehmen«.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 6. November 2013


»Ich bin gut im Töten«

Obama kündigt erneut Guantanamo-Schließung an

Von Olaf Standke **


Gründe für den internationalen Popularitätsverlust Barack Obamas gibt es einige, der vom USA-Präsidenten und -Oberbefehlshaber befohlene massive Einsatz bewaffneter Drohnen steht dabei ganz weit vorn. Gerade erst sorgte die Tötung von Taliban-Führer Hakimullah Mehsud für scharfe Proteste in Islamabad und Kabul; Washingtons Botschafter wurde einbestellt, weil der unbemannte Luftangriff auch ein Schlag gegen Pakistans Souveränität und die geplanten Friedensgespräche mit den Taliban gewesen sei. Nun sorgt ein neues Buch (»Double Down« von Mark Halperin und John Heilemann) für Aufregung, in dem die Autoren den Friedensnobelpreisträger mit einem ungeheuerlichen Satz aus einer Beratung über den Drohnenkrieg zitieren: »Ich bin wirklich gut im Töten von Leuten.«

Das »Büro für Investigativen Journalismus« in London schätzt, dass seit 2004 bei 376 erfassten CIA-Drohnenangriffen bis zu 3600 Menschen getötet worden sind, Tendenz unter Obama stark steigend. Amnesty International spricht von einer »Lizenz zum Töten«, die das Völkerrecht und Menschenrechtsstandards ignoriere. Der Präsident hatte die Drohnenangriffe im Mai erstmals offiziell bestätigt und als legal verteidigt. Hoffnungen von Menschenrechtlern, dass das Programm vom Geheimdienst zum Pentagon gehen und damit auch mehr Transparenz entstehen würde, erfüllten sich nicht. Dafür wurde jetzt bekannt, dass der Rüstungskonzern Lockheed Martin inzwischen sogar an einem unbemannten Militärflugzeug arbeitet, das von allein auf sechsfache Schallgeschwindigkeit beschleunigen kann.

Ein weitere Schandfleck auf Obamas Weste ist das berüchtigte Gefangenenlager Guantanamo aus der Bush-Ära, das er eigentlich unmittelbar nach seinem Amtsantritt schließen wollte. Genau fünf Jahre nach der ersten Wahl erneuerte er nun seine Ankündigung. Noch immer werden dort im juristischen Niemandsland 164 Menschen aus 23 Ländern festgehalten. Nach Angaben des »Miami Herald« befinden sich z.Z. 14 Häftlinge im Hungerstreik. Laut einer soeben vorgelegten Studie hätten in Gefängnissen von CIA und Pentagon Militär und Geheimdienst Ärzte wie Pfleger zu Komplizen bei der Entwicklung von Foltermethoden sowie bei der »grausamen, unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung« von Häftlingen gemacht, auch in Guantanamo. Obama will jetzt so viele Insassen wie möglich an andere Länder ausliefern und das Lager aufgeben. Menschenrechtler kritisieren, dass es allerdings beim aktuellen Tempo der Transfers noch in 40 Jahren geöffnet sein würde.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 6. November 2013


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