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Obama: "Diese stetige Flamme aus Gewissen und Mut" / Abu-Jamal: "Es hat sich nichts geändert"

Im Wortlaut: Die Rede Obamas zum 50. Jahrestag des Marschs auf Washington / Und ein kritischer Kommentar von Mumia Abu-Jamal


Im Folgenden dokumentieren wir zunächst die Rede, die Präsident Barack Obama anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Marschs auf Washington am 28. August 2013 vor dem Lincoln Memorial in Washington hielt. Die Übersetzung besorgte der Amerika Dienst.
Im Anschluss dazu gibt es einen Kommentar von Mumia Abu-Jamal, der seit 1982 wegen angeblichen Mordes in Haft ist. Er war zum Tode verurteilt worden und saß fast 30 Jahre in der Todeszelle. 2011 wurde die Todesstrafe in eine lebenslange Haft umgewandelt. In der ganzen Welt gibt es Solidaritätsgruppen,welche die Freilassung Mumias fordern.



Rede des Präsidenten

Der Familie King, die so viele Opfer gebracht und so viele Menschen inspiriert hat. Präsident Clinton, Präsident Carter, Vizepräsident Biden, Jill, liebe Mitbürger.

Vor fünf Jahrzehnten kamen Amerikaner an diesen würdigen Ort um ein Versprechen einzufordern, das bei der Gründung unseres Landes gegeben wurde. „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen worden sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“

1963, beinahe 200 Jahre nachdem diese Worte zu Papier gebracht wurden, ein ganzes Jahrhundert, nachdem ein großer Krieg gekämpft und die Abschaffung der Sklaverei erklärt wurde, blieben diese Wahrheiten unerfüllt. Und so kamen sie zu Tausenden aus jedem Winkel unseres Landes, Frauen und Männer, jung und alt, Schwarze, die sich nach Freiheit sehnten, und Weiße, die nicht länger hinnehmen konnten, selbst frei zu sein, während andere unterdrückt wurden.

Aus dem ganzen Land schickten die Gemeinden sie mit etwas Essen und einem Gebet auf den Weg. Mitten in der Nacht gingen in Harlem die Bewohner ganzer Wohnblocks auf die Straße, um ihnen alles Gute zu wünschen. Mit dem wenigen Geld, das sie sich vom Munde abgespart hatten, kauften sich einige Fahrkarten und stiegen in Busse, auch wenn sie nicht immer dort sitzen konnten, wo sie sitzen wollten. Diejenigen, die weniger Geld hatten, fuhren per Anhalter oder gingen zu Fuß. Es waren Näherinnen und Stahlarbeiter, Studenten und Lehrer, Dienstmädchen und Schaffner. Sie teilten ihre einfachen Mahlzeiten und kampierten gemeinsam auf Fußböden. Und dann, an einem heißen Sommertag, versammelten sie sich hier, in unserer Hauptstadt, im Schatten des Großen Sklavenbefreiers, um über Ungerechtigkeiten zu berichten, ihre Regierung um rechtlichen Schutz zu ersuchen und um Amerikas lange schlummerndes Gewissen zu erwecken.

Aus gutem Grund hat sich die flammende Rede von Martin Luther King jr. an jenem Tag besonders in unsere Erinnerung eingeprägt, in der er den stillen Hoffnungen von Millionen eine mächtige Stimme verlieh, in der er Unterdrückten und Unterdrückern einen Pfad der Erlösung eröffnete. Seine Worte sind historisch und von einer Macht und Weitsicht, die in unserer Zeit einzigartig sind.

Aber wir täten gut daran, uns zu erinnern, dass dieser Tag auch den einfachen Menschen gehörte, deren Namen nie in den Geschichtsbüchern auftauchten oder im Fernsehen genannt wurden. Viele hatten Schulen besucht, in denen Rassentrennung praktiziert wurde, wo sie beim Mittagessen an separaten Tischen sitzen mussten. Sie lebten in Städten, in denen sie nicht wählen konnten oder wo ihre Stimmen nicht zählten. Sie waren verliebte Paare, die nicht heiraten durften, Soldaten, die im Ausland für die Freiheiten kämpften, die ihnen zu Hause verwehrt blieben. Sie hatten gesehen, wie ihre Liebsten geschlagen und Kinder mit Wasserschläuchen bespritzt wurden, und sie hatten allen Grund, wütend zu sein oder verbittert zu resignieren.

Und doch entschieden sie sich für einen anderen Weg. Im Angesicht des Hasses beteten sie für ihre Peiniger. Im Angesicht der Gewalt erhoben sie sich und veranstalteten Sitzstreiks, bei denen sie die moralische Kraft der Gewaltfreiheit nutzten. Bereitwillig gingen sie ins Gefängnis, um gegen ungerechte Gesetze zu protestieren, und in ihren Zellen ertönte der Gesang von Freiheitsliedern. Ein Leben voller Demütigungen hatte sie gelehrt, dass kein Mensch einem anderen die Würde und Anmut nehmen kann, die uns von Gott gegeben ist. Sie hatten durch ihre schweren Erfahrungen gelernt, was Frederick Douglass einst gelehrt hat – dass Freiheit nicht gegeben ist, sondern errungen werden muss, durch Kampf und Disziplin, Beharrlichkeit und Glauben.

Das war der Geist, den sie an jenem Tag hierher trugen. Das war der Geist, den junge Menschen wie John Lewis zu diesem Tag beitrugen. Das war der Geist, den sie mit sich trugen wie eine Fackel, zurück in ihre Städte und Viertel. Diese stetige Flamme aus Gewissen und Mut sollte ihnen bei den bevorstehenden Kampagnen Kraft geben – bei Boykotten und Aktionen zur Registrierung von Wählern, bei kleineren Demonstrationen, weit entfernt vom Scheinwerferlicht, nach dem schmerzlichen Verlust von vier jungen Mädchen in Birmingham und dem Gemetzel auf der Edmund-Pettus-Brücke und durch den Schmerz, den Dallas, Kalifornien und Memphis verursachten. Trotz aller Rückschläge, aller Zweifel und allen Leids, diese Flamme der Gerechtigkeit flackerte weiter, ohne je vollständig zu erlöschen.

Und weil sie weitermarschierten, veränderte sich Amerika. Weil sie marschierten, wurde das Bürgerrechtsgesetz verabschiedet. Weil sie marschierten, wurde ein Wahlrechtsgesetz verabschiedet. Weil sie marschierten, öffneten sich Türen zu Chancen und Bildung, so dass ihre Töchter und Söhne sich endlich ein Leben für sich vorstellen konnten, in dem sie etwas anderes taten, als für andere zu waschen oder ihnen die Schuhe zu putzen. Weil sie marschierten, veränderten sich Stadträte, die Legislative in den Bundesstaaten, der Kongress – und ja, irgendwann veränderte sich auch das Weiße Haus.

Weil sie marschierten, wurde Amerika freier und gerechter – nicht nur für Afroamerikaner, sondern auch für Frauen und Lateinamerikaner, Asiaten und amerikanische Ureinwohner, für Katholiken, Juden und Muslime, für Homosexuelle und für Amerikaner mit Behinderungen. Amerika veränderte sich, für Sie und für mich. Und die ganze Welt zog Kraft aus diesem Beispiel, seien es die jungen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang, die irgendwann die Mauer einreißen sollten, oder die jungen Menschen in Südafrika, die eines Tages der Geißel der Apartheid ein Ende setzen sollten.

Das sind die Erfolge, die sie errungen haben, mit ihrem eisernem Willen und der Hoffnung in ihren Herzen. Das ist die Veränderung, der sie mit jedem Schritt nach vorn in ihren abgetragenen Schuhen näher kamen. Das ist es, was Millionen Amerikaner und ich ihnen zu verdanken haben, den Dienstmädchen, Arbeitern, Schaffnern, Sekretärinnen, den Menschen, die Firmen hätten leiten können, wenn man ihnen die Chance gegeben hätte, den weißen Studenten, die sich Gefahren aussetzten, obwohl sie es nicht mussten, den japanischen Amerikanern, die sich an ihre Internierung erinnerten, den jüdischen Amerikanern, die den Holocaust überlebt hatten, den Menschen, die hätten aufgeben können, aber weitermachten, wohlwissend: „Die Nacht lang währet das Weinen, und am Morgen ist Jubel da.“

Auf dem Schlachtfeld für die Gerechtigkeit befreiten uns Männer und Frauen ohne Rang, Wohlstand, Titel oder Ruhm in einer Weise, die unsere Kinder heute für selbstverständlich halten, da in diesem großartigen Land Menschen aller Hautfarben und Glaubensrichtungen zusammen leben, lernen, gehen, kämpfen, einander lieben und sich gegenseitig nach ihrem Charakter beurteilen.

Die Größe dieses Fortschritts zu leugnen – so zu tun, als hätte sich nur wenig geändert, was manche tun – würde den Mut und die Opfer derjenigen schmälern, die in jenen Jahren den Preis für ihren Marsch bezahlt haben. Medgar Evers, James Chaney, Andrew Goodman, Michael Schwerner, Martin Luther King jr. – sie sind nicht umsonst gestorben. Ihr Sieg war groß.

Aber wir würden diese Helden ebenfalls entehren, wenn wir den Eindruck vermittelten, dass die Arbeit unserer Nation bereits abgeschlossen ist. Der Bogen des moralischen Universums mag sich der Gerechtigkeit zuneigen, aber er tut das nicht von allein. Die Errungenschaften dieses Landes zu sichern erfordert permanente Wachsamkeit, keine Selbstzufriedenheit. Ob durch den Angriff auf diejenigen, die neue Hemmnisse für Wähler schaffen, oder dadurch, sicherzustellen, dass die verschiedenen Stufen des Justizsystems gleichermaßen für alle gelten und das Strafrecht nicht nur als direkte Verbindung von unterfinanzierten Schulen in überfüllte Gefängnisse fungiert, es erfordert Wachsamkeit.

Und wir werden immer wieder Rückschläge erleben. Aber wir werden diese Kämpfe gewinnen. Dieses Land hat sich zu sehr verändert. Die Menschen, die – parteiunabhängig – guten Willens sind, sind viel zahlreicher als jene, die nicht willens sind, den Lauf der Geschichte zu verändern.

Doch in mancherlei Hinsicht haben die Sicherung der Bürgerrechte und des Wahlrechts und die Abschaffung der legalen Diskriminierung, hat die Bedeutung dieser Errungenschaften ein zweites Ziel des Marsches überlagert. Denn die Frauen und Männer, die sich hier vor 50 Jahren versammelten, waren nicht auf der Suche nach irgendeinem abstrakten Ideal. Sie suchten Arbeit und Gerechtigkeit – nicht nur eine Gesellschaft ohne Unterdrückung, sondern eine Gesellschaft mit wirtschaftlichen Chancen.

Denn was hat ein Mensch davon, würde Martin Luther King fragen, mit anderen an einem Tisch zu sitzen, wenn er sich die Mahlzeit nicht leisten kann? Dieser Gedanke – dass Freiheit mit dem Auskommen verbunden ist, dass das Streben nach Glück eine würdevolle Arbeit voraussetzt und die Fähigkeiten, die man benötigt, um Arbeit finden zu können, eine angemessene Bezahlung, ein gewisses Maß an materieller Sicherheit – dieser Gedanke war nicht neu. Lincoln selbst verstand die Unabhängigkeitserklärung in diesem Sinne – als Versprechen, dass in absehbarer Zeit „die Last von den Schultern aller Menschen genommen werde und alle gleiche Chancen haben.“

Und Martin Luther King jr. erklärte, dass die Ziele der Afro-Amerikaner denen anderer arbeitender Menschen auf der ganzen Welt glichen. „Angemessene Löhne, gerechte Arbeitsbedingungen, bewohnbare Häuser, eine Altersvorsorge, Gesundheits- und Sozialleistungen, Bedingungen, unter denen Familien wachsen und ihre Kinder Bildung und sie alle in ihren Gemeinden Achtung genießen können.“

Was King beschrieb, ist der Traum eines jeden Amerikaners. Das ist es, was jahrhundertelang Menschen in unser Land gelockt hat. Und auf dieser zweiten Ebene – der Ebene der wirtschaftlichen Chancen, der Möglichkeit, es im Leben durch ehrliche Arbeit zu etwas zu bringen – wurden die Ziele von vor 50 Jahren am weitesten verfehlt.

Es stimmt, es gab Erfolge im schwarzen Amerika, die vor einem halben Jahrhundert undenkbar gewesen wären. Aber wie schon angesprochen, ist die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen nach wie vor beinahe doppelt so hoch wie unter Weißen, und Lateinamerikaner liegen ganz dicht dahinter. Die Wohlstandskluft zwischen den ethnischen Gruppen hat sich nicht verkleinert, sie ist gewachsen. Und wie Präsident Clinton angemerkt hat, hat sich die Lage aller arbeitenden Amerikaner, egal welcher Hautfarbe, verschlechtert, was den Traum von Martin Luther King jr. noch schwerer fassbar macht.

Seit mehr als einem Jahrzehnt stagnieren die Löhne und Gehälter der abhängig Beschäftigten, und zwar trotz stark ansteigender Unternehmensgewinne und extremer Gehaltszuwächse bei einigen wenigen Glücklichen. Die Ungleichheit ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gestiegen. Die gesellschaftlichen Aufstiegschancen sind gesunken. In zu vielen Gemeinden überall im Land, in den Städten, Vororten und in ländlichen Gegenden, legt sich der Schatten der Armut wie ein düsterer Schleier über die Jugend, ihr Leben ist zu einem Gefängnis aus schlechten Schulen, mangelnden Chancen, unzureichender Gesundheitsversorgung und anhaltender Gewalt geworden.

An diesem Jahrestag müssen wir uns also daran erinnern, dass der Fortschritt für die Menschen, die vor 50 Jahren marschierten, nicht nur daran gemessen werden konnte, wie viele Schwarze Millionäre werden würden. Es ging vielmehr darum, ob dieses Land allen Menschen, die bereit sind, schwer zu arbeiten, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglichen würde.

Es ging nie darum – und das ging es auch nie –, ob sich die Türen für einige wenige ein bisschen weiter öffnen würden. Es geht vielmehr um die Frage, ob unser Wirtschaftssystem allen eine faire Chance bietet – dem schwarzen Vermögensverwalter wie dem weißen Stahlarbeiter, dem eingewanderten Tellerwäscher wie dem in den Vereinigten Staaten geborenen Veteran. Diesen Kampf zu gewinnen, diesen Ruf zu beantworten – das bleibt unsere große, noch unvollendete Aufgabe.

Wir sollten uns nichts vormachen. Diese Aufgabe wird nicht einfach sein. Seit 1963 hat sich die Volkswirtschaft verändert. Technologie und globaler Wettbewerb haben zum Verlust der Arbeitsplätze geführt, die einst den Zugang zur Mittelschicht ermöglichten, und damit die Verhandlungsposition amerikanischer Arbeiter geschwächt. Und unsere Politik hat darunter gelitten. Die Interessen einiger weniger, jener, die von einem ungerechten Status quo profitieren, haben jeglichen Bemühungen der Regierung widerstanden, arbeitenden Familien faire Chancen zu bieten. Sie haben unzählige Lobbyisten und Meinungsmacher entsandt, die argumentierten, dass die Anhebung der Mindestlöhne, die Stärkung des Arbeitsrechts oder Steuern für die Reichen, die es sich leisten könnten, verfallende Schulen zu finanzieren, fundierten ökonomischen Prinzipien widersprächen. Uns wurde gesagt, dass die wachsende Ungleichheit der Preis für das Wirtschaftswachstum sei, ein Gradmesser für diesen freien Markt, dass Gier gut und Mitgefühl ineffektiv sei und dass jene ohne Arbeit oder Gesundheitsversorgung das nur sich selbst vorzuwerfen hätten.

Dann waren da noch die gewählten Vertreter, die es zweckdienlich fanden, die alte Politik der Spaltung fortzusetzen und alles tun, um die amerikanische Mittelschicht von einer großen Unwahrheit zu überzeugen – dass nämlich die Regierung für ihre wachsende wirtschaftliche Unsicherheit verantwortlich sei, dass irgendwelche Bürokraten ihnen ihr schwer verdientes Geld wegnähmen, um damit Sozialversicherungsbetrüger oder illegale Einwanderer zu finanzieren.

Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, müssen wir zugeben, dass es im Verlaufe von 50 Jahren Zeiten gab, in denen einige von uns, die auf Wandel gedrängt hatten, vom Weg abgekommen sind. Der Schmerz über die Morde löste selbstzerstörerische Tumulte aus. Legitime Trauer angesichts von Polizeigewalt wurde zu einer Ausrede für kriminelles Verhalten. Das Streben der Afroamerikaner nach Gleichberechtigung konnte in zwei Richtungen interpretiert werden – als die bahnbrechende Botschaft der Einigkeit und Brüderlichkeit von gegenseitigen Schuldzuweisungen übertönt wurde. Und der Ruf nach Chancengleichheit und der Chance für alle Amerikaner, durch Arbeit voranzukommen, wurde allzu oft als der reine Wunsch nach staatlicher Unterstützung abgetan – als könnten wir nichts dazu beitragen, uns selbst zu befreien, als wäre Armut eine Ausrede dafür, das eigene Kind nicht großzuziehen und die Bigotterie der anderen ein Grund dafür, sich selbst aufzugeben.

So kam der Fortschritt zum Stillstand. So wurde die Hoffnung zerstreut. So blieb unser Land gespalten. Aber die gute Nachricht ist, und das galt auch schon 1963, dass wir heute die Wahl haben. Wir können unseren gegenwärtigen Weg fortsetzen, auf dem diese großartige Demokratie ins Stocken geraten ist und unsere Kinder ein Leben akzeptieren müssen, in dem sie ihre Erwartungen zurückschrauben müssen und in dem die Politik ein Nullsummenspiel ist, in dem es einigen wenigen sehr gut geht, während sich Familien aller Ethnien abmühen, um ein Stück des immer kleiner werdenden wirtschaftlichen Kuchens zu erkämpfen – das ist der eine Weg. Oder wir können den Mut zu Wandel aufbringen.

Der Marsch auf Washington lehrt uns, dass wir nicht in den Fehlern der Vergangenheit verharren müssen, wir sind vielmehr die Herren unseres eigenen Schicksals. Aber er lehrt uns auch, dass das Versprechen dieser Nation nur erfüllt werden kann, wenn wir zusammenarbeiten. Wir müssen unser Mitgefühl und unser Zusammengehörigkeitsgefühl wiedererwecken, das Gewissensbündnis, das vor 50 Jahren an diesem Ort seinen Ausdruck fand.

Ich glaube, dass dieser Geist existiert, dass diese Wahrheitskraft in uns allen innewohnt. Ich sehe ihn, wenn eine weiße Mutter ihre eigene Tochter im Antlitz eines armen schwarzen Kindes erkennt. Ich sehe ihn, wenn ein schwarzer Jugendlicher seinen eigenen Großvater in den würdevollen Schritten eines älteren weißen Mannes entdeckt. Er ist da, wenn ein in den Vereinigten Staaten geborener Mitbürger das Streben eines Einwanderers anerkennt, wenn ein ethnisch gemischtes Paar sich mit dem Schmerz eines diskriminierten homosexuellen Paares identifizieren kann und ihn wie seinen spürt.

So entsteht Mut: wenn wir uns nicht voneinander abwenden oder gegeneinander wenden, sondern einander zuwenden und feststellen, dass wir nicht allein sind. So entsteht Mut.

So ermutigt können wir gemeinsam für gute Arbeitsplätze und gerechte Löhne eintreten. So ermutigt können wir gemeinsam für das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle Menschen im reichsten Land auf diesem Planeten eintreten. So ermutigt können wir gemeinsam für das Recht eines jeden Kindes – aus dem hintersten Winkel von Anacostia bis in die Appalachen – auf eine Bildung eintreten, die den Geist anregt und sie auf ein Leben in einer Welt vorbereitet, die auf sie wartet.

So ermutigt können wir den Hungrigen Nahrung und den Obdachlosen Obdach geben und das trostlose Ödland der Armut in blühende Felder wirtschaftlicher Verheißung verwandeln.

Amerika: Ich weiß, dass der Weg lang sein wird, aber ich weiß auch, dass wir dieses Ziel erreichen können. Ja, wir werden stolpern, aber wir werden wieder aufstehen. So entsteht eine Bewegung. So verändert sich der Lauf der Geschichte. Das passiert, wenn jemand, der mutlos ist, auf jemanden trifft, der ihn mitnimmt und sagt, ‚komm, wir marschieren‘.

Es gibt einen Grund dafür, warum sich an jenem und an den folgenden Tagen so viele Menschen in Bewegung gesetzt haben: Jungen Menschen lassen sich noch nicht von Angst oder geltenden Konventionen einschränken. Sie trauten sich, anders zu träumen, und sich eine bessere Welt vorzustellen. Ich bin überzeugt, dass die gleiche Vorstellungskraft, die gleiche Zielstrebigkeit dieser Generation innewohnt.

Wir stehen vielleicht nicht vor den gleichen Gefahren wie 1963, aber die Dringlichkeit bleibt bestehen. Wir werden wohl nie wieder so viele Menschen wie damals zu so einer beeindruckenden Prozession versammeln – niemand kann der Brillanz von Martin Luther King jr. gleichkommen – aber das Feuer, das die Herzen all jener entfacht hat, die bereit sind, den ersten Schritt hin zur Gerechtigkeit zu unternehmen, brennt weiter.

Die unermüdliche Lehrerin, die morgens vor die Klasse tritt, erst abends das Gebäude verlässt und die Unterrichtsmaterialien von ihrem eigenen Geld bezahlt, weil sie davon überzeugt ist, dass sie für jedes Kind verantwortlich ist, marschiert.

Der erfolgreiche Unternehmer, der seinen Arbeitern einen gerechten Lohn zahlt, obwohl er das nicht muss, oder der einem ehemaligen und glücklosen Häftling eine Chance gibt, marschiert.

Die Mutter, die ihrer Tochter all ihre Liebe gibt, damit sie mit der Zuversicht aufwachsen kann, dass sie durch die gleiche Tür gehen kann, wie die Söhne der anderen Eltern, marschiert.

Der Vater, der erkennt, dass die wichtigste Aufgabe, die er jemals haben wird, die Erziehung seines Sohnes ist, auch wenn er selbst keinen Vater gehabt hat – oder insbesondere, wenn sein Vater nie da war – marschiert.

Die vom Kampf gezeichneten Veteranen, die sich nicht nur um ihre Kameraden kümmern, damit diese wieder aufstehen, wieder gehen und wieder laufen können, sondern ihrem Land nach ihrer Rückkehr weiterhin dienen wollen, marschieren.

Jeder, der erkennt, was diese glorreichen Patrioten an jenem Tag wussten, nämlich dass Veränderung nicht aus Washington kommt, sondern nach Washington gebracht werden muss, dass Veränderung immer von der Bereitschaft der Menschen abhängt, von unser aller Bereitschaft – We The People –, uns den Mantel der Staatsbürgerschaft anzuziehen, marschiert.

Das sind die Lehren aus unserer Vergangenheit. Das ist die Verheißung der Zukunft – dass Menschen, die ihr Land lieben, es trotz unglaublicher Widrigkeiten verändern können. Wenn Millionen Amerikaner aller Ethnien aus allen Regionen, jeden Glaubens und aller Lebensphasen im Geiste der Brüderlichkeit zusammenkommen, werden die unüberwindbaren Berge schrumpfen, die unwirtlichen Orte werden gastlich, die unwegsamen Orte werden schön und würdevoll, und wir werden den Glauben jener wiederherstellen, die so viel geopfert haben und der wahren Bedeutung unseres Glaubensbekenntnisses als einer Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle, Ehre machen.

* Originaltext: Remarks by the President at the "Let Freedom Ring" Ceremony Commemorating the 50th Anniversary of the March on Washington

Herausgeber: US-Botschaft Berlin, Abteilung für öffentliche Angelegenheiten; http://blogs.usembassy.gov/amerikadienst/



Nur die Maske ist neu

Deprimierender 50. Jahrestag des "Marsches auf Washington": Es hat sich nichts geändert

Von Mumia Abu-Jamal **


Sie kamen, sie sahen und sie sangen Lobeshymnen. Es war jedoch alles andere als ein Anlaß zur Freude mitanzusehen, wie jetzt der 50. Jahrestag des »Marsches auf Washington« vom 28. August 1963 gefeiert wurde. Es war sogar eher deprimierend, weil es so ähnlich war wie damals bei dem ursprünglichen Marsch, der zum 100. Jahrestag der Emanzipationserklärung von US-Präsident Abraham Lincoln stattfand, und wir einmal mehr an den unerfüllten Traum erinnert wurden.

Beim jüngsten Marsch wurden politische Figuren auf eine Weise gepriesen, die mehr ihre Hautfarbe in den Vordergrund rückte und weniger ihre Leistung. »Ist es nicht großartig, daß wir einen schwarzen Präsidenten haben?« fragen die Teilnehmer. »Wäre Martin Luther King nicht stolz, daß heute ein Schwarzer im Weißen Haus sitzt?« prahlen sie. King wäre alles andere als stolz, wenn er sehen würde, in welchem Zustand sich das schwarze Amerika heute befindet. Er wäre vielmehr traurig, wenn er mitansehen müßte, in welchen Verhältnissen die Schwarzen leben müssen, die heute an den nach ihm benannten Straßen, Alleen und Boulevards wohnen. Es würde ihn wütend machen, wenn er hören würde, wie Politiker heute seinen Namen für ihre verlogenen Visionen mißbrauchen und dabei von oben herab auf die Armen spucken. Und das durch die Welt geisternde Gespenst des imperialen Krieges würde Kings Seele krank machen, wie es einst der Vietnamkrieg tat.

King würde heute die Masseninhaftierungen und ihre ungeheuren Auswirkungen auf die schwarze Bevölkerung verdammen. Ihm wäre dabei völlig egal, welche Hautfarbe der Gefängnisdirektor hat. Statt ein faires und gerechteres System zu schaffen, wurde nur die Farbe des Systemmanagements gewechselt. Das ist es, was man »Wandel« nennt. Das Imperium hat nur eine andere Maske aufgesetzt, aber seine Existenz als blutsaugender Vampir dauert unvermindert an. Im Ausland richtet das Imperium weiter Chaos und Verwüstung an, und zu Hause nährt es die um sich greifende Unzufriedenheit.

Wenn etwas geschaffen wurde, dann ist es eine multiethnische Elite, aus der sich die Führungsklasse des im wesentlichen unveränderten alten Unrechtssystems bildet. Schwarze Bürgermeister, unter deren Regie öffentliche Schulen, die schwarze Kinder gratis besuchen können, zerstört und durch Privatschulen, in denen Schulgeld bezahlt werden muß, ersetzt werden. Schwarze Polizeichefs, die militarisierte und hoffnungslos rassistische Sicherheitskräfte befehligen. Und ein schwarzer Präsident, der als Oberbefehlshaber einer Berufsarmee fungiert, die im Interesse des Großkapitals Massenvernichtung begeht.

Das soll Fortschritt sein? Martin Luther King würde das heute sicher ganz anders sehen.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]

** Aus: junge Welt, Samstag, 31. August 2013

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