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London und Moskau üben Kalten Krieg

Russland droht wegen der Ausweisung seiner Diplomaten mit "ernsten Konsequenzen" - Britische Tornados gegen russische Bomber


Großbritanniens Luftwaffe schickt Tornado-Jäger zu russischen Bombern

MOSKAU, 18. Juli (RIA Novosti). Zwei britische Jagdflugzeuge sind nach einem Alarm am Dienstag in den Himmel gestiegen, um möglicherweise zwei russische Langstreckenbomber abzufangen, die bei einer üblichen Patrouille an Norwegen Küste nach britischen Angaben von ihren Kurs abgewichen waren und Kurs auf Großbritannien genommen hatten.
Das berichtete die britische Zeitung "The Times" unter Berufung auf das Kommando der Königlichen Luftstreitkräfte. Den britischen Luftraum verletzten die russischen Flugzeuge jedoch nicht, so die Zeitung weiter.

Zwei Bombenflugzeuge vom Typ Tu-95 waren von einem Militärstützpunkt auf der Kola-Halbinsel gestartet. Nach Angaben des britischen Militärs patrouillieren russische Flugzeuge regelmäßig in dieser Region. Doch diesmal sollen sie zu nah an den britischen Luftraum geflogen sein, was bei der britischen Luftwaffe Beunruhigung erregte. Zwei britische Tornado-Jäger stiegen in den Himmel. Doch die russischen Bomber kehrten um, bevor sie den britischen Luftraum erreichten.

Die Beziehungen zwischen Moskau und London wurden nach dem Giftmord an Ex-FSB-Mitarbeiter Alexander Litwinenko in London erschwert. Britische Justizbehörden machten für den Mord den russischen Unternehmer Andrej Lugowoi verantwortlich und forderte dessen Überstellung aus Russland. Russland lehnte die Forderung als verfassungswidrig ab. Daraufhin wies Großbritannien vier russische Diplomaten aus und legte Verhandlungen über eine Visaerleichterung mit Russland auf Eis. Der russische Vizeaußenminister Alexander Gruschko kündigte an, Russland werde auf die britischen Sanktionen "gezielt und adäquat" reagieren.

Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 18. Juli 2007

Prozess in einem Drittland?

Unterdessen kündigte der Sprecher des britischen Premierministers Gordon Brown am Mittwoch an, den Prozess gegen den Hauptverdächtigen im Mordfall des früheren KGB-Agenten Alexander Litvinenko möglicherweise in einem dritten Land abzuhalten. Dann sei Russland womöglich eher bereit, den Hauptverdächtigen Andrej Lugowoi auszuliefern. Browns Sprecher Michael Ellam betonte, entscheidend sei, dass der Prozess von einem britischen Gericht verhandelt werde - egal wo.

Eine ähnliche juristische Konstellation hatte es bei dem Prozess um den Terroranschlag auf ein Passagierflugzeug in Lockerbie 1988 gegeben. Der Prozess gegen libysche Geheimdienstagenten wurde von einem schottischen Gericht in den Niederlanden geführt. Großbritannien hatte diese Woche die Ausweisung von vier russischen Diplomaten angekündigt, nachdem Russland weiter nicht bereit ist, Lugowoi auszuliefern. Russland hat daraufhin mit starken, aber noch nicht detaillierten, Gegenmaßnahmen gedroht.

Quelle: Meldung der Nachrichtenagentur AP, 18. Juli 2007

EU übt Solidarität mit Großbritannien

Die EU erklärte, dass sie aus Solidarität mit dem EU-Mitglied Großbritannien von dem Streit auch betroffen sei. "Wir prüfen Londons offizielle Position sorgfältig, um angemessene Maßnahmen als Antwort zu erarbeiten und umzusetzen", teilte Außenamtssprecher Michail Kamynin in Moskau mit. Schon am Montag hatte er gedroht, die Ausweisung der vier Diplomaten müsse "ernsthafte Folgen für die gesamten britisch-russischen Beziehungen haben". Großbritanniens Außenminister David Miliband hatte am Montag im Unterhaus angekündigt, die russischen Diplomaten würden ausgewiesen, weil Moskau keinerlei Bereitschaft zeige, im Fall des in London ermordeten Ex-Agenten und Kremlkritikers Alexander Litvinenko zu kooperieren. London verlangt die Auslieferung des hauptverdächtigen Russen Andrej Lugowoj.

Nach Angaben aus Moskau ist die Auslieferung eines russischen Staatsbürgers zwecks Strafverfolgung im Ausland verfassungswidrig. Die britische Regierung hält dem entgegen, Russland habe internationale Abkommen unterzeichnet, die eine solche Auslieferung vorsehen.

Quelle: Meldung der Nachrichtenagentur AFP, 17. Juli 2007



London und Moskau üben Kalten Krieg

Russland droht wegen der Ausweisung seiner Diplomaten mit "ernsten Konsequenzen"

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In Moskau war es bereits tiefe Nacht, als sich Außenamtssprecher Michail Kamynin zu Wort meldete. Zuvor hatte der britische Außenminister David Miliband die Ausweisung von vier russischen Diplomaten und Einreisebeschränkungen für russische Beamte angekündigt.

Beides sei »unmoralisch« und eine »Provokation«, die »ernste Konsequenzen« haben werde, erklärte Michail Kamynin. Ähnlich äußerte sich auch Außenminister Sergej Lawrow bei einem Telefonat mit seinem britischen Amtskollegen.

London hatte die Sanktionen am Montag verkündet und damit auf die inzwischen zweite offizielle Weigerung Moskaus reagiert, den Unternehmer Andrej Lugowoi auszuliefern. Dieser war im April in London offiziell wegen Mordes an dem ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter Alexander Litwinenko im letzten November angeklagt worden.

Artikel 61 der russischen Verfassung besagt, dass russische Bürger nur von hiesigen Gerichten abgeurteilt werden können. Die russische Generalstaatsanwaltschaft ist daher zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Lugowoi bereit, falls Großbritannien dessen Schuld eindeutig beweisen kann. Die Akten, die Moskau dazu bisher aus London bekam, erfüllen diese Voraussetzungen aus russischer Sicht nicht.

Dazu kommt, dass Großbritannien einen Prozess gegen Lugowoi in Russland ablehnt. Dessen Gerichte, so zitierte die »Iswestija« einen hochrangigen britischen Diplomaten, hätten mehrfach bewiesen, dass geltende Gesetze selektiv angewendet werden. Objektive Ermittlungen gegen Lugowoi seien daher unwahrscheinlich Forderungen Londons, die russische Verfassung zu ändern, empörte sich Juri Scharandin, der Chef des Ausschusses für Verfassungsrecht im Föderationsrat, liefen auf direkte Einmischung in innere Angelegenheiten hinaus. Moskaus Antwort müsse daher »symmetrisch« ausfallen. Genauso sieht das Wjatscheslaw Nikonow von der Kreml-nahen Stiftung »Politika«: Ausgerechnet Großbritannien, das zu den schärfsten Kritikern russischer Demokratiedefizite gehört, verlange Änderungen jener Verfassungsgrundsätze, die Rechte und Freiheiten russischer Bürger garantieren.

Die russisch-britische Handelskammer in Moskau dagegen rief am Dienstagmittag Präsident Wladimir Putin und den britischen Premier Gordon Brown in einem offenem Brief auf, die anstehenden Probleme durch einen »normalen Dialog« zu klären, wie er auch unter Geschäftsleuten üblich sei. Das Gremium hatte sich schon letzte Woche mit konkreten Vorschlägen für die Rückkehr zur Normalität zu Wort gemeldet. Aufgeschreckt von Meldungen britischer Zeitungen über mögliche Sanktionen gegen Moskau, hatte das Topmanagement von »Hermitage Capital«, einem der größten britischen Investmentfonds, unmittelbar danach Russland verlassen. Beobachter wie der Politologe Nikonow vermuten, Moskau werde im Fall Lugowoi allenfalls einlenken, wenn London Auslieferungsbegehren Russlands erfüllt. Ganz oben auf der Wunschliste stehen Achmed Sakajew, der Emissär der tschetschenischen Separatisten, und der Multimilliardär Boris Beresowski, gegen den letzte Woche in Moskau in Abwesenheit ein weiteres Verfahren wegen Veruntreuung von Mitteln der Fluggesellschaft Aeroflot eröffnet wurde. Eben Beresowski wird von Lugowoi auch der Mord an Litwinenko angelastet. Damit habe dieser das internationale Russland-Bild weiter diskreditieren sollen, mutmaßte Lugowoi in einem Interview. Eigens dazu sei Beresowski, der sich kurz nach der Wahl Putins zum Präsidenten im März 2000 nach London absetzte, vom britischen Geheimdienst angeworben worden.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2007

Diplomatie aus der Mottenkiste

Von Detlef D. Pries *

Alexander Litwinenko starb einen grausamen Tod. Was immer man von dem ehemaligen Geheimdienstler denken mag: Die Aufklärung dieses Mordes ist ein legitimes Anliegen. Die Ausweisung russischer Diplomaten aus London befördert dieses Anliegen allerdings um keinen Millimeter.

Russlands Verfassung verbietet – wie die Grundgesetze vieler anderer Staaten – die Auslieferung eigener Staatsbürger. Es gibt auch kein Auslieferungsabkommen zwischen London und Moskau. Das britische Verlangen nach Überstellung des von Scotland Yard der Mordtat verdächtigten Andrej Lugowoi war also von vornherein aussichtslos. Über Godon Browns »Enttäuschung« kann man sich bestenfalls wundern.

Nur vorbehaltlose Zusammenarbeit der Strafverfolger beider Seiten hätte vielleicht Erfolg versprochen. Doch London misstraut der russischen Justiz. So fällt es Moskau leicht zu kontern: Offenbar seien die Beweise so dürftig, dass die Briten fürchten müssten, vor einem »unabhängigen und unvoreingenommenen« russischen Gericht zu scheitern. Überdies »enttäusche« London doch seit Jahren russische Auslieferungsbegehren in den Fällen Achmed Sakajew und Boris Beresowski.

So werden demnächst sicherlich ein paar britische Diplomaten aus Moskau ausgewiesen. Rückzahlung mit gleicher Münze eben, ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges – Politik-Ersatz aus der Mottenkiste.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2007 (Kommentar)




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