Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aufstand gegen Sparpaket

London erlebt größte Demonstration seit Jahren

Von Christian Bunke, Manchester *

Die Straßen Londons gehörten am Samstag (26. März) der britischen Gewerkschaftsbewegung. Sie wurde oft totgesagt, nun gab sie ein starkes Lebenszeichen von sich. Fast 1000 Busse und 21 Sonderzüge hatten Menschen aus ganz Großbritannien zur Großdemonstration in die Hauptstadt gebracht. Zuerst wurde von Tausenden, dann von Hunderttausend, dann von 250000 gesprochen. Schließlich schätzte selbst die Londoner Polizei die Zahl der Teilnehmer an dem vom britischen Gewerkschaftsbund TUC organisierten Protestmarsch gegen den Sozialabbau der konservativ-liberaldemokratischen Koalitionsregierung auf über 400000 Menschen. Auch in Belfast demonstrierten Tausende gegen die in den nächsten vier Jahren geplanten Kürzungen.

Seit den Antikriegsdemonstrationen 2003 hat London eine solche Mobilisierung nicht mehr gesehen. Jede Gewerkschaft war mit großen Blöcken vertreten. Allein die Vertretung der Staatsangestellten PCS beteiligte sich mit 6000 Mitgliedern. Der gesamte öffentliche Sektor war vertreten. Angestellte der Müllabfuhr und Kindergärtnerinnen, Call-Center-Beschäftigte und Schuldnerberater, Briefträger und Feuerwehrleute, Transportarbeiter, Pflegekräfte und Ärzte. Mit ihnen demonstrierten Familienangehörige und Freunde, die selbst unter den Kürzungen zu leiden haben. 90 Prozent der britischen Bevölkerung werden vom Sozialabbau betroffen sein, schätzt der TUC. Und so kamen auch Rentner, Schüler, Studierende und Erwerbslose, wurden Kleinkinder mitgebracht. 53 Prozent der britischen Bevölkerung sind heute gegen das Sparpaket, noch vor einigen Monaten waren es nur knapp über 30 Prozent.

»No ifs, no buts, no public sector cuts« – kein Wenn, kein Aber, keine Kürzungen im öffentlichen Sektor – das ist der immer wiederkehrende Sprechchor, der die Bewegung vereint, die sich hier auf der Straße gezeigt hat. Doch Labour-Parteichef Ed Miliband kann diesen Slogan nur bedingt unterschreiben. Er war einer der Hauptredner auf der Abschlußkundgebung im Hyde Park. Für die TUC-Führung hatte die Demonstration auch Wahlkampfcharakter, denn man hofft auf eine baldige Wiederkehr einer Labour-Regierung. Von Teilen seiner Zuhörer erntete Miliband jedoch Buhrufe, als er vor den Massen verkündete: »Einige Einsparungen sind notwendig«.

Dem widersprach PCS-Generalsekretär Mark Servotka. Er erklärte in seiner Rede, die Zeit für allgemeine Streikaktionen sei nun endlich gekommen: »Wir müssen gegen jede einzelne Kürzung Widerstand leisten. Wir müssen jeden Rentner, jeden Arbeiter, jeden Studierenden verteidigen.« Auch der Generalsekretär der Journalistengewerkschaft NUJ äußerte sich ähnlich: »Diese Demonstration ist ein phantastisches Sprungbrett für koordinierte Streiks im öffentlichen und privaten Sektor«.

In den Tagen vor der Demonstration hatte es viel Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften gegeben. Viele Universitäten, darunter die University of Manchester, setzten ihre Studiengebühren auf 9000 Euro pro Jahr fest. Fast zum selben Zeitpunkt streikten die Lehrenden gegen Kürzungen ihrer Löhne und Renten. Vereinzelt kam es wieder zu Hochschulbesetzungen durch Studierende. Andernorts wurde bekannt, daß das Finanzministerium Statistiken über die Auswirkungen des »Sparpaketes« auf Familien zurückhält.

Die weitere Strategie des TUC ist unklar. Generalsekretär Brendan Barber äußerte, Gewerkschaften würden nicht mehr nur streiken, sondern auch friedliche Formen des zivilen Ungehorsams organisieren. Unter vielen Mitgliedern sorgte diese Aussage für Verwirrung. Ist nicht der Streik die effektivste Form direkter gewerkschaftlicher Aktion? Diese Frage stellte am Samstag auch Bob Crow, der Führer der Transportarbeitergewerkschaft RMT. Dieser durfte, ähnlich wie sein Kollege Matt Wrack von der Feuerwehrgewerkschaft FBU, nicht von der Hauptbühne sprechen. Somit waren weder die Londoner U-Bahn-Beschäftigten noch die Feuerwehrleute, die in den vergangenen Monaten wiederholt gegen Kürzungen gestreikt hatten, dort vertreten. Die Forderung nach koordinierten Streiks war dennoch deutlich zu hören, auch auf einer Kundgebung des National Shop Stewards Network, die am Nachmittag am Speakers Corner im Hyde Park stattfand. Hier schufen sich die linken Gewerkschaften die Plattform, die der TUC ihnen teilweise verweigert hatte.

* Aus: junge Welt, 28. März 2011


250 000 machten den Tories die Hölle heiß

Bislang größter Protestmarsch gegen die konservative Regierung in London / Labour sammelt Pluspunkte

Von Ian King, London **


Gerufen hatte der britische Gewerkschaftsbund TUC unter Generalsekretär Brendan Barber. Die Organisatoren erwarteten 100 000 Protestler: Es kamen nach Polizeiangaben zweieinhalb Mal so viele.

Sie strömten am Sonnabend (16. März) in schier endlosen Reihen vom Themse-Ufer zur Kundgebung im Hyde Park. Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Ärzte, Lehrer, Müllleute, Studenten, Mütter mit Säuglingen, Bibliotheks-, Museen- oder Schwimmbadnutzer. Nicht nur Linke. Ein Querschnitt der von den drakonischen Regierungskürzungen verärgerten britischen Bevölkerung sammelte sich unter dem Slogan »Die Alternative«.

Kein Wunder. Polly Toynbee vom linksliberalen »Guardian« hatte vor der Kundgebung ausgerechnet, dass die Kürzungen jeden Haushalt mit durchschnittlich 750 Pfund belasten werden, die Ärmsten werden prozentual am schlimmsten leiden.

Premierminister David Cameron und Finanzminister George Osborne wollen, dass karitative Organisationen viele bisher staatliche Tätigkeiten übernehmen. Doch Toynbee sagt voraus, dass etwa ein Drittel aller Wohltätigkeitseinrichtungen wegen der Streichungen dichtmachen müssen.

Hauptstreitpunkt in der britischen Politik ist das vor allem durch die Unfähigkeit der Bankiers verursachte horrende Staatsdefizit. Die Tories und ihre liberalen Koalitionspartner wollen es innerhalb einer einzigen Legislaturperiode ganz abschaffen, Labour es aus Angst vor einer langen Flaute lieber nur halbieren. Immerhin macht der Unterschied 40 Milliarden Pfund aus, ist also kein Pappenstiel. Da konnte Labour-Chef Ed Miliband den Demonstranten guten Gewissens erzählen, seine Partei biete eine politische Alternative zur »zu schnellen, zu harten« Linie der Tories.

Die Gewerkschaftsführer, die weniger Rücksicht auf die Wähler der Mitte nehmen müssen, gingen in ihren Beiträgen eine ganze Ecke weiter. »Wir werden die rücksichtslosen Kürzungen bekämpfen, um den Sozialstaat und Hunderttausende Arbeitsplätze zu retten«, versprach Barber vom TUC. Sein Kollege Len McCluskey von der Gewerkschaft Unite, deren Mitglieder oft schlecht bezahlte Angestellte im öffentlichen Dienst sind, wandte sich gegen Steuervermeidung durch Wohlhabende und Großfirmen: Hier könnte seiner Ansicht nach entschlossenes Regierungshandeln 25 Milliarden an der Staatskasse vorbeigeschleuste Pfund pro Jahr wieder einholen.

Neben dem friedlichen Protest gab es in London auch Krawalle. Geschäfte an den Einkaufsmeilen Piccadilly und Oxford Street wurden attackiert. Mehr als 200 Personen wurden festgenommen. Am Sonntag gab es zum Teil Kritik an der Polizei, die mit mit etwa 4500 Beamten im Einsatz war.

Konservative Politiker spielten alle Gewaltszenen hoch, ignorierten hingegen den berechtigten Zorn vieler Demonstranten. Dabei pfeifen die Spatzen von den Londoner Dächern, dass das Defizit den Tories nur als willkommener Vorwand dient, um die Axt an die Wurzeln des Sozialstaates zu legen. Schlimmer noch: Trotz aller Versprechungen von Regierungschef Cameron, den von den Briten mit einer Zustimmungsrate von 72 Prozent unterstützten, steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst vor Kürzungen zu schützen, will sein umtriebiger Gesundheitsminister Andrew Lansley das schon unter Labour von Marktreformen gebeutelten System noch viel weiter in Richtung Privatisierung treiben. Geldgierige US-Gesundheitsdienstleister lauern auf fette Beute. Auch dagegen wurde protestiert.

Fazit: Der Londoner Trafalgar Square ist nicht der Tahrir-Platz von Kairo. Hier ist keine Revolution im Schwange. Aber die konservativ-liberale Regierung wirkt auf ihrem ideologischen Kreuzzug gegen öffentliche Dienstleistungen für die Gesellschaft zunehmend isolierter. Labour-Chef Miliband machte bei der größten Zuhörerzahl seines Lebens eine gute Figur: Mindestens in Umrissen wird eine Gegenstrategie sichtbar. Auch wenn Cameron und Osborne die Augen davor verschließen.

** Aus: Neues Deutschland, 28. März 2011

Lesen Sie auch:

Kleine Kriege: London kürzt Militärausgaben
Aber sonst kommt es knüppeldick: brutalstes Sparpaket der Nachkriegsgeschichte (23. Oktober 2010)




Zurück zur Großbritannien-Seite

Zur Gewerkschafts-Seite

Zurück zur Homepage