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Entwicklungsmodell Tunesien?

Zu den besonderen Beziehungen zwischen Berlin und Tunis ein Bericht von German Foreign Policy

Drei Tage stand Tunesien als Gastgeber der UN-Weltkonferenz zur Informationsgesellschaft im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Selten mischten sich hier zu Lande in die Berichte über die Konferenz auch Hinweise auf die äußerst kritische Menschenrechtssituation in dem nordafrikanischen Staat. Im Folgenden dokumentieren wir einen Bericht und ein Interview - beides enthalten auf der Website von www.german-foreign-policy.com/de.



Entwicklungsmodell Tunesien

TUNIS/BERLIN/KÖLN, 18.11.2005 (Eigener Bericht) - Trotz internationaler Kritik an staatlichen Repressionsmaßnahmen in Tunesien hält die Bundesregierung ihre Kooperation mit dem nordafrikanischen Staat aufrecht. Anlässlich des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft, der am heutigen Freitag in Tunis zu Ende geht, sind neue Vorwürfe laut geworden, denen zufolge die Regierung in Tunis die Pressefreiheit! massiv missachtet und für schwere Folter verantwortlich ist. Berlin enthält sich "jedes eigenen Kommentars" zu entsprechenden Berichten, die seit Jahren bekannt sind, erklärt der Journalist Marc Thörner im Gespräch mit german-foreign-policy.com. Deutschland kooperiert seit Jahrzehnten mit den Repressionsapparaten des nordafrikanischen Landes, deutsche Wirtschaftskreise loben den Staat als "sehr stabil". Deutsche Unternehmen nutzen Tunesien wegen des dort üblichen geringen Lohnniveaus und des Ausbleibens sozialer Proteste als zuverlässige Billig-Produktionsstätte. Observationskommandos

Anlässlich des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft, der am heutigen Freitag zu Ende geht, werden neue Vorwürfe gegen die Regierung Tunesiens laut. Experten der Vereinten Nationen berichten von "zahlreichen Fällen" in dem nordafrikanischen Land, bei denen Journalisten, Menschenrechtsaktivist! en und Richter körperlichen Angriffen, Geldstrafen und Inhaftierungen ausgesetzt waren, weil sie "sich öffentlich zu Menschenrechtsfragen geäußert und ihre Meinung ausgedrückt haben".[1] Mehrere tunesische Journalisten sitzen derzeit im Gefängnis ein, mehrere ausländische Journalisten, die über die Menschenrechtslage in dem nordafrikanischen Land berichten wollten, sind in den vergangenen Tagen tätlich angegriffen worden. Dass dies ohne Kenntnis staatlicher Organe möglich gewesen ist, kann als zweifelhaft gelten: In Tunesien bekommt grundsätzlich "jeder Journalist ein Observationskommando", berichtet Marc Thörner, der dort recherchiert hat, im Gespräch mit german-foreign-policy.com - "ein ganz direkter, sinnlicher erster Eindruck" von der Überwachung durch den Staat, den die UNO schon im Jahr 2000 der Folter anklagte. Im von den Vereinten Nationen herausgegebenen Arab Human Development Report rangiert Tunesien gemeinsam mit Saudi-Arabien an der Spitze der repressivsten Regime der Region.

Verbindungsbeamte

Trotz der schweren Vorwürfe, die seit Jahren gegen Tunis erhoben werden, arbeitet Berlin eng mit den Repressionsapparaten des Landes zusammen. Die Bundesregierung hat der tunesischen Polizei allein zwischen 1985 und 1995 Ausbildungs- und Ausstattungsmaßnahmen im Umfang von mehr als 10 Millionen DM zukommen lassen.[2] Die bilaterale Polizeikooperation dauert bis heute an. In der Hauptstadt des nordafrikanischen Staates ist ein Verbindungsbeamter des Bundeskriminalamts (BKA) stationiert. Der Bundesinnenminister und sein tunesischer Amtskollege haben im April 2003 ein Abkommen zur "Bekämpfung der Organisierten Kriminalität" unterzeichnet (darunter so genannte "Schleusungskriminalität"); die tunesische Marine hat im vergangenen Jahr deutsche Marine-Schnellboote erhalten, um die Küstenüberwachung zu intensivieren. Die deutsch-tunesische Repressions-Kooperation gilt in Berlin als unentbehrlich, um unerwünschte Migration aus den afrikanischen Elendsstaaten in die europäischen Wohlstandszentren zu verhindern.

Sehr erfolgreich

Wie Marc Thörner berichtet, ist angesichts der engen polizeilichen und militärischen Zusammenarbeit die "offizielle Haltung der deutschen Außenpolitik (...): Folter in Tunesien ist nicht nachgewiesen." Der Journalist hat für seine Rundfunk-Reportage "Tausendundeine Macht" deutsche Regierungsstellen und Wirtschaftsvertreter befragt, die mit dem Land befasst sind. Man dürfe "nicht der Versuchung unterliegen, den Lobbyisten in der Menschenrechtsarbeit (...) jede Nuance unbesehen abzunehmen", erklärt demnach ein Ministerialrat aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Die von der UNO bestätigten Foltervorwürfe würden "von der Opposition sehr stark politisiert".[3] Tunesien ist dem Ministerialrat zufolge vielmehr "ein sehr erfolgreiches Entwicklungsmodell".

Großer Vorteil

Die Einschätzung aus dem deutschen Entwicklungsministerium wird von Wirtschaftsvertretern geteilt. "Tunesien ist (...) ein sehr stabiles Land", berichtet der stellvertretende Geschäftsführer des Hamburger Afrika-Vereins, Walter Englert: "(D)as ist (...) für den ausländischen Investor natürlich ein großer Vorteil."[34] Wegen des in Tunesien üblichen geringen Lohnniveaus und des Ausbleibens sozialer Proteste nutzen deutsche Unternehmen insbesondere der Textilbranche das Land, das spätestens im Jahr 2010 Freihandelspartner der Europäischen Union werden soll, als zuverlässige Billig-Produktionsstätte ("verlängerte Werkbank"). Für die kommende Woche kündigt der deutsche Afrika-Verein in Köln eine bilaterale Kontaktbörse der Textilindustrie an ("Tunisia Fashion Days"). Dort soll die enge deutsch-tunesische Zusammenarbeit mit Hilfe staatlicher tunesischer S! tellen weiter ausgebaut werden.

Fußnoten:
  1. UN experts call on Tunisia to respect human rights as information summit opens; UN News Centre 16.11.2005
  2. Bundestags-Drucksache 13/1047
  3. Marc Thörner: Tausendundeine Macht; WDR 5 - Das Feature 13./14.11.2005
  4. Marc Thörner: Tausendundeine Macht; WDR 5 - Das Feature 13./14.11.2005

Interview mit Marc Thörner

18.11.2005 HAMBURG
Über die deutsche Außenpolitik gegenüber Tunesien sprach german-foreign-policy.com mit Marc Thörner. Thörner ist Journalist, hat in dem nordafrikanischen Land für seine Rundfunk-Reportage "Tausendundeine Macht" recherchiert und deutsche Regierungsstellen zur Berliner Außenpolitik gegenüber Tunis befragt, das als enger Partner Berlins gilt und in wenigen Jahren in die EU-Freihandelszone einbezogen werden soll.

german-foreign-policy.com: Kritiker nennen Tunesien einen Polizeistaat. Entspricht diese Bezeichnung Ihren Erfahrungen?


Marc Thörner: Eindeutig ja. Das beginnt schon damit, dass man, wenn man sich in Tunis als J! ournalist akkreditiert, oft keinen Zugang zu seinen eigenen E-Mails hat - E-Mails von Journalisten werden oft blockiert. Grundsätzlich bekommt auch jeder Journalist ein Observationskommando - ein ganz direkter, sinnlicher erster Eindruck. Ein Journalist wird manchmal schon an der Hotelrezeption und auch dann, wenn er mit dem Fahrzeug unterwegs ist, von einem Verfolgungskommando observiert. Im Gespräch mit tunesischen Oppositionellen erfährt man auch von Foltervorwürfen. Es gibt in Tunesien ungefähr 500 politische Gefangene, die seitens der Regierung dem islamistischen Spektrum zugeordnet werden; sie werden, nach Auskunft ihrer Anwälte, massiv gefoltert. Auch Anwälte, Menschenrechtler und Oppositionelle werden immer wieder von der Polizei verprügelt. Ein Beispiel ist der Fall der Anwältin und Menschenrechtlerin Radhia Nasraoui, die nach Misshandlungen durch die Polizei im Mai 2005 beträchtliche Kopfverletzungen erlitten hat.

gfp.com: Sind staatliche deutsche Stellen über die Verhältnisse informiert?

Thörner: Ja. Allerdings hat man sich dafür entschieden, die Vorwürfe gegenüber der tunesischen Regierung nur auf der Arbeitsebene, nicht aber öffentlich anzusprechen. Das Auswärtige Amt etwa publiziert Länderberichte im Internet. Dort ist das Äußerste, was über die Menschenrechte in Tunesien geschrieben wird: "In der Praxis gibt es Defizite". Es wird dort nichts von Folter erwähnt - und das, obwohl die UNO schon im Jahr 2000 Tunesien in einer Resolution wegen Folter verurteilt hat. Die offizielle Haltung der deutschen Außenpolitik ist immer noch: Folter in Tunesien ist nicht nachgewiesen.

gfp.com: Wie reagiert die Bundesregierung, wenn man sie mit den Foltervorwürfen konfrontiert?

Thörner: Sie wendet ein, dass die tunesische Regierung die Vorgänge anders darstellt. Man sagt: "Oppositionelle behaupten, dass...", man enthält sich aber jedes eigenen Kommentars.

gfp.com: Worin sehen Sie die Ursache dafür?

Thörner: Das hat mehrere Gründe. Erstens hat sich Tunesien außenpolitisch als relativ verlässlicher Partner erwiesen, hat eine relativ konstruktive Position im Hinblick auf den Nahost-Friedensprozess. Dann hat sich Tunesien ja auch als Partner im Kampf gegen den Terror bewährt; die tunesische Regierung verficht offiziell einen sehr, sehr vehementen Kurs gegen den Islamismus. Drittens ist geplant, dass sich Tunesien im Jahr 2008 mit einem Freihandelsabkommen an die Europäische Union anschließt. All das führt dazu, dass man relativ nachsichtig ist - man möchte Tunesien als wichtigen Partner in der arabischen Welt nicht verprellen.
Außerdem glaube ich: Die Haltung der deutschen Außenpolitik gegenüber den arabischen Staaten weicht von der Haltung gegenüber Staaten eines anderen Kulturkreises ab. Wenn man deutsche Offizielle auf Vorwürfe gegenüber Tunesien anspricht, dann hört man oft die Antwort: Sehen Sie das doch vor dem Hintergrund anderer arabisc! her Staaten. Ist es dort nicht viel, viel schlimmer?

gfp.com: Sie haben selbst Erfahrungen mit der Polizeirepression in Tunesien und den doppelten Standards staatlicher deutscher Stellen gemacht...

Thörner: Im Februar 2003 fand eine Demonstration verschiedener tunesischer Nicht-Regierungs-Organisationen statt - vor einem Gefängnis, in dem ein junger Internetjournalist wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung einsaß. Ich habe die Demonstration beobachtet. Kurz nachdem die ersten Transparente entrollt wurden, riegelte ein Großaufgebot der Polizei den Platz ab, wir wurden alle in unseren Autos festgesetzt. Ein tunesischer Polizist nahm mir mein Aufnahmegerät und meine Kassette ab; das Gerät habe ich wiederbekommen, die Kassette nicht. Als ich wegen dieser Sache bei der deutschen Botschaft vorstellig geworden bin, wurde mir gesagt, ich hätte die Demonstration gar nicht beobachten dürfen, ohne die tunesische Regierung vorher zu informieren. Das ist absurd! , wenn man sich die internationalen Gegebenheiten im Journalismus vor Augen führt. Zweitens hätte ich alles zu tun, was die tunesischen Behörden von mir verlangten. Dazu muss man sagen, dass deren Verhalten auch nach dem tunesischen Presserecht nicht korrekt war: Jeder Journalist hat auch nach tunesischem Presserecht die Möglichkeit, frei zu beobachten. Drittens erhielt ich die Auskunft, man sehe keine Veranlassung, wegen dieser Kassette noch weiter vorstellig zu werden, weil ich ja selber die Spielregeln verletzt hätte.

gfp.com: Hat sich seit Ihrer Recherche für "Tausendundeine Macht" an der deutschen Politik gegenüber Tunesien etwas verändert?

Thörner: Der damalige Presseattaché und auch der damalige Botschafter haben gewechselt, inzwischen wird eine etwas liberalere Haltung vertreten. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass vor zwei Wochen eine deutsche Delegation, bestehend aus dem Botschafter in Tunis und dem Menschenrechtsbeauftragten des Auswärti! gen Amtes, Oppositionelle besucht hat, die sich gerade im Hungerstreik befinden, um gegen die mangelnde Meinungsfreiheit in Tunesien zu demonstrieren.

gfp.com: Sehen Sie darin einen möglichen Kurswechsel?

Thörner: Vielleicht in Nuancen - ich glaube, man öffnet sich ein wenig für Kontakte mit der tunesischen Zivilgesellschaft. Ich glaube aber nicht, dass der grundsätzliche Kurs geändert wird. Ich habe vor kurzem mit dem deutschen Botschafter gesprochen, und auch dabei kam die Haltung klar zum Ausdruck: Keine öffentliche Kritik an der tunesischen Regierung!

Aus: www.german-foreign-policy.com/de


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