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Flucht zum Kap der letzten Hoffnung

Tausende Immigranten auf der italienischen Insel Lampedusa – Zerreißprobe für EU-Politik *

Das Flüchtlingsdrama auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa südlich von Sizilien dauert an. Über 5000 Tunesier waren in den vergangenen Tagen auf die lediglich 20 Quadratkilometer große Insel vor der unruhigen Lage in ihrem Land geflohen.

Nach Medienberichten befanden sich am Montag immer noch über 2200 Bootsflüchtlinge auf der nur 4500 Einwohner zählenden Insel. Rund 3000 Flüchtlinge seien per Fähre nach Sizilien verlegt worden, hieß es. »Wir können alle Immigranten in Sizilien aufnehmen«, beurteilte der Präfekt von Palermo, Giuseppe Caruso, am Montag die Situation. Zur Not könnten Zeltlager errichtet werden, wie es etwa nach Naturkatastrophen wie Erdbeben üblich sei. Caruso war die Federführung im aktuellen Flüchtlingsproblem übertragen worden.

Am Wochenende hatte die Regierung den Notstand über Lampedusa verhängt und die Wiedereröffnung des Hauptflüchtlingslagers genehmigt. Mit über 2000 dort untergebrachten Tunesiern war dieses allerdings schon am Montag hoffnungslos überbelegt. Offiziell kann das Lager 800 Menschen aufnehmen.

Die tunesische Übergangsregierung schloss inzwischen den von Rom angebotenen Einsatz italienischer Beamter an der tunesischen Grenze aus. »Tunesien lehnt kategorisch jede Einmischung in seine inneren Angelegenheit ab«, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur TAP einen Sprecher des Außenministeriums in Tunis. Man sei jedoch bereit, mit befreundeten Staaten zusammenzuarbeiten, um angemessene Lösungen für das Problem der illegalen Migration zu finden. Der italienische Innenminister Roberto Maroni hatte zuvor angeboten, dass italienische Einsatzkräfte vor der nordafrikanischen Küste aktiv werden könnten, um den seit Tagen anhaltenden »biblischen Exodus« einzudämmen. Er äußerte sich zudem empört, dass die neue tunesische Regierung sich offenbar nicht mehr an das bilaterale Abkommen zur Begrenzung von Flüchtlingsströmen halte.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl verwies darauf, dass die Europäische Union »jahrelang korrupte Diktatoren in Tunesien, Ägypten und anderswo bei der menschenverachtenden Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer hofiert hat«. Die EU habe »nunmehr die Chance, sich auf die Seite der Demokratiebewegung in Nordafrika und der Menschenrechte zu stellen« und dürfe »diese verhängnisvolle und bornierte Politik gegenüber Flüchtlingen und Migranten nicht fortsetzen«.

Deutschland kann nach Angaben des CDU-Innenpolitikers Wolfgang Bosbach keine Flüchtlinge von Lampedusa aufnehmen. »Die Vertragslage in Europa ist eindeutig«, sagte er am Montag. Danach müssten Flüchtlinge in dem Land aufgenommen werden, in dem sie die EU-Außengrenze überschreiten. Eine anschließende Verteilung in andere EU-Staaten sei nicht vorgesehen. Auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte, dass das Problem »im Rahmen der EU« gelöst werden müsse. Die Grünen forderten dagegen schnelle Hilfen zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge vor Ort.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Februar 2011

Exodus einer Generation

Interview mit UNHCR-Sprecherin Laura Boldrini

Laura Boldrini ist Sprecherin des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR).

ND: Über 5000 Menschen sind in den vergangenen Tagen aus Tunesien über das Mittelmeer nach Italien geflüchtet. Sie haben sich auf Lampedusa, wo die Mehrzahl der Flüchtlinge anlandete, ein Bild der Situation gemacht. Wie viele Flüchtlinge halten sich momentan auf Lampedusa auf?

Boldrini: Es sind ungefähr 2300. Sie sind zumeist in dem wieder eröffneten Auffanglager untergebracht. Das Lager hat allerdings nur eine Kapazität für 800 bis 1000 Personen. Die Lage bleibt angespannt. Etwa 2500 Personen wurden in den letzten Tagen per Schiff und Flugzeug in andere Lager auf Sizilien und dem Festland gebracht.

Woher kommen die Menschen?

Soweit wir es überblicken, sind es überwiegend Tunesier, meist Männer zwischen 18 und 30 Jahren. Nur wenige Frauen und fast gar keine Minderjährigen befinden sich unter ihnen. Das unterscheidet diese Migrationsbewegung von den früheren Ereignissen auf Lampedusa. Es ist die Flucht einer Generation.

Was sind die Gründe für die Flucht?

Sie haben uns sehr unterschiedliche Motive genannt. Die einen haben wegen des Chaos nach dem Umsturz das Land verlassen. Sie fürchten die Unsicherheit. Andere haben zum alten Regime gehört. Viele geben auch an, in erster Linie aus ökonomischen Gründen das Land verlassen zu haben.

In den vergangenen Jahren war – bis zum Abkommen zwischen Italien und Libyen – die libysche Küste der Ausgangspunkt der Migration über das Mittelmeer. Nun ist die alte Fluchtroute von Tunesien nach Lampedusa wieder offen.

Die Kontrollen durch die tunesischen Sicherheitskräfte haben nachgelassen. Das sagen uns jedenfalls die Flüchtlinge, die diese Situation genutzt haben.

Was wird mit den Flüchtlingen geschehen?

Wir sind erst einmal sehr froh, dass die Boote überhaupt durchgelassen wurden, so dass sie Europa erreichen konnten. Das ist ein Fortschritt. Jetzt geht es darum, jeden einzelnen Fall zu prüfen und dann zu entscheiden, welches Recht auf Aufenthalt besteht. Einige Anträge auf Asyl wurden bereits gestellt. Eine große Zahl der Personen hat erklärt, nach Frankreich weiterreisen zu wollen, wo sich Verwandte von ihnen aufhalten.

Italiens Innenminister erwartet Flüchtlinge auch aus anderen Ländern, insbesondere aus Ägypten.

Man kann die Lage in den Ländern nicht verallgemeinern. Unseren Informationen zufolge wollen die Menschen in Ägypten die Geschicke des Landes verändern. Sie wollen deshalb in ihrer Heimat bleiben und nicht ins Ausland gehen.

Fragen: Tom Mustroph

Aus: Neues Deutschland, 15. Februar 2011




Falsche Prioritäten

Von Martin Ling **

Tunesiens vertriebener Diktator Ben Ali war 1999 der erste Regent in Nordafrika, der mit Italien ein Abkommen zur Flüchtlingsabwehr schloss. Seither fing die tunesische Küstenwache selbst Flüchtlinge auf dem Meer ab und nahm auch Flüchtlinge »zurück«, die Italien unbedingt loswerden wollte.

Italien exportierte mit bereitwilliger Duldung der EU in der Folgezeit das Vertragsmodell in andere Länder – ohne Ansehen der Regierung. Nachdem 2009 auch mit Libyens Muammar al-Ghaddafi ein Übereinkommen geschlossen worden war, versiegte der Flüchtlingsstrom nach Lampedusa zusehends. Damit ist es nun fürs Erste vorbei. Tunesiens Stabilität ist dahin und das Land inklusive Küstenwache hat im Moment andere Probleme und Prioritäten, als Jagd auf Flüchtlinge zu machen.

Die EU trägt ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Flüchtlinge. Legale Einwanderungsmöglichkeiten sind rar gesät und um die Gründe von Flucht und Migration kümmert man sich lediglich in Sonntagsreden oder gar nicht, wie die Fortsetzung der desaströsen Fischerei- und Agrarpolitik der EU zu Lasten Afrikas zeigt.

Die Entwicklung in Nordafrika zeigt gleichermaßen das Scheitern der EU-Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik. Theoretisch läge darin eine Chance zur Generalüberholung eines verfehlten Kurses. Doch faire Handelschancen statt höherer Mauern – das war bisher kein Merkmal der EU-Politik.

** Aus: Neues Deutschland, 15. Februar 2011 (Kommentar)


Stimmungsmache gegen Flüchtlinge ging nicht auf

Tausende Flüchtlinge aus Nordafrika landen auf der italienischen Insel Lampedusa / Während Rom Ängste schürt, zeigen Bewohner Lampedusas Solidarität

Von Anna Maldini, Rom ***


Der Zustrom von Flüchtlingen aus Nordafrika nach Süditalien über das Mittelmeer reißt nicht ab. Und er fordert Opfer. Aus Tunesien wurde bekannt, dass ein Flüchtlingsboot vor der Küste des Landes von der Marine gerammt wurde. Man spricht allein bei diesem Zwischenfall von etwa 30 Toten.

Innerhalb nur weniger Stunden haben Hunderte von Menschen die knapp 110 Kilometer überwunden, die Tunesien von der süditalienischen Insel Lampedusa trennen. Einige von ihnen kamen mit größeren Booten, andere mit morschen und überfüllten Seelenverkäufern. Es ist auch die Rede von Flüchtlingen, die während der Überfahrt ins kalte Wasser gefallen und ertrunken seien. Offiziell werden zwei Boote vermisst, wobei man allerdings die Möglichkeit nicht ausschließt, dass sie an die Küste Tunesiens zurückgekehrt sind.

Einmal in Lampedusa angekommen, werden die Flüchtlinge von völlig überlasteten Ordnungskräften in Empfang genommen. Bisher waren es gerade einmal 50 »Offizielle«, die sich um die knapp 5000 Menschen gekümmert haben, die in den vergangenen Tagen auf der kleinen Insel gelandet sind. Glücklicherweise hat aber die Bevölkerung Solidarität bewiesen. Der katholische Pfarrer Stefano Nastasi kümmerte sich mit einigen Freiwilligen um fast 350 Menschen, die er mit Decken und Lebensmitteln versorgte, die schnell gesammelt wurden. Er bestätigt auch, dass die Lage auf der Insel ruhig ist: »Die Flüchtlinge gehen spazieren und bewundern die schöne Aussicht«, erklärte er. Inzwischen hat das Innenministerium in Rom die Entsendung von weiteren 50 Polizisten angekündigt.

Zunächst hatte sich die Regierung Berlusconi geweigert, das große Auffanglager zu öffnen, das es auf der Insel gibt, um, wie Innenminister Roberto Maroni erklärte, nicht den Eindruck zu erwecken, dass »in Italien jeder willkommen ist«. Inzwischen aber sind die meisten Bootsflüchtlinge in jenem Lager und in einigen Hotels der Insel untergebracht. Mit Flugzeugen und Fähren will man aber möglichst schnell die größtmögliche Anzahl der Menschen nach Sizilien und in andere italienische Regionen bringen.

Der Polizeipräsident von Palermo, Giuseppe Caruso, wurde von der Regierung zum Verantwortlichen für den humanitären Notstand ernannt. Den Notstand für die Insel Lampedusa hatte die Regierung in Rom ausgerufen, nachdem kein Ende des Zustroms von Immigranten abzusehen war. Caruso erklärte, dass man die Flüchtlinge auf Sizilien erst einmal in Schulen, Turnhallen und anderen Gebäuden unterbringen wird; auch an die Einrichtung von Zeltlagern wird gedacht.

Inzwischen wird die Landung von Flüchtlingen in Lampedusa in ganz Italien vor allem als humanitäres Problem gesehen. In den ersten Stunden nach Beginn des Zustroms der Flüchtlinge hatte das Innenministerium noch davon gesprochen, dass man vor allem besorgt sei, weil möglicherweise entlaufene Verbrecher und »mutmaßliche islamistische Terroristen« unter den in Lampedusa gelandeten Menschen sein könnten.

Nachdem Tunesien die Entsendung italienischer Polizisten abgelehnt hatte, die – so der Vorschlag der Regierung in Rom – dazu beitragen sollten, die Abfahrt weiterer Boote zu verhindern, denkt man jetzt darüber nach, die Sicherheitskräfte in italienischen Hoheitsgewässern patrouillieren und neue Flüchtlinge auf dem Meer abdrängen zu lassen. Gleichzeitig fordert Italien die dringende Hilfe der Europäischen Union, die, so Maroni, »Italien alleine lässt«. Die Institutionen in Brüssel haben ihre Unterstützung versprochen. Wie diese allerdings aussieht, ist offen.

*** Aus: Neues Deutschland, 15. Februar 2011


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