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Kobane erfüllt die Kurden mit Zorn

Todesopfer bei gewalttätigen Demonstrationen, doch Präsident Erdogan sorgt sich um ein mittelalterliches Denkmal

Von Jan Keetman *

19 Tote haben die Proteste wegen Kobane in der Nacht zu Mittwoch in der Türkei gekostet, mehr als die Gezi-Unruhen in Wochen.

Am Ende blieb der Regierung nur die Verhängung einer zweitägigen Ausgangssperre in zahlreichen Orten im kurdischen Südosten des Landes. Das letzte Mal hatte es dies vor 22 Jahren im März nach den Newroz-Unruhen gegeben, als 38 kurdische Demonstranten gestorben waren. Und noch etwas erinnert fatal an die Vergangenheit: das Eingreifen militanter Islamisten auf Seiten der Staatsmacht. Bilder zeigen bärtige Männer, die in der Kurdenmetropole Diyarbakir von einem Dach aus Steine auf Demonstranten schleudern. Einige der getöteten Demonstranten dürften von solchen Männern sogar erschossen worden sein.

In den 90ern war es die türkisch-kurdische Hizbullah, die Partei Gottes, die für den Staat die Schmutzarbeit bei der Bekämpfung der Arbeiterpartei Kurdistans und ihres Separatismus’ machte. Als sie in dieser Hinsicht mehr und mehr arbeitslos wurde, begann die Hizbullah, ideologische Gegner aus verschiedenen Lagern auf bestialische Weise zu ermorden. Vor einigen Jahren wurden ihre Anführer aufgrund eines Gesetzes zur Beschränkung der U-Haft aus dem Gefängnis entlassen.

Droht nun ein Bürgerkrieg in der Türkei? So weit wird es wohl kaum kommen, jedenfalls wenn man unter einem Bürgerkrieg Ereignisse wie in Syrien versteht. Doch die kurdische Bevölkerung muss wieder einmal erleben, dass sie nichts zählt. Angesichts der Lage in Kobane wirkt die Haltung der offiziellen Türkei wie Hohn. Während die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Stadt Kobane stranguliert, sorgt sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan um das in einer Enklave in Syrien liegende Mausoleum des Großvaters des Gründers der Osmanischen Dynastie. Und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte vor laufender Kamera: »Wir werden alles, was in unserer Macht steht, unternehmen, damit Kobane nicht fällt.« – Und sieht dann zu, wie das geschieht.

Die Kurden sind mit ihrem Frust diesmal aber nicht alleine. Die laizistische Türkei und die Aleviten erfüllt das als sehr warm wahrgenommene Verhältnis ihrer Regierungspartei zu den bärtigen Terroristen und ihren Sympathisanten in der Türkei mit Angst und Schrecken. Plötzlich finden viele kemalistische Türken, dass separatistische Kurden weniger schlimm sind als stramme Islamisten. So hat der Jugendverband der einst von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) nicht nur eine Solidaritätserklärung für Kobane herausgegeben, sondern diese auch noch ins Kurdische übersetzt. Brennende Atatürk-Denkmäler im Osten des Landes dürften die CHP allerdings daran erinnern, dass sie und die Kurden doch nicht eine Bewegung sind.

Kobane hat nicht nur die Kluft zwischen den Kurden und der Türkei wieder schmerzlich aufgerissen, sondern auch den Graben zwischen der islamisch orientierten Regierungspartei Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und den laizistisch orientierten Türken. Die linke Zeitung »Birgün« brachte die Ängste mit großen Balken auf ihrer Titeltseite zum Ausdruck: »In Kobane der IS, in der Türkei die AKP«.

Hat Erdogan sich verkalkuliert und Kobane unterschätzt? Oder meint er, mit seiner großen Anhängerschaft und treu ergebenen Medien auf seiner Seite könne er jeden Sturm durchstehen wie die Gezi-Proteste und die Korruptionsskandale? Jedenfalls ist kein Umdenken zu erkennen. Zugute kommt Erdogan, dass Kobane auch auf Barack Obamas Prioritätenliste nicht oben steht.

Von der EU heißt es, dass sie mit der Türkei enger im Kampf gegen IS und die Rückkehr von Syrien-Kämpfern zusammenarbeiten will. In einem am Mittwoch in Brüssel vorgelegten Fortschrittsbericht zu den EU-Beitrittsgesprächen mit Ankara wird zugleich das Vorgehen der türkischen Regierung im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen gegen Regierungsmitglieder kritisiert.

Nach all dem ist nicht zu erwarten, dass über Kobane groß verhandelt wird, wenn am Donnerstag eine US-Delegation Ankara besucht. Angesagt ist ein politisches Pokerspiel: Ankara will Washington zu einem Krieg gegen Syrien bewegen und sieht den IS als Randproblem. Für Washington ist es umgekehrt. Keiner kann seine Ziele ohne den anderen erreichen und hofft, dass dessen Leidensdruck größer ist.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Oktober 2014


Aura des Moralischen

Linke-Politiker für Militär nach Syrien

Arnold Schölzel **


In der Erklärung »Kobani retten!«, in der die 14 Unterzeichner aus der Linkspartei »eine militärische Unterstützung und Kooperation mit den Kurden in und um Kobani« für »unumgänglich« erklären, kommt das Wort »Syrien« nicht vor. So kümmern sich Schreibtischstrategen um Ländergrenzen und Staatensouveränität – mit den besten Absichten. In jener Region ist so etwas eine Art europäisch-nordamerikanisches Gewohnheitsrecht. Als Großbritannien und Frankreich 1916 in einem Geheimvertrag das Osmanische Reich noch vor dessen Ende untereinander auch in Syrien und Irak aufteilten, später das zaristische Russland (wo Lenin nach der Oktoberrevolution 1917 das Abkommen veröffentlichte) und Italien einluden, sich am Filetieren zu beteiligen, war das eines der ungezählten Schurkenstücke des europäischen Kolonialismus. Das folgende demokratische Kriegsverbrechen war monströser: Im Februar 1920 erkundigte sich der damalige britische Kolonialminister Winston Churchill bei der Royal Air Force, ob die rebellischen Kurden nicht mit Gasbomben niedergehalten werden könnten. Gefragt, getan: Neben Gas regnete auf die unbotmäßigen »Stämme« erstmals Phosphor von oben, jahrelang immer wieder. Die USA setzten es in ihren Irak-Kriegen 70 Jahre später und ab 2003 wieder ein. Auch eine Art Gewohnheit.

Völkerrecht hat im Umgang des Westens mit den Nationen des Nahen und Mittleren Ostens noch nie eine Rolle gespielt. Der Krieg gegen Syrien seit 2011 setzt das fort. Der Hamburger Jurist Reinhard Merkel hat diese Variante »demokratischer Intervention« 2013 als die »verwerflichste« bezeichnet. Die Intervenierenden übernähmen »die vermeintliche und absurde Rolle von Unschuldigen«, es handele sich um ein »suggestives Herabsetzen der Legitimationsschwelle für das eigene Handeln vor den Augen der Welt: Wir sind es nicht, die in Syrien töten; wir helfen nur einem unterdrückten Volk.« So lasse sich offenbar »eine Aura des Moralischen« erschleichen.

Das hat so gut funktioniert, dass nun deutsche Linke-Politiker mit dem Ruf nach einem »unumgänglichen« Krieg für eine syrische Stadt, deren arabischen Namen sie nicht nennen, mit unter den Heiligenschein kommen möchten. Wer allerdings über den Syrien-Krieg des Westens schweigt und von der finanziellen und logistischen Unterstützung für den »Islamischen Staat«, wer von den Trainingszentren dieser neuesten Spielart der SA, ihren Rekrutierungsbüros und Kliniken in der Türkei nicht redet, der kann selbstverständlich vom Krieg zur Zerschlagung des säkularen syrischen Staates nicht reden, schon gar nicht von der Notwendigkeit, mit dessen Repräsentanten über Aktionen gegen die Mordbanden zu sprechen. Der kümmert sich nicht ums Völkerrecht und der redet schon nicht mehr über einen souveränen Staat, der mit äußerster Perfidie zerstört wird. Er hat aber die Aura des Moralischen sicher. Heia Safari!

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Oktober 2014 (Kommentar)


Prügeleien mit Islamisten, Parteizentralen besetzt

Auch in der Bundesrepublik wird gegen IS protestiert / Ausschreitungen zwischen Kurden und Islamisten in Hamburg und Celle

Von Marcus Meier ***


In Deutschland mehren sich Demonstrationen für eine Unterstützung des kurdischen Widerstandes in Kobane. Gestern wurden zwei Parteizentralen besetzt – in Hannover und Bielefeld.

Am Mittwochnachmittag besetzten kurdische Studenten die Zentrale des CDU-Kreisverbandes in Hannover. Laut einem Bericht der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« wollten 17 Kurden dort einen Ordner mit Forderungen übergeben. Sie mahnten laut dem Blatt ein Ende des PKK-Verbotes, eine klare Positionierung der Bundesregierung gegen die Terroristen des Islamischen Staates (IS) und direkte Waffenlieferungen für die Kurden in Kobane an. Zwar kam es zu einem größeren Polizeieinsatz, doch der herbeigeeilte lokale Parteichef Dirk Toepffer sagte, man werde auf Strafanträge verzichten. »Wir werden hier solange bleiben, bis unsere Forderungen akzeptiert werden«, ließ sich ein Sprecher des PKK-nahen Verbandes der Studierenden aus Kurdistan (YXK) zwischenzeitlich via »Facebook« zitieren.

Eine ähnliche Aktion fand zeitgleich im ostwestfälischen Bielefeld statt, wo jedoch eine SPD-Zentrale besetzt wurde. Auch hier behaupte der Studentenverband YXK, Urheber der Aktion zu sein. Beteiligt gewesen seien 40 Jugendliche, hieß es in einer Stellungnahme. Sie protestierten demnach »gegen die Barbarei des IS« und »die Ignoranz und Doppelmoral der internationalen Mächte«. Kurz vor »Redaktionsschluss sagte ein Polizeisprecher gegenüber »nd«, es finde bisher kein Polizeieinsatz statt.

Bei einem Aufeinandertreffen zwischen Kurden und Salafisten in Hamburg waren am Dienstagabend nach Polizeiangaben 14 Personen verletzt worden, vier davon schwer. Nach einer friedlich verlaufenen Demonstration mit 500 Teilnehmern in der Innenstadt unter dem Motto »Schluss mit dem Massaker in Kobane« hätten sich die Demonstranten, die zum Teil Fahnen der verbotenen PKK schwenkten, über die Stadt zerstreut. Einige Dutzend sollen am Hauptbahnhof zeitweilig den Zugverkehr blockiert haben. Andere attackierten nach Medienberichten Polizisten mit Flaschen und Steinen. Auch ein türkischer Imbiss soll angegriffen worden sein.

Vor einer Moschee im Stadtteil Sankt Georg trafen laut Polizei am frühen Abend 400 Kurden auf eben so viele Salafisten. Laut Polizeibericht kam es zu »gewalttätigen Auseinandersetzungen« zwischen »Kleingruppen«, bei denen es zu den Verletzungen kam. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, um protestierende Kurden und Islamisten voneinander zu trennen. Mehrere Schlag- und Stichwaffen wurden sichergestellt, 22 Personen fest- oder in Gewahrsam genommen.

Nach Darstellung der Webseite »Perspektive Kurdistan« stellt sich der Sachverhalt anders dar. Demnach sei ein kurdisches Kulturzentrum »mit Macheten, Knüppeln und Schreckschusswaffen angegriffen« worden. Ein »Youtube«-Video zeigt arabisch aussehende junge Männer, die Steine werfend und mit Knüppeln und einem Verkehrsschild bewaffnet andere Personen angreifen. Laut Videotitel habe ein »Pro-IS-Mob« kurdische Demonstranten attackiert. Ein möglicherweise Beteiligter indes brüstet sich in einem Kommentar damit, »wir Kurden« hätten IS-Anhänger »gestern durch ganz Hamburg gejagt«.

Im niedersächsischen Celle kam es am Montag und Dienstag laut Lokalpresse ebenfalls zu Gewalt zwischen kurdischen Jesiden und tschetschenischen Islamisten. In Stuttgart sollen am Dienstag kurdische Demonstranten Autofahrer provoziert und Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen haben. Demonstrationen mit tausenden Teilnehmern in anderen deutschen Großstädten verliefen friedlich.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. Oktober 2014


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