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"Die Menschen wollen mehr demokratische Rechte"

Wahl in der Türkei: Die prokurdische Partei HDP hat vor allem in Industriegebieten mehr Stimmen bekommen. Ein Gespräch mit Düzgün Altun *


Düzgün Altun ist Mitglied im Bundesvorstand der DIDF (Föderation der Demokratischen Arbeitervereine).

Bei der Wahl in der Türkei am Sonntag hat die linke HDP die Zehnprozenthürde überwunden und so die absolute Mehrheit der Regierungspartei AKP verhindert. Ist der Plan von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan somit gescheitert, das Parlament in der Türkei zu entmachten und eine neue Verfassung mit einem Präsidialsystem zu erreichen?

Allerdings. Die HDP, Demokratische Partei der Völker, hat sich für die ganze Türkei etabliert, ihre etwa 13 Prozent hat sie nicht nur in kurdischen Gebieten gewonnen. Ob in Ankara, Antalya oder Izmir: Überall stellt sie Abgeordnete und hat Stimmen gewonnen, insbesondere in Industriegebieten, wo die Arbeiter stark sind und Metallerstreiks stattfanden. Erdoğans Präsidialsystem ist nun in der Tat vom Tisch; ebenso die Zehnprozenthürde bei Wahlen, ein Überbleibsel aus Zeiten des Militärputsches.

Die AKP ist davon ausgegangen, dass die Bevölkerung der Türkei zu 98 Prozent islamisch ist und hatte darauf gebaut. Das hat nicht geklappt. Die Menschen wollen mehr demokratische Rechte und die Trennung von Staat und Religion. Auch die Außenpolitik hat bei der Niederlage eine Rolle gespielt. Erdoğan und seine AKP hatten vergebens darauf gesetzt, dass das selbstverwaltete demokratische Kobani in der Kurdenregion Rojava (Nordsyrien) nahe der türkischen Grenze fällt. Diese Unterstützung der Terrormiliz Islamischer Staat wurde abgestraft.

Die AKP brachte nun, einen Tag nach der Wahl, bereits Neuwahlen in die Debatte – wird es dazu kommen?

Angesichts der Tatsache, dass sie die absolute Mehrheit mit nur 40,9 Prozent deutlich verfehlt hat, ist innehalten angesagt. Erdoğans Anspruch war es sogar, 400 Abgeordnete zu erreichen, nach neuesten Zahlen sind es nur 258. Die sozialdemokratische CHP hat 132 und die linke HDP 79 Parlamentarier. Möglichkeiten der Koalitionsbildung gibt es: Die AKP könnte sich nun vom gescheiterten Präsidenten distanzieren und einer demokratischen Verfassung zum Durchbruch verhelfen.

Ich habe mittlerweile Stimmen in der AKP gehört, die andeuten, dass Erdoğan nicht mehr den bisherigen Rückhalt hat. Sie kritisieren den Vorsitzenden der rechten MHP, Partei der Nationalen Bewegung, weil er gleich Neuwahlen gefordert hat. Zumal nicht zu erwarten ist, dass die AKP dabei ein besseres Ergebnis erreichen könnte. Die Partei wird also in den kommenden 45 Tagen versuchen, eine Koalition hinzukriegen.

Trotz Zehntausender Wahlbeobachter soll es zu Manipulationen gekommen sein, 180 Angriffe gab es auf die HDP während des Wahlkampfs. Hat die AKP dabei nicht eine entscheidende Rolle gespielt?

Ja, sie hat mit dem Feuer gespielt, diese Attacken geschehen lassen und nicht eingegriffen. Das wird die Bevölkerung nicht vergessen. Sie hat Jugendliche aus Schulen mit Bussen zu Erdoğans Wahlveranstaltungen gekarrt und gezwungen, daran teilzunehmen, um die absolute Mehrheit bei der Wahl zu gewinnen. Trotzdem hat es nicht geklappt, und obendrein ist jetzt alles publik geworden. Will die AKP noch ernst genommen werden, muss sie sich neu formieren – ohne Erdo?an.

Aber keiner will doch mit der AKP eine Regierung bilden. CHP-Parteichef Kemal Kiliçdaroğlu meinte, nicht mit »Lügnern und Dieben« zusammenkommen zu wollen; der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, sagte: »Wir werden mit der AKP definitiv nicht koalieren«; die rechte MHP will auch nicht. Wie soll eine Koalition funktionieren?

Wenn die AKP sich etwas einfallen lässt, ist es nicht ausgeschlossen.

Sind Sie da nicht zu optimistisch? Erdoğan hatte sich in den Wahlkampf eingemischt, obwohl der Präsident laut Verfassung neutral sein muss – ist es nicht wahrscheinlich, dass es zu neuen Verstößen kommt?

Die AKP hat nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie tritt mit Erdoğan noch aggressiver auf und macht noch mehr Druck, oder sie sagt: »Wir können uns noch retten und zur demokratischen Haltung zurückkehren – ohne Erdoğan«. Letztlich bleibt der Partei nichts anderes übrig, sie hat sonst verloren. Neuwahlen würden ihr nichts bringen; da sind sich alle einig.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Dienstag, 9. Juni 2015


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