Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das große Zwitscherkomplott

Türkei sperrt Zugang zu Kurznachrichtendienst Twitter *

Wer soll künftig die Verwaltung des Internets organisieren und nach welchen Regeln? Um solche Fragen geht es bei der Jahreskonferenz der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), die am Sonntag in Singapur beginnt. Da die US-Regierung als Folge der NSA-Überwachungsaffäre angekündigt hat, die Aufsicht über das Internet abzugeben, steht eine Neustrukturierung der »Internetregierung« ICANN an. Während autoritär regierte Länder wie China und Russland diese künftig den einzelnen Staaten unterstellen möchten, fordern die Wirtschaft und Gruppen der Zivilgesellschaft eine Selbstverwaltung durch die verschiedenen Akteure. Gerade Netzaktivisten fordern einen besseren Schutz der Netzfreiheit vor Internetriesen wie Google und Facebook, aber auch vor staatlicher Überwachung und Zensur.

Was die türkische Regierung von solchen Bestrebungen hält, machte sie in der Nacht zu Freitag deutlich: Kurz vor einer wichtigen Kommunalwahl ließ sie den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter sperren. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte tags zuvor auf einer Wahlkampfveranstaltung in Bursa angekündigt, gegen ein »ausländisches Komplott« vorgehen zu wollen. Twitter dient Gegnern der Regierung als Kommunikationsplattform, aber längst nicht nur diesen: Rund zwölf Millionen Nutzer zählt Twitter in der Türkei. Kein Wunder, dass zu Hause viel Kritik auf die Regierung einprasselte. Und auch im Ausland wurde das Vorgehen scharf verurteilt: von der EU-Kommission über die OSZE bis hin zur deutschen Regierung und allen Bundestagsfraktionen.

Viele türkische Twitterer umgingen freilich die Sperre: In den ersten zehn Stunden des Verbots wurden rund 500 000 Botschaften gezählt, die innerhalb der Türkei abgeschickt worden waren.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 22. März 2014


Erdogan – von Twitter-Vögeln umzingelt

Türkischer Ministerpräsident will kurz vor der Kommunalwahl »ausländisches Komplott mit der Wurzel ausreißen«

Von Jan Keetman, Istanbul **


Die Sperrung des Kurznachrichtendienstes Twitter in der Türkei sorgt für Empörung – selbst beim Staatspräsidenten.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag, gegen null Uhr, hat das für Kommunikation zuständige türkische Ministerium den Zugang zu Twitter gesperrt. Die Türkei ist damit das zweite Land nach China, das den Kurznachrichtendienst vollständig aussperrt. Als Grund werden vier Gerichtsentscheidungen gegen Twitter angegeben. Zwei Minister, die im Dezember wegen Korruptionsskandalen zurückgetreten waren, hatten gegen den Tweet »Keine Stimme für die Diebe« geklagt. Dies erfolgte auf der Grundlage eines neuen Internetgesetzes, das vorgibt, Persönlichkeitsrechte zu schützen, sich aber auch bestens zur Zensur eignet.

Vor einigen Tagen hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan während einer TV-Gesprächsrunde gesetzliche Schritte gegen Facebook und YouTube bis hin zu einem Verbot für die Zeit nach der Kommunalwahl am 30. März angekündigt. Zur Sperrung von Twitter gab ebenfalls der Ministerpräsident das Startsignal. Bei einer Rede in Bursa sagte Erdogan, Twitter sei Teil eines ausländischen Komplottes und dieses werde er »mit der Wurzel ausreißen«. Was die internationale Gemeinschaft dazu sagen werde, sei ihm egal: »Jeder wird die Stärke der Türkischen Republik sehen.«

Die mit Erdogan verfeindete Gülen-Bewegung hatte auf YouTube kompromittierende Bild- und Tondokumente ins Internet gestellt und diese via Twitter angekündigt. Darunter waren Telefongespräche, in denen Erdogan seinen Sohn Bilal anweist, größere Geldsummen zu verstecken. An einer Stelle ist von 30 Millionen Euro die Rede. Erdogan sagte, die Mitschnitte seien Montagen, beschwerte sich aber darüber, dass seine Telefongespräche abgehört werden.

Wenige Stunden nach Erdogans Rede in Bursa war Twitter gesperrt. Allerdings erklärte der Fernsehsender CNNTürk seinen Zuschauern, wie sie das Verbot im Internet umgehen könnten. Der Internetseite der Zeitung »Hürriyet« war ein persönlicher Tipp von Twittergründer Jack Dorsey zu entnehmen, wonach sich Twitter via SMS über zwei Telefonnummern in der Türkei erreichen lasse. Zwölf Millionen Nutzer hat der Kurznachrichtendienst in dem Land.

Erdogan-Gegner antworteten mit einer Mischung aus praktischen Tipps und Spott: Unbekannte malten IP-Adressen nichttürkischer Server über Wahlplakate der Regierungspartei. Auch schwirrte eine elektronische Postkarte durch’s Internet, in der der Premier von blauen Twittervögeln umzingelt ist. Daneben stand: »Hey Erdogan, kennst Du von Hitchcock ’Die Vögel’? Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen!« Die bekannte Sängerin und Schauspielerin Seren Serengil tweetete: »Guten Morgen Iran, pardon Türkei ...« Der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammern, Metin Feyzioglu, reichte einen Eilantrag gegen die Twitter-Sperrung ein, denn diese verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen türkisches Recht.

Mit seiner Twitter-Blockade empört Premier Erdogan viele Türken – zwölf Millionen Nutzer zählt der Dienst in dem Land. Und selbst Staatspräsident Abdullah Gül kritisierte das Verbot – in einem Tweet.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 22. März 2014


Erdogans Bumerang

Velten Schäfer über die Blockade von Twitter in der Türkei ***

2013 fielen 90 000 Benutzer des Kurzmitteilungsdienstes Twitter aus allen Wolken: Ein britischer Internetexperte machte öffentlich, dass ein von ihnen abonnierter mexikanischer Kurzkommentator in Wirklichkeit nicht existierte, sondern von ihm selbst simuliert worden war. Das zeige, dass Twitter-Prominenz nichts über die Wahrhaftigkeit von Inhalten sage.

Wie das Internet überhaupt ist auch das kommerzielle Unternehmen Twitter nicht Technik gewordene Demokratie. Längst kümmern sich Heerscharen von »Social-Media-Experten« darum, auch auf dieser Plattform bezahlte und Tendenzinhalte durch den persönlich wirkenden Verbreitungsmodus des Dienstes mit jenem Hauch des »Echten« zu versehen, der in medialisierten Gesellschaften unbezahlbar ist.

Dass der türkische Premier, über den auf Twitter peinliche, teils strafrechtsrelevante Enthüllungen verbreitet worden waren, nun offenbar den Dienst hat blockieren lassen, ist dennoch nicht nur eine Attacke auf die Meinungsfreiheit – sondern vor allem fast unglaublich plump. Und wohl ein Bumerang, denn außer- wie innerhalb des Internets verleiht nichts einer Nachricht so viel Glaubwürdigkeit wie deren Unterdrückung.

Der Vorgang zeigt Erdogans Nervosität vor den anstehenden Kommunalwahlen. Doch helfen wird ihm dieses medienpolitische Husarenstück auf keinen Fall. Schon deshalb, weil solche Sperren allemal umgangen werden können.

*** Aus: neues deutschland, Samstag, 22. März 2014 (Kommentar)


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