Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogan fordert den nächsten Wahlsieg

Der künftige Präsident erteilt seinem Nachfolger als Partei- und Regierungschef einen klaren Auftrag

Von Jan Keetman *

Die türkische Regierungspartei AKP hat am Mittwoch Ahmet Davutoglu zum Nachfolger des scheidenden Parteichefs Recep Tayyip Erdogan gewählt. Der wird am Donnerstag als Präsident vereidigt.

Wenn eines beim theatralischen Abschied Erdogans von seiner Partei klar war, so war es die Tatsache, dass es kein Abschied sein wird. Als Erdogan die in Türkis getauchte Arena in Ankara betrat, wurde er mit den Worten empfangen: »Der Mann der Nation und die Partei der Nation umarmen sich!«

Als neuer Staatspräsident, der am heutigen Donnerstag vereidigt wird, sollte Recep Tayyip Erdogan laut Verfassung über den Parteien stehen und darf keiner Partei angehören. Formal wird dem natürlich entsprochen: Der bisherige Außenminister Ahmet Davutoglu übernimmt den Parteivorsitz von Erdogan, der seinem Nachfolger bestätigt, er sei kein »Verwahrer«. Doch dann stellt er der Partei, die formal nicht mehr seine ist, die Aufgabe, die Wahlen 2015, 2019 und 2023 zu gewinnen. »Und so werden wir unser Ziel 2023, so Gott will, erreichen!«

Verfassung ist Verfassung, aber emotional und politisch sind Erdogan und die Partei, die er 13 Jahre und 13 Tage lang geführt hat, nicht zu trennen. Die erst 2001 gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), von ihrem Vorsitzenden inoffiziell in »Ak Parti« (Weiße Partei) umbenannt, hat bisher eine bei Wahlen in der Türkei einmalige Erfolgsgeschichte hingelegt. Sie hat einen riesigen, bis ins letzte Stadtviertel organisierten Apparat, aber nur ein Gesicht, eine Stimme. Davutoglu weiß das natürlich. Es liegt ihm ohnehin im Blut zu wissen, wie man sich diplomatisch fügt. Er wird das Vertrauen, das Erdogan in ihn gesetzt hat, sicherlich nicht enttäuschen.

Indessen warten auf den neuen Parteichef, der zugleich Ministerpräsident werden wird, einige Entscheidungen, die Erdogan selbst vielleicht ungern mit seinem Namen verbunden sehen möchte. Das betrifft insbesondere Syrien und den Islamischen Staat (IS). Schon kreisen US-amerikanische Drohnen über Syrien, um auch dort Luftschläge gegen den IS vorzubereiten. Ob Barack Obama darauf besonders scharf ist oder nicht, er kann es nicht ignorieren, dass der IS seine logistische Basis in Syrien hat. Die Türkei tut derweil bisher so, als ginge sie die Sache nichts an. Das Thema wird aus der innenpolitischen Diskussion sorgsam herausgehalten, und gegenüber ausländischen Diplomaten verweist man darauf, dass der Türkei wegen einiger noch immer vom IS gefangen gehaltener türkischer Diplomaten die Hände gebunden seien. Doch ähnliche Probleme haben auch andere Staaten, die sich sehr wohl eingemischt haben.

Es ist schon eigenartig: Von Erdogan, seiner Partei und islamischen Kreisen orchestriert, hat die Türkei zwei Monate lang gegen den Gaza-Krieg protestiert. Gleichzeitig wurde die wichtigste turkmenische Stadt in Irak, Tell Afer, nicht weit von der türkischen Grenze entfernt, vom IS überrannt. Schiitische Moscheen wurden gesprengt, Tausende Menschen in die Flucht getrieben. Die von 17 000 Turkmenen bewohnte Stadt Amerli in Nordirak wird vom IS regelrecht belagert und ausgehungert. Doch Ankara, das sich immer als Schutzmacht der Turkmenen verstanden hat, schaut einfach weg. Irgend etwas wird sich Davutoglu einfallen lassen müssen, auch weil die USA hinter den Kulissen Druck machen. Die Türkei muss sich positionieren, auch wenn es schwer fällt.

Dass sie vor einer Lösung steht, glaubt außer Abdullah Öcalan kaum jemand. Es sieht so aus, als hielte Erdogan Öcalan immer wieder mit der Andeutung von Versprechen hin, bis er die nächste Wahl gewonnen hat. Die PKK soll so lange stillhalten. Aber ewig kann das so nicht weitergehen. Erdogan hat Davutoglu klar gesagt, was seine Aufgabe ist, nämlich zunächst die Wahlen 2015 zu gewinnen. Auch wenn er selbst offiziell an diesen Wahlen nicht teilnimmt, wird es wieder eine Erdogan-Wahl werden. Er braucht eine Parlamentsmehrheit von 60 Prozent, um ein Referendum über eine Verfassungsänderung ansetzen zu können. Die Türkei soll eine Präsidialverfassung bekommen, in der der Präsident wie in den USA auch Regierungschef ist und einer Partei angehört. Dann kann Davutoglu wieder in den diplomatischen Dienst wechseln. Aufgrund des türkischen Wahlsystems sind 60 Prozent der Parlamentssitze für Erdogan erreichbar, wenn auch nicht sicher.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 28. August 2014


Noch immer herrscht die Rangordnung »Guter Kurde – böser Kurde«

Dem türkischen Staat und mit ihm der gesamten westlichen Allianz fehlt mehr denn je ein Konzept für das heiße Eisen einer Eigenstaatlichkeit

Von Roland Etzel **


Die Kurden gelten als das zahlenmäßig größte Volk ohne eigenen Staat. Die Chancen dafür waren bis jetzt gering, sind aber durch den offenkundigen Zerfall Iraks als Staat deutlich gestiegen.

Obwohl es auf dem Kongress der Regierungspartei in Ankara überhaupt keine Rolle spielte, wird es sich nicht von der politischen Tagesordnung der Türkei verdrängen lassen: Der Kampf der kurdischen Minderheit in der Südosttürkei um Selbstbestimmung dauert seit Gründung der Republik an und ist auch heute das gravierendste innenpolitische Problem des Landes. Auch der bisherige Außenminister und nunmehrige designierte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wird sich daran nicht vorbeimogeln können.

Die Kurdenproblematik wird Davutoglu sogar noch unmittelbarer bedrängen als seine Amtsvorgänger, denn der Einfluss Ankaras auf den Verlauf der Dinge ist zusehends geschrumpft. Die auf türkischem Territorium operierende Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kann sich dies nicht auf die eigenen Fahnen schreiben. Aber der Bürgerkrieg in Irak hat neue Fakten geschaffen.

Der eminent schnelle Aufwuchs der Gotteskrieger-Truppe »Islamischer Staat« (IS) und die damit einhergehende Pulverisierung der staatlichen Strukturen der Republik Irak haben die kurdische Minderheit in eine Schlüsselposition gehoben. Die Autonome Region Kurdistan mit ihrer Hauptstadt Erbil – bislang mit etwa 41 000 Quadratkilometern nur ein Zehntel der Fläche Iraks im Nordosten an der Grenze zu Iran und der Türkei – soll IS militärisch Paroli bieten, christliche und jesidische Minderheiten schützen und möglichst auch noch für die irakische Zentralregierung in Bagdad die Kohlen aus dem Feuer holen. Das wird in den westlichen Ländern von den Kurden erhofft. Von den aus der Türkei in Nordirak eingesickerten PKK-Kämpfern wird das, obwohl man sie hier weiterhin Terroristen nennt und wie Parias behandelt, unausgesprochen miterwartet.

Dies ist in mehrfacher Hinsicht reichlich vermessen. Die kurdischen (Peschmerga)-Kämpfer sind bislang nicht wie eine reguläre Armee bewaffnet. Vor allem aber sollen sie nun auch noch gegen ihr strategisches Ziel agieren – den eigenen Staat. Dieser setzt nun einmal die Abspaltung von Irak voraus. Der war in den vergangenen Jahren seit der US-Invasion Iraks im Jahre 2003 noch stark genug, den kurdischen Anspruch abzulehnen. Kontrolle über das Territorium aber hatte Bagdad schon lange nicht mehr. Bereits seit der Einrichtung einer vom UN-Sicherheitsrat legitimierten Flugverbotszone in Nordirak ab 1997 hatten die Streitkräfte von Staatschef Saddam Hussein keinen Zugriff mehr auf die kurdischen Gebiete. Nach dessen Sturz und Hinrichtung ist mit Dschalal Talabani sogar ein Kurde bis vor einem Monat Staatspräsident gewesen.

Dennoch hatten sich zwischen den die Regierung in Bagdad dominierenden Schiiten und den Kurden die Widersprüche in den letzten drei Jahren erheblich verschärft. Die Haupt-Machtzentren der Kurden, die Kurdische Demokratische Partei (KDP) mit Masud Barsani und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) mit Talabani an der Spitze, sind sich trotz aller Rivalität im Streben nach einer schnellen Staatsgründung einig – einschließlich einer erheblichen Ausdehnung des Autonomiegebiets auf etwa 79 000 Quadratkilometer. Darin neu enthalten soll auf jeden Fall die 800 000-Einwohner-Stadt Kirkuk sein, eines der wichtigsten Erdölfördergebiete Iraks. Als die Bagdader Armee im Frühjahr in panischer Flucht vor den IS-Truppen Kirkuk verließ, rückten die Peschmerga ein und werden die Stadt wohl kaum freiwillig verlassen.

Zwar versuchte US-Vizepräsident Joe Biden gerade, Erbil zur Kooperation mit Bagdad zu ermahnen. In einem Telefonat seien sich beide Politiker am Sonntag über die »Bedeutung der Fortsetzung der historischen Kooperation« zwischen Kurden und irakischen Sicherheitskräften einig gewesen, teilte das Weiße Haus mit. Da dürfte in Washington einiges Wunschdenken im Spiele gewesen sein. Effektiv haben die USA gegen die Kurden kein Druckmittel in der Hand. Jahrzehntelang haben sie sie gegen Bagdad aufgebaut und damit ihre Hoffnung auf Eigenstaatlichkeit genährt, so dass eine plötzliche Kehrtwendung ausgeschlossen erscheint.

NATO-Mitglied Türkei hat dies tolerieren müssen, wenngleich misstrauischen Auges. Als stille Verabredung zwischen Ankara, Erbil und Washington galt: Die Kurden – und zwar ausschließlich die irakischen – können sich ihren Selbstbestimmungswünschen hingeben, solange sie keinen Gedanken an einen gemeinsamen kurdischen Staat mit den auf türkischem Territorium liegenden Gebieten verschwenden. Bei Rivalität bis Feindschaft zwischen KDP und PUK einerseits und PKK andererseits hat das auch stets funktioniert.

Nun aber kämpfen irakische und türkische Kurden praktisch gemeinsam gegen IS. Selten war die Schizophrenie arrogant-willkürlicher westlicher Einteilung der Welt in Helden auf der einen und Schurken auf der anderen offensichtlicher. Der Parteitag in Ankara ließ aber nicht erkennen, dass sich die Türkei dieser Erkenntnis stellen möchte.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 28. August 2014


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Türkei-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage