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"Das war praktisch Mord"

Die Gewerkschaften sehen in der Privatisierung einen Grund für das Grubenunglück in Soma. Prekäre Beschäftigung erschwert Organisierung. Ein Gespräch mit Eyüp Özer *


Eyüp Özer ist Sprecher der internationalen Abteilung der türkischen Vereinigten Metallarbeitergewerkschaft.


Ihre Vereinigte Metallarbeitergewerkschaft und deren Dachverband DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei) sprechen angesichts des Grubenunglücks im türkischen Soma, bei dem am 13. Mai 301 Bergleute ums Leben kamen, von einem Massaker. Weshalb?

Weil es offensichtlich war, daß so etwas passieren mußte. Die Regierung hatte die Voraussetzungen dafür geschaffen, in dem sie die Grube privatisierte und die Aufsicht über die Sicherheitsvorkehrungen unterließ. Das war praktisch Mord.

Daher haben wir am Tag nach dem Unglück zu einem Proteststreik aufgerufen. Bei verschiedenen Demonstrationen in den großen Städten des Landes, die sich daraus entwickelten, kam es zu schwerer Polizeigewalt. Zwei Menschen wurden von der Polizei erschossen. Auch der Vorsitzende unseres Verbandes wurde bei einer dieser Demonstrationen schwer verletzt.

Wer hatte die Demonstrationen organisiert?

Neben der DISK auch die KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter) sowie Berufsverbände der Architekten, Ingenieure und Ärzte. KESK und DISK arbeiten eng zusammen, sind aber getrennt, weil das Gesetz die gemeinsame Organisierung von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und des Privatsektors verbietet. An den Demonstrationen haben natürlich auch viele teilgenommen, die nicht in Gewerkschaften organisiert sind.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Grubenunglück und der vorangegangenen Privatisierung?

Der Besitzer der Grube in Soma, Alp Gürkan, hat in einem Interview gesagt, daß er die Kohle statt für 130 bis 140 US-Dollar (95 bis 103 Euro), wie zuvor unter staatlicher Regie, nun für 23,8 US-Dollar (17,4 Euro) pro Tonne fördern könne. Doch wie sind derart niedrige Kosten möglich? Indem die Löhne gekürzt, die Arbeitsbedingungen verschlechtert und an der Sicherheit gespart wird. Das Ergebnis haben wir jetzt gesehen.

Wird in der Türkei viel privatisiert?

Die meisten staatlichen Betriebe sind inzwischen privatisiert. In den 1970ern hatte es – zumeist unter staatlicher Kontrolle – eine große Industrialisierungswelle gegeben. Viele Unternehmen waren im Besitz der öffentlichen Hand. Doch nachdem auch uns die neoliberale Welle erreicht hat, die so ziemlich alle Länder heimsucht, sind die meisten inzwischen privatisiert. Nicht ohne Widerstand: Die Arbeiter der Tabakindustrie haben sich 2009 und 2010 in einem langen, heftigen Kampf gegen die mit der Privatisierung verbundenen Lohnkürzungen und Entlassungen gewehrt. Ein anderes Beispiel sind die Auseinandersetzungen bei dem einst staatlichen Papierhersteller Seka, wo die Arbeiter sich mit einer Betriebsbesetzung gegen die Privatisierung zu wehren versuchten.

Während der Diktatur in den 1980er Jahren war das Militär einer der größten Besitzer von Industriebetrieben. Hat sich das geändert?

Dem Militär gehört noch immer eine Reihe von Unternehmen. Der Pensionsfonds des Militärs, Oyak, kontrolliert eine Holding von 30 Firmen mit zusammen über 30000 Beschäftigten. Aber das Militär ist nicht mehr wie einst eine wirklich große wirtschaftliche Kraft.

Im letzten Jahr hat es starke soziale Bewegungen gegeben, die die Regierung herausforderten. Welche Rolle spielten Gewerkschaften dabei?

Eher eine kleine. Soziale Forderungen standen nicht im Vordergrund, und viele Arbeiter haben sich nicht als Teil der Bewegung gesehen. Aber wir haben uns natürlich an den Protesten beteiligt.

Einer der Gründe, weshalb wir nicht so aktiv waren, liegt in unsere Schwäche. Vor dem 1980er Militärputsch war DISK der führende Verband in der Arbeiterklasse. Die Belegschaften vieler großer Industriebetriebe waren bei uns organisiert; die Gesellschaft war hochgradig politisiert, und wir hatten viele militante Auseinandersetzungen. Aber unter der Diktatur wurden unsere Gewerkschaften zerschlagen und die Führer inhaftiert. Ab 1992 konnten einige wieder aufgebaut werden, aber unser Einfluß ist sehr begrenzt.

Macht es die Radikalisierung, die man während der Proteste letztes Jahr sehen konnte, einfacher, neue Mitglieder für die Gewerkschaften zu gewinnen?

Vielleicht hier und da. Aber die meisten Demonstranten waren sehr jung und ohne jede industrielle Erfahrung. Wenn sie arbeiten, dann in prekären Verhältnissen im Dienstleistungssektor, und da ist die Organisation schwierig. Die meisten Gewerkschaften konzentrieren sich eher auf große Betriebe. Doch natürlich hätte man diese junge radikalisierte Bewegung mit der Arbeiterbewegung zusammenbringen müssen. Leider waren wir zu schwach dafür.

Was sind die Perspektiven? Was würde passieren, wenn Recep Tayyip Erdogan tatsächlich gestürzt werden könnte?

Das kommt zu der traurigen Geschichte noch hinzu. Es gibt in der Türkei keine radikale Linke als Alternative. Alle linken Gruppen sind sehr klein und zersplittert und haben in der Öffentlichkeit keinerlei Ansehen. Alle sagen, daß wir eine breite linke Partei brauchen, aber bisher gibt es die nicht. Es gibt einfach keine reale Alternative zu Erdogan, und deshalb kann er nach all dem, was er gemacht hat, auch nach seinem Verhalten gegenüber den Angehörigen der verunglückten Bergleute, einfach weitermachen.

Interview: Wolfgang Pomrehn

* Aus: junge Welt, Dienstag, 3. Juni 2014


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