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Soma im Ausnahmezustand

Um Proteste zu unterbinden, wird die Kohlestadt abgeriegelt / Premier Erdogan sitzt Krise aus

Von Jan Keetman *

Die Rettungsarbeiten in Soma sind eingestellt. Der Energieminister Taner Yildiz verkündete die traurige Bilanz: 301 tote Bergleute. Die Proteste halten an. Soma wurde von der Polizei abgeriegelt.

Es geht Schlag auf Schlag: Am Samstag verkündete der Energieminister Taner Yildiz das Ende des Brandes in der Kohlegrube von Soma und das Ende der Rettungsarbeiten. Am Sonntag wurden die Eingänge zur Grube zugemauert und die Annäherung an die Grube allen, inklusive Journalisten verboten.

Derweil herrscht in der Kleinstadt Soma der Ausnahmezustand. Aus Ankara, Istanbul, Izmir und dem benachbarten Denizli war Polizei und Gendarmerie in Soma zusammengezogen worden. Außerhalb der Stadt wurden Kontrollpunkte errichtet. Autos mit fremdem Kennzeichen wurden angehalten und die Reisenden nach dem Zweck ihrer Fahrt gefragt. Zum Teil wurden sie dann zurückgeschickt.

Der Gouverneur von Manisa hatte vorsorglich alle Demonstrationen und Kundgebungen in Soma verboten. Eine Gruppe von Anwälten und Gewerkschaftlern, insgesamt 36 Personen, die gekommen waren, um die Angehörigen der Opfer zu beraten, wurden ohne Begründung in ziemlich ruppiger Weise festgenommen. Nach Angaben des Anwaltes Selcuk Kozagacli, der auch dem Verein moderner Juristen in der Türkei vorsteht, wurden die Festgenommenen gefoltert. Ihm selbst wurde bei der Festnahme ein Arm gebrochen.

Erneut ging die Polizei auch in anderen Städten gegen Demonstranten vor. Wegen der Trauer sagte Staatspräsident Abdullah Gül alle Kundgebungen zum Tag der Jugend und des Sports, das ist einer von vier türkischen Nationalfeiertagen, der am 19. Mai begangen wird, ab. Nur offizielle Feiern dürfen stattfinden. Wer sich nicht im Rahmen der offiziellen Feiern bewegt, soll lieber trauern und zwar möglichst zuhause.

Indessen fiel auf, dass die Versuche, am Wochenende den Verboten zum Trotz dennoch zu demonstrieren, relativ wenig Zulauf hatten. Nur ein Jahr nach den Gezi-Protesten scheint sich Demonstrationsmüdigkeit breitgemacht zu haben. Schließlich hat es die Regierung Erdogan geschafft, selbst die größten Proteste einfach auszusitzen.

Es bleibt abzuwarten, wie sehr das totale Missmanagement der Krise Erdogan auch bei den 45 Prozent der Wähler geschadet hat, die seiner Partei und damit im Grunde vor allem ihm bei der Kommunalwahl Ende März noch die Stange gehalten haben. Erdogans Gewohnheit, im Falle von Schwierigkeiten nicht den kleinsten Fehler zuzugeben und stattdessen sofort in den Angriffsmodus zu schalten, hat diesmal kein gutes Bild geliefert. Erdogan erwies sich als unfähig, in seine Verteidigung auch nur einen Hauch von Anteilnahme zu integrieren. Stattdessen behauptete er, es könne gar keine Nachlässigkeiten gegeben haben, da erst vor kurzem eine Sicherheitsüberprüfung stattgefunden habe. Eine Behauptung, die ihm um die Ohren flog, als der Besitzer der Mine zugeben musste, dass es keinen Schutzraum gab. Dabei hatte die regierungstreue Zeitung »Star« bereits ein angebliches Foto davon veröffentlicht … Und dann war da noch Erdogans tretender Büroleiter, sein Sprecher, der behauptet, eben dieser Büroleiter sei krankgeschrieben, während selbiger offensichtlich weiter Dienst tut und schließlich die nicht ganz klaren Aufnahmen, auf denen Erdogan selbst schimpft und schlägt. Aber ob sich daran bei der Präsidentenwahl im August noch viele erinnern? Die gewaltige Übermacht der regierungsnahen Medien hat zwar Erdogans PR-Desaster nicht ganz verschleiern können, aber die Opposition konnte sich auch nicht profilieren. Ganz einfach, was sie sagte oder tat, wurde nicht gesendet und nicht gedruckt.

* Aus: neues deutschland, Montag, 19. Mai 2014


Der Energiehunger der Türkei

Stromverbrauch hat sich in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt – immer mehr heimische Braunkohle wird benötigt

Von Kurt Stenger **


Braunkohle ist der wichtigste heimische Energieträger in der Türkei. Wegen der stark steigenden Stromnachfrage steigt auch der Produktionsdruck auf die Zechenbetreiber – offenbar zu Lasten der Sicherheit.

Die Türkei ist ein Paradebeispiel für den Energiehunger von Schwellenländern: Das starke Wirtschaftswachstum mit Raten von durchschnittlich gut fünf Prozent hat dazu geführt, dass sich der Stromverbrauch allein in den letzten zehn Jahren nahezu verdoppelt hat – von 130 Milliarden auf 240 Milliarden Kilowattstunden. Weltweit verzeichnete nur China ein höheres Nachfragewachstum. Und der Bedarf wird weiter massiv steigen, wie der Chefökonom der Internationalen Energie-Agentur, Fatih Birol, erwartet: »Allein in Bezug auf den Strom muss die Türkei geschätzte 45 Gigawatt zusätzliche Leistungskapazität hinzufügen – mehr als jedes andere Land in Europa.« Um eine Vorstellung zu bekommen: Der gigantische Atatürk-Staudamm im Südosten hat eine Leistung von 2,4 Gigawatt, und das größte Kohlekraftwerk des Landes, Afsin Elbistan B in der Südtürkei, bringt es auf 1,4 Gigawatt.

Kohle macht ein gutes Viertel des gesamten Energieverbrauches aus. Braunkohle ist neben Wasserkraft bislang der einzige relevante heimische Energieträger – neben einigen großen Wasserkraftwerken, die auf Proteste von Umweltschützern und aus den Nachbarländern stoßen. Hingegen muss Erdgas, bislang führend bei der Stromerzeugung, ebenso wie Steinkohle nahezu komplett importiert werden. Abhängigkeit machte sich Anfang dieses Jahres schmerzlich bemerkbar, als der massive Wertverfall der türkischen Währung Lira den Importeuren innerhalb von nur einer Woche zwei Milliarden Dollar Verlust bescherte – Öl und Gas werden in der US-Währung gehandelt. Erst die massive Leitzinserhöhung der türkischen Zentralbank sorgte für Entspannung, aber die Importpreise bleiben hoch.

Die Regierung setzt daher auf den Ersatz der Importe. Allerdings kommt der Ausbau von Wind-, Solarenergie trotz sehr guter Bedingungen im Land wegen der geringen Lobby nur zögerlich voran. Ankara setzt auf große Lösungen. So ist der Bau von insgesamt drei Atomkraftwerken geplant – gebaut werden sie von Firmen aus Russland, Frankreich und Japan. Doch die Meiler werden frühestens 2023 bereitstehen, wobei Verzögerungen beim Bau eher die Regel sind.

Zumindest kurz- und mittelfristig ist der Druck gewaltig, immer mehr heimische Braunkohle aus dem Boden zu holen. Um rund sieben Gigawatt sollen die Kohle-Kraftwerkskapazitäten bis zum Jahr 2021 steigen. Vor einem Jahr schloss der staatliche Energieversorger EÜAS mit dem in Abu Dhabi ansässigen Staatskonzern TAQA einen Vertrag im Wert von zwölf Milliarden Dollar über den Bau neuer Kraftwerke und Tagebau-Kohleförderung in der Region Elbistan.

Groß ist der Druck, auf Teufel komm raus zu fördern. Im Jahr 2002 wurden etwa 52 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert, zehn Jahre später waren es schon 78 Millionen. Die größte Lagerstätte ist Elbistan, wo über drei Milliarden Tonnen vermutet werden. Es folgt der Bezirk Soma mit 800 Millionen Tonnen.

Das Problem bei der Braunkohle ist der deutlich niedrigere Energiegehalt als bei Steinkohle. Daher benötigt man riesige Mengen. Importe lohnen sich nicht, Braunkohle muss meist lokal verarbeitet werden. Der Druck gehe hier eher von den Zechen- und Kraftwerksbetreibern aus, die ihre Gewinne maximieren wollten, sagte in deutscher Energiefachmann, der lange im Land gearbeitet hat, gegenüber dpa. Die Privatisierung vieler Zechen hat den Kostendruck vielfach noch verstärkt. Experten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beklagen die sehr hohe Unfallgefahr in türkischen Bergwerken.

** Aus: neues deutschland, Montag, 19. Mai 2014


Gegenwind für Erdogan

Deutsche Politiker stellen sich gegen Besuch des türkischen Ministerpräsidenten ***

Berlin. Immer mehr Politiker wenden sich gegen einen Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan kommende Woche in Köln. Angesichts des Umgangs der Regierung in Ankara mit der Bergwerkskatastrophe in Soma nannte es die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz von der SPD, »misslich«, dass Erdogan kurz vor der Europawahl in Deutschland eine große Veranstaltung abhalten wolle. Die Bilder zum Vorgehen gegen Demonstranten seien »absolut erschütternd und nicht hinnehmbar«. Özoguz sagte der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, Bilder wie jenes des tretenden Regierungsberaters, »entfernen die Türkei weit von demokratischen Verhältnissen«.

Die LINKE-Politikerin Sevim Dagdelen warnte, Erdogan werde »seinen geplanten Wahlkampfauftritt in Köln wieder dazu nutzen, um zu spalten und die Menschen aufeinander zu hetzen«. Bei der Wahl des türkischen Präsidenten am 10. August können erstmals auch außerhalb der Türkei lebende Türken ihre Stimme abgeben. Sie nannte es »zynisch«, dass Premier Erdogan den Tod der Bergarbeiter, »als normalen Unfall bezeichnet« habe. Sie forderte die Bundesregierung und die Europäische Union auf, »die neoliberale Beitrittspolitik mit Deregulierungen, Privatisierungen und so genannten Liberalisierungen, die sich in der Türkei mörderisch auswirkt, nicht weiter voranzutreiben«.

Der SPD-Außenpolitiker Dietmar Nietan sagte, die große Koalition solle das Verhalten Erdogans zum Anlass nehmen, um »unsere Strategie gegenüber der Türkei zu überdenken«. Deutschland müsse die Kräfte von Demokratie und einer Zivilgesellschaft stärken.

Der ehemalige Fraktionschef der Grünen Jürgen Trittin sagte der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, Erdogan habe »jedes Gefühl für die Realität verloren«. Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte, Erdogan verwandle die tiefe Trauer vieler Türken in Wut.

Die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner plädierte dafür, dass die in Deutschland lebenden Türken dem Auftritt Erdogans fernbleiben.

*** Aus: neues deutschland, Montag, 19. Mai 2014


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