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Ankaras Massaker

Zivilisten bei türkischem Luftangriff auf Dorf im Nordirak getötet. Kurdischer Autonomiepräsident Barsani fordert PKK zum Abzug auf

Von Nick Brauns *

Bei Angriffen der türkischen Luftwaffe auf ein kurdisches Dorf im Nordirak sind am Samstag neun Zivilisten – darunter eine Mutter mit ihren fünf Kindern – getötet worden. Weiter 15 Bewohner des Ortes Zergele in den Kandil-Bergen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt, als F-16-Kampfflugzeuge in zwei Angriffswellen acht Bomben abwarfen. »Es gab hier sechs Häuser, die nun alle zerstört sind«, erklärte einer der Bewohner, Feqii Muhammed, gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur Firat News. »Die Menschen, die hier angegriffen wurden, sind unschuldige Zivilisten.«

Das türkische Außenministerium behauptete dagegen, die Attacke habe einem Camp der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegolten, in dem sich hochrangige PKK-Funktionäre aufgehalten hätten. Nach Geheimdienstinformationen sei der Ort »frei von Zivilisten« gewesen, doch die PKK habe »Zivilisten als menschliche Schutzschilde« missbraucht. Das Massaker weckt Erinnerungen an den Luftangriff auf das Dorf Roboski im türkisch-irakischen Grenzgebiet, im Dezember 2011, bei dem 34 vom Geheimdienst zu Guerillakämpfern deklarierte Schmuggler getötet worden waren.

Der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Masud Barsani, verurteilte zwar den Luftangriff auf Zergele. Gleichzeitig forderte er gegenüber seinem Haussender Rudaw jedoch die PKK, deren Guerilla derzeit an der Seite der Peschmerga gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) kämpft, zum Verlassen des Nordirak auf. »Die PKK muss das Schlachtfeld von der irakischen Region Kurdistan fernhalten, damit keine Zivilisten Opfer dieses Krieges werden«, erklärte Barsani.

Nach Angaben der amtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu vom Wochenende wurden während der seit einer Woche andauernden Luftangriffe auf kurdische Stellungen im Nordirak bereits 260 PKK-Mitglieder getötet und 400 verletzt. Die PKK meldete dagegen nur wenige Opfer. Bei Vergeltungsaktionen der Guerilla starben am Wochenende in der Türkei nach PKK-Angaben 14 Soldaten und zwei Polizisten. Zwei ihrer Kämpfer seien ebenfalls umgekommen. Bei einer Razzia im osttürkischen Agri exekutierten Spezialeinheiten der Polizei nach Angaben von Firat in der Nacht zum Samstag drei Brüder.

Während täglich Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Irak und der Türkei geflogen werden, gab es seit Beginn des von der Regierung der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ausgerufenen »Krieges gegen den Terror« nach Medienberichten erst drei Angriffe auf den IS im Norden Syriens. Dagegen beklagt die Führung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) am Wochenende fortgesetzte türkische Militäraktivitäten gegen die dortige Selbstverwaltungsregion Rojava. So hätten Kampfflugzeuge zeitgleich mit einem erneuten IS-Angriff die syrischen Städte Sarrin und Kobani überflogen.

Unter den innerhalb einer Woche unter Terrorverdacht in der Türkei festgenommenen 1.200 Personen befinden sich nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD nur 140 mutmaßliche IS-Anhänger. Bei den übrigen handelt es sich um kurdische oder sozialistische Aktivisten. Die Regierung wende sich »mehr virtuell als real« gegen den IS, bemerkt daher der frühere türkische Botschafter in den USA und jetzige Politiker der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Faruk Logoglu, gegenüber der konservativen Tageszeitung Today’s Zaman vom Sonntag. »Das wirkliche Ziel der AKP-Regierung ist nicht der IS, sondern die PKK.«

* Aus: junge Welt, Montag, 3. August 2015


Despotenkumpanei

Barsani paktiert mit Ankara

Von Nick Brauns **


Die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) solle den Nordirak verlassen, um Zivilisten nicht weiter durch türkische Luftangriffe auf ihre Camps in den Kandil-Bergen zu gefährden. Das erklärte der Präsident der kurdischen Autonomieregion, Masud Barsani, als Reaktion auf die Bombardierung des Dorfes Zergele, bei der am Samstag neun Zivilisten ums Leben kamen. Kritik an der Verletzung der territorialen Souveränität des Irak durch die Türkei kam aus dem Präsidialamt in Erbil dagegen nur zögerlich.

Den kurdischen Präsidenten verbinden mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan nicht nur lukrative Ölgeschäfte. Ebenso wie Erdogan und dessen Regierungspartei AKP in der Türkei, hat sich der Barsani-Clan mit seiner feudalistisch geführten Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) den Staatsapparat zur schamlosen Bereicherung einverleibt. Und ebenso, wie Erdogan Opposition gegen seinen autoritären Regierungsstil niederknüppeln lässt, geht der KDP-Sicherheitsdienst mit harter Hand gegen Kritiker des Präsidenten vor, bis dahin, dass diese in Geheimgefängnissen gefoltert werden.

Doch auch die Sorge um den Erhalt ihrer persönlichen Macht verbindet die beiden Despoten. Bei der Parlamentswahl im Juni verfehlte die AKP nicht nur das Ziel einer verfassungsändernden Mehrheit zur Einführung einer auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialdiktatur, sondern sogar die zur weiteren Alleinregierung notwendige Mehrheit. Um im Falle von Neuwahlen sein Ziel doch noch zu erreichen, zögerte der türkische Präsident nicht, einen neuen Krieg gegen die Kurden vom Zaun zu brechen. Dahinter steckt das Kalkül, in einer chauvinistisch aufgeheizten Stimmung nationalistische Wähler zurückzugewinnen und die linke, prokurdische Opposition wieder unter die Zehn-Prozent-Hürde zu treiben.

In diesem Monat endet Barsanis schon mehrfach verlängerte Präsidentschaft. Um ihm eine erneute Amtszeit zu ermöglichen, ist eine Verfassungsänderung notwendig. Dafür warb vor wenigen Tagen eine Delegation des türkischen Außenministeriums in Erbil. Im Gegenzug für einen Verbleib Barsanis an der Spitze des Kurdengebiets und eine Distanzierung der dortigen Regierung von der PKK bot Ankara eine Festigung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Autonomieregion an.

Heute vor einem Jahr begann die Offensive der Miliz »Islamischer Staat« (IS) auf die kurdischen Gebiete des Iraks. Während die KDP-Peschmerga kampflos zurückwichen, war es dem Eingreifen der PKK zu verdanken, dass Zehntausende Jesiden den Schlächtern entkommen konnten. Mit Hilfe der Guerilla konnte die IS-Offensive 40 Kilometer vor der kurdischen Hauptstadt Erbil gestoppt wurde. Barsani bedankte sich damals per Handschlag bei den PKK-Kämpfern. Daran sollte sich der kurdische Präsident erinnern, bevor er heute sein persönliches Schicksal an die AKP kettet. Denn von einem so zwischen die Kurden getriebenen Spaltkeil werden am Ende nur die AKP und der IS profitieren.

** Aus: junge Welt, Montag, 3. August 2015 (Kommentar)


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