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Traum der einen, Albtraum der anderen

Tayyip Erdogan ist der designierte neue Präsident der Türkei und hat bei der Wahl keinen Gegner zu fürchten

Von Jan Keetman *

Bei der ersten Direktwahl des Staatsoberhauptes in der Türkei gibt es zwar drei Kandidaten, aber einen glasklaren Favoriten: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Aus dem türkischen Internet kräht zurzeit in zahlreichen Versionen der Ekmeleddin Hahn. Das Tier verdankt seine Existenz Recep Tayyip Erdogan, der seinen Mitbewerber um das Präsidentenamt Ekmeleddin Ihsanoglu als »krähenden Hahn« bezeichnet hat und ein »Blumentopf« sei er obendrein. Der andere Bewerber, Selahattin Demirtas sei ohnehin »gekauft«. Erdogan beherrscht die Kunst des Mobbings, doch wehe dem Karikaturisten, der sich an Erdogan versucht.

Es ist ein Wahlkampf mit ungleich verteilten Karten. Erdogan führt ihn aus dem Amt des Ministerpräsidenten heraus, das staatliche Fernsehen ebenso im Rücken wie die Medien all jener Geschäftsleute, die sich staatliche Aufträge erhoffen. Als Regierungschef kann Erdogan bei jedem Wahlkampfauftritt dann immer noch gleich ein neues Krankenhauses, eine Straßenbahnlinie etc. versprechen. Süleyman Soylu, Vize in der islamisch-konservativen AKP hinter Erdogan, geht noch mehr in die Vollen. In seinen Versprechen rollen nur so die Milliardengeschenke. Es gipfelt in einer »nationalen Rakete« und einem »Spionagesatelliten«. Dann soll auch die Bevormundung durch das Ausland enden, die seit dem Frieden von Karlowitz (1699!) bestehe.

Erdogan selbst appelliert vor allem an eine konservative, türkische Identität. Und das geht so: Erdogan tritt auf und sagt, der Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroğlu könne doch ruhig zugeben, dass er Alewit sei. Das könne man doch ruhig sagen, so wie sein Gegenkandidat Demirtas sagen könne, dass er Kurde sei. Er, Erdogan, würde doch auch sagen: »Ich bin Sunnit«. Damit hat sich Erdogan als sunnitischer Muslim empfohlen. Aber es geht auch heftiger: »Von mir haben sie gesagt, ich sei Georgier. Entschuldigen Sie, noch hässlicher haben sie es gesagt: Armenier haben sie gesagt. Aber ich bin ein Türke.« Wegen dieser Worte brach ein Sturm der Entrüstung los. Diejenigen, die sich über so etwas aufregen, wählen mich ohnehin nicht, mag Erdogan à la Berlusconi denken.

Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc erteilt unterdessen den Türkinnen Unterricht in sittsamer Lebensführung. Also alleine in Urlaub fahren geht gar nicht. Statt so viel am Telefon zu reden, sollten die Frauen lieber im Koran lesen, und wenn sie öffentlich ständig lachen, so gefährden sie ihre Keuschheit. Wieder gab es einen Sturm der Entrüstung, aber bei Erdogans konservativer Klientel dürften solche Worte ankommen. Eine neuere Umfrage hat gezeigt, dass drei von vier Türken, die fünfmal täglich beten, für Erdogan sind. Bei denen, die nicht beten, ist es nur einer von vier.

Zur Religiosität kommt der Nationalismus hinzu, der Traum von einer mächtigen Türkei und natürlich auch einer wohlhabenden Türkei, für den Erdogan steht. Erdogan ist einfach der Traum der konservativen Türkei und Träume will man sich nicht kaputtmachen lassen. Also wird man vergesslich. Das fängt mit dem Zitat von dem Georgier an, denn es stammt nicht von Erdogans Gegnern, sondern von Erdogan selbst. Mit Hinweis auf seine Familiengeschichte hat Erdogan bei einem Besuch in Georgien selbst gesagt: »Ich bin ein Georgier«. Der syrische Diktator Baschar al-Assad wurde von Erdogan jahrelang als »Bruder« bezeichnet. Nun soll das die Opposition sein, die Assad nicht als das erkennt, was er ist: ein Diktator.

Vehement kämpft Erdogan gegen den »Parallelstaat« des Sektenführers Fethullah Gülen. Gülen-Anhänger oder vermeintliche Gülen-Anhänger werden aus Polizei und Justiz entfernt. Aber als sich Gülen und Erdogan noch verstanden, war der »Parallelstaat« auch Erdogans Staat. Mit fabrizierten Anklagen brachten Gülens Leute Erdogans Gegner zu Tausenden hinter Gitter. Noch vor zwei Jahren antwortete Erdogans Sprecher Hüseyin Celik auf die Behauptung, Gülens Leute hätten den Staatsapparat unterwandert, mit der Floskel: »Da lachen ja die Krähen.« Nun sagt es der Ministerpräsident.

Hinzu kommen all die Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Umfeld und ihn selbst, deren Untersuchung Erdogan einfach verhindert – während er selbst nicht müde wird, die angebliche Korruption in den Rathäusern der Opposition anzuprangern. Aber Erdogan ist eben ein Traum. In einem Werbefilm schreitet er dem Volk voran durch eine weite, grüne Allee zum Präsidentenpalast. Er vermittelt das Gefühl, in eine wunderbare Zukunft zu führen. So etwas bringt Wähler an die Urnen.

Unter Erdogan-Gegnern wird dagegen hitzig debattiert, ob man überhaupt wählen gehen soll. Viele fühlen sich von keinem der Oppositionskandidaten vertreten. Nach den seltsamen Stromausfällen bei den letzten Kommunalwahlen sind auch einige davon überzeugt, dass das Wahlergebnis ohnehin gefälscht werde.

Türkischen Umfragen zufolge könnte Erdogan bereits im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erzielen. Gewinnt Erdogan, so hat er schon angekündigt, dass er ein Präsidialsystem will: also die Zusammenführung des Amtes des Präsidenten mit dem des Kabinettchefs nach dem Muster der USA. Allerdings würde die Zusammenführung beider Ämter in der Türkei ein viel mächtigeres Präsidentenamt ergeben als das des US-Präsidenten. Selbst wenn das Präsidialsystem de jure nicht erreicht wird, wird Erdogan de facto so herrschen, als habe er beide Ämter, mit einem sehr schwachen Ministerpräsidenten an seiner Seite.

Die Türkei hat aber noch ein weiteres Problem. Der Traum der einen Hälfte der Türkei ist der Albtraum der anderen Hälfte. Nur die Satirezeitung »Penguin« (Pinguin) sieht noch eine Lösung. Da sagt Erdogan: »Bis zur Wahl beleidige ich jeden, grenze ich aus. Aber sobald ich gewählt bin, bin ich der Präsident von 70 Millionen.« Aber das hat schon beim Ministerpräsidenten Erdogan nie geklappt. Die Spaltung der Türkei in zwei feindliche Lager dürfte auch unter einem Präsidenten Erdogan weitergehen.

* Aus: neues deutschland, Samstag 9. August 2014


Erdogan wird Nr. 12

Türkei wählt am Sonntag einen neuen Präsidenten. Sieg des bisherigen Regierungschefs gilt als sicher. Linker Kandidat Selahattin Demirtas hofft auf Achtungserfolg

Von Nick Brauns **


Recep Tayyip Erdogan ist der neue Staatspräsident der Türkei – zumindest wenn es nach dem Bildungsministerium geht, das bereits fünf Tage vor der Wahl am Sonntag ein Schulbuch veröffentlichte, in dem der amtierende Ministerpräsident bereits als zwölfter Präsident der Republik bezeichnet wird. Für die Anhänger der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gilt Erdogans Sieg als so sicher, daß Wahlkundgebungen bereits den Charakter vorgezogener Siegesfeiern haben. So ist die eigentlich spannende Frage, ob Erdogan bereits im ersten Wahlgang die benötigten 50 Prozent plus eine Stimme erhält oder sich zwei Wochen später einer Stichwahl stellen muß.

Entscheidende Stütze des von Erdogan repräsentierten politischen Islam ist das in Unternehmerverbänden wie MÜSIAD zusammengeschlossene »grüne Kapital«. Denn die AKP garantiert eine investorenfreundliche, neoliberale Politik einschließlich der Einbindung großer Teile der Arbeiter über das Opium der Religion und das Versprechen von Aufschwung und nationaler Größe. Zudem ist der von einer stark gestiegenen Zahl von bis zu zehn Millionen bedürftigen Haushalten genutzte Bezug staatlicher Sozialleistungen nicht gesetzlich garantiert, sondern als Ermessenssache von Gouverneuren und Landräten letztlich an die »richtige« Stimmabgabe gekoppelt.

Zur Stärke Erdogans trägt aber auch die Schwäche seines Hauptgegners Ekmeleddin Ihsanoglu bei. Der Wissenschaftshistoriker ist der gemeinsame Kandidat der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Auch die einflußreiche Gemeinde des Predigers Fethullah Gülen steht hinter Ihsanoglu. Doch unter der sozialdemokratisch orientierten CHP-Basis und insbesondere den Aleviten kommt keine Begeisterung für ihren wie Erdogan religiös-konservativ orientierten Kandidaten auf. Im Unterschied zur Masse der frommen AKP-Wählerschaft aus inneranatolischen Kleinstädten verbringen zudem viele einem westlichen Lebensstil verbundene CHP-Wähler im August ihren Urlaub fernab ihrer Wahllokale am Meer. »Sei kein Strandkorb-Kemalist!«, lautete deshalb die Überschrift einer Karikatur, mit der Erdogan-Gegner zur Wahl aufgerufen werden. Zu sehen ist ein im Liegestuhl vor einer türkischen Fahne sitzender Mannes mit Atatürk-Tätowierung, der fragt: »Warum soll ich wählen gehen? Alle drei Kandidaten sind doch US-Projekte«. Diese unter Nationalisten gängige Ansicht ist im Falle des in der Nahostpolitik als US-nah auftretenden Ihsanoglu nicht einmal von der Hand zu weisen.

Als Shootingstar der türkischen Politik wird unterdessen selbst in vielen von Erdogans autoritärem Kurs verprellten bürgerlichen Medien der dritte Bewerber um das Präsidentschaftsamt, Selahattin Demirtas von der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), gefeiert. Der kurdische Rechtsanwalt und Abgeordnete sieht sich als Repräsentant eines dritten Lagers jenseits der religiösen und nationalistischen Systemparteien. Er tritt mit dem Anspruch an, auch den durch die sunnitisch-türkische Dominanz ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen wie Kurden und Aleviten, der Frauen- und Arbeiterbewegung bis hin zu Homosexuellen eine Stimme zu geben. Gegen Erdogans Pläne zur Schaffung eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems schlägt Demirtas ein dezentrales Regierungssystem aus autonomen Provinzen und kommunaler Basisdemokratie vor, um der Vielfalt der Türkei besser gerecht zu werden und die kurdische Frage zu lösen. Sollte Demirtas deutlich über die bislang von prokurdischen Parteien landesweit errungenen knapp sieben Prozent kommen, würde dies schon ein Achtungserfolg sein. Doch wichtiger erscheint, daß bislang als »Separatismus« gebrandmarkte Vorstellungen durch seine Kampagne auch außerhalb des kurdischen und sozialistischen Milieus Beachtung gefunden haben.

** Aus: junge Welt, Samstag 9. August 2014


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