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"Großprojekte zerstören den historischen Kern der Stadt"

Über Gentrifizierung in Istanbul und ein Pilotprojekt zum selbstorganisierten Stadtumbau. Ein Gespräch mit Neslihan Simsek Kizi *


Die Türkin Neslihan Simsek Kizi ist Agrikulturingenieurin. Sie arbeitet im »Architekten- und Ingenieursbüro des Volkes« (Halkn Mühendis Mimarlar).


Unter dem Titel »urbane Erneuerung« werden in der Türkei zur Zeit ganze Städte in großem Stil umgebaut – besonders Istanbul ist betroffen. Überall stehen Baukräne, ganze Stadtteile verändern sich rasant. Welche Auswirkungen hat das auf die Bevölkerung?

Diese »urbane Erneuerung« läuft auf eine Erneuerung des Profits hinaus. Gebiete wie das Istanbuler Armenviertel Kücük Armutlu werden zu Arealen der »urbanen Transformation« erklärt – da ist nämlich eine Menge Geld zu machen. Das Viertel liegt gleich an der zweiten Bosporusbrücke, Meerblick inklusive.

Stadtteile wie Sulukule, wo früher Arbeiter, Migranten oder Roma lebten, haben diese »Transformation« schon hinter sich. Wie ist das vor sich gegangen?

Am Beispiel dieses Viertels kann man gut erkennen, welche Auswirkungen die »urbane Erneuerung« hat. In Sulukule hat man den Bewohner falsche Versprechungen gemacht, um sie aus dieser Gegend wegzubekommen; sie wurden weit vom Stadtzentrum angesiedelt.

In ihrem alten Viertel waren sie gewohnt, sich draußen zu treffen und gemeinsam Tee zu trinken; die Kinder spielten auf den Straßen, es gab viel an sozialem Leben. In den neuen Wohnsiedlungen ist all das verloren gegangen: Sie wurden in Hochhäuser gezwängt, die sie bis dahin gar nicht kannten. Das erste, was kaputt ging, waren die Aufzüge, weil die Kinder neugierig damit spielten. Und wenn sich die Bewohner wie früher gemeinsam mit dem Teekessel auf die Straße setzen wollen, werden sie vom Sicherheitsdienst verjagt.

Die Behörden hatten ihnen Häuser und Grundstücke billig abgekauft und verkaufen sie teuer weiter. In Sulukule war alles nahe beieinander, die Kinder hatten es nicht weit zur Schule, die Arbeiter nicht weit zu ihrem Arbeitsplatz. Jetzt müssen sie dafür sehr weit fahren.

Welche Rolle spielt in diesem Prozeß eigentlich TOKI, die staatliche Wohnbaugesellschaft, die immer wieder in der Kritik steht, wenn es um »Gentrifizierung« geht – also um Abwanderung ärmerer und Zuzug wohlhabender Bevölkerungsgruppen?

Die Regierung hat eine Reihe Gesetze geändert, um TOKI die rechtliche Grundlage für diese »urbane Erneuerung« zu verschaffen. Wir haben als Ingenieure mehrfach die Häuser untersucht, die TOKI baut. Sie bestehen aus minderwertigem Material und sind nicht gerade gesundheitsförderlich. Sie sehen alle gleich aus und sind auch gleich häßlich.

Wird die Umwelt durch die Stadtumgestaltung beeinträchtigt?

Die Großprojekte – wie die geplante dritte Bosporusbrücke und das Galata Port Projekt – zerstören den historischen Kern der Stadt. Dazu kommt, daß Istanbul ein Erdbebengebiet ist. Im Falle eines Bebens gibt es keine offenen Plätze mehr, auf denen Menschen Zuflucht suchen könnten.

Die Gegend, in der die dritte Brücke enstehen soll, war einmal der grünste Bereich in Istanbul. Erst einmal wurden zahllose Bäume gefällt – dann stellte sich heraus, daß das falsche Areal abgeholzt worden war. Dazu paßt, daß in diversen Stadtteilen Grünflächen umgewidmet und zur Bebauung freigegeben werden. Die grünen Gebieten, die der Stadt das Atmen ermöglichen, werden Tag für Tag kleiner.

Die »Architekten und Ingenieure des Volkes«, für die Sie arbeiten, befassen sich zur Zeit mit einem Pilotprojekt: selbstorganisierte Erneuerung der Stadt. Worum geht es da?

Wir wollen eine Transformation, bei der das Vorhandene nicht zerstört, sondern erweitert und verbessert wird. Das Viertel Kücük Armutlu besteht aus selbstgebauten Häusern, zum Teil reparaturbefürftig, oft mit feuchtem Mauerwerk. Für die Bewohner bauen wir dort ein alevitisches Gemeinschafts- und Kulturzentrum. Dazu gehört ein Volksgarten, in dem Gemüse angebaut wird – die Menschen sollen die Möglichkeit haben, ihre Lebensmittel selbst zu produzieren. Außerdem werden Solarzellen eingebaut. In einer anderen armen Nachbarschaft, in Kirac, sind wir gerade dabei, eine Straßenbeleuchtung zu installieren.

Wie man hört, hat Ihre Organisation Schwierigkeiten mit der Polizei ...

Viele von uns wurden schon verhaftet. Wir sind auch Mitglied in der bislang selbständigen Kammer für Architekten und Ingenieure. Der Staat ist gerade dabei, sie unter seine Kuratel zu stellen.

Interview: Thomas Eipeldauer

* Aus: junge Welt, Montag, 3. Februar 2014


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