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Fabrikbesetzung in Istanbul

Streikende befürchten Polizeieinsatz. Strumpfarbeiter erzwingen Lohnauszahlung

Von Nick Brauns *

Eine Fabrikbesetzung in Istanbul dauert bereits die sechste Woche an. Hunderte Arbeiter hatten am 10. Februar eine Fertigungsstätte des US-amerikanischen Verpackungsherstellers Greif im Stadtviertel Esenyurt-Hadimköy besetzt, um gegen »Hungerlöhne und Sklavenarbeitsbedingungen« zu protestieren. Zwei Drittel der 1500 Greif-Arbeiter an den zwei Istanbuler Standorten sind Leiharbeiter, die wiederum bei 44 verschiedenen Firmen angestellt sind. Vielfach erhalten sie nur den gesetzlichen Mindestlohn von 850 Lira (283 Euro), während ihre Arbeitszeit willkürlich auf bis zu zwölf Stunden am Tag heraufgesetzt wird.

»Wir sind im Streik, weil die nicht abgeschlossenen Tarifverhandlungen festgefahren sind«, betonen die Arbeiter in einem Schreiben an den Greif-Vorstandsvorsitzenden in den USA. Die Forderungen der Fabrikbesetzer lauten auf Übernahme aller Leiharbeiter in die Festanstellung, Lohnerhöhungen und Sonderzahlungen. Die Gewerkschaft DISK-Tekstil vertritt die Greif-Arbeiter bei den Tarifverhandlungen. Von den hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären der sozialdemokratisch ausgerichteten Revolutionären Arbeitergewerkschaftsföderation DISK, die die Betriebsbesetzung nicht aktiv unterstützen, fühlen sich die Greif-Arbeiter jedoch nicht repräsentiert. Daher fordern sie, daß aus ihrer Mitte gewählte DISK-Tekstil-Vertreter aus dem Greif-Werk zu den Verhandlungen zugelassen werden.

Die Greif-Unternehmensleitung versucht unterdessen, die Arbeiter durch Falschmeldungen über eine angebliche Einigung mit der Gewerkschaft gegeneinander auszuspielen. Die Konzernleitung hat zudem die islamisch-konservative Regierung gebeten, den Besetzungsstreik zu beenden. In den letzten Tagen wurden mehrfach Provokateure und Streikbrecher in die besetzte Fabrik eingeschleust, offenbar um einen Vorwand für einen Polizeieinsatz zu schaffen. Daß die Fabrik bislang nicht von der bereitstehenden Polizei gestürmt wurde, könnte auf die Kommunalwahlen Ende März zurückzuführen sein. Der durch Korruptionsvorwürfe und neuerliche Massenproteste unter Druck geratene Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan will offenbar Bilder von Polizisten vermeiden, die knüppelschwingend gegen streikende Arbeiter und ihre Familien vorgehen. Doch sicher sind die Greif-Arbeiter deswegen nicht, zumal die Polizei unter Einfluß von Erdogans Gegenspielern von der Fethullah-Gülen-Bewegung steht.

Während der von sozialistischen Organisationen, Gewerkschaftsgruppen, Künstlern und linken Intellektuellen mit Solidaritätsbesuchen und Spenden unterstütze Besetzungsstreik bei Greif weitergeht, endete eine andere Fabrikbesetzung bereits nach wenigen Tagen mit einem Erfolg. Die Moda-Strumpffabrik in Istanbul-Davutpasa war von ihrem Eigentümer dichtgemacht, die Arbeiter waren mit ausstehenden Löhnen von zwei Monaten auf die Straße gesetzt worden. Daraufhin hatten die Strumpfhersteller am 11. März das Werk besetzt, um den Abtransport von Maschinen und Material zu verhindern. Bereits nach wenigen Tagen knickte der Eigentümer ein. Am Dienstag wurden den entlassenen Arbeitern ausstehenden Löhne und Überstundenzuschläge ausgezahlt und die noch in der Fabrik gelagerten Materialien als Abfindung übergeben. Gemeinsam mit Mitgliedern der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die die Werksbesetzung unterstützt hatten, feierten die Arbeiter ihren Sieg als »Erfolg der Klassensolidarität«.

* Aus: junge Welt, Freitag, 21. März 2014


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