Kalter Putsch in der Türkei
Wahlbehörde verbietet Kandidatur von Kurden und Sozialisten
Von Nick Brauns *
Tausende Menschen protestierten in der Nacht zum Dienstag spontan in kurdischen und türkischen Städten gegen die Entscheidung der Obersten Wahlaufsichtsbehörde (YSK), zwölf prokurdische und sozialistische Kandidaten von der Teilnahme an der Parlamentswahl auszuschließen. Die Polizei ging mit Gasgranaten gegen Demonstranten in Diyarbakir vor, die Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen Putsch vorwarfen. Die YSK hatte Montag abend acht Kandidaten des aus der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP sowie 18 weiteren prokurdischen und sozialistischen Organisationen gebildeten »Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit« sowie Kandidaten der linken »Partei für Freiheit und Solidarität« ÖDP die Wahlteilnahme verweigert. Als Begründung hieß es, die Kandidaten seien in der Vergangenheit wegen »Terrorismus« inhaftiert gewesen. Unter den acht gesperrten Kandidaten des Linksblocks sind die jetzige Abgeordnete und Co-Vorsitzende der BDP Gülten Kisanak sowie die Istanbuler BDP-Abgeordnete Sebahat Tuncel. Der als Kandidat für die Mittelmeerstadt Mersin nominierte türkische Linksintellektuelle und frühere Studentenführer Ertugrul Kürkcü wurde ebenso von der Kandidatur ausgeschlossen wie die früheren Abgeordneten Leyla Zana und Hatip Dicle, die 1994 nach kurdischsprachigen Reden aus dem Parlament heraus verhaftet wurden. Auch der Vorsitzende der kleinen prokurdischen KADEP, Serafettin Elçi, der trotz seiner bisherigen Kritik an der BDP vom Linksblock als Kandidat in Diyarbakir nominiert worden war, um konservativere kurdische Wählerschichten anzusprechen, darf nicht zur Wahl antreten.
Der Linksblock, der zur Umgehung der 10-Prozent-Wahlhürde 60 unabhängige Direktkandidaten aufgestellt hatte, tritt für eine politische Lösung der kurdischen Frage, soziale Gerechtigkeit und eine neue freiheitliche Verfassung ein. Von der Sperre sind vor allem solche kurdischen Kandidaten betroffen, die gute Aussichten auf Direktmandate hatten. Da die anderen türkischen Parteien in Kurdistan keine Rolle spielen, fallen diese Wahlkreise nun fast automatisch an die islamisch-konservative Regierungspartei AKP. Der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas sprach von einem »schweren Schlag für die kränkelnde türkische Demokratie« und kündigte für Donnerstag eine Entscheidung über das weitere Vorgehen an. Wahlboykott sei eine Option, denn »wir können nicht an einer antidemokratischen, unfairen Wahl teilnehmen«.
Der kalte Putsch gegen die prokurdischen Kandidaten ist möglicherweise eine Panikreaktion der AKP auf Werben der BDP um religiöse Wählerschichten in Kurdistan. So ruft die BDP seit einigen Wochen zu »zivilen Freitagsgebeten« außerhalb der von regierungsnahen Imamen kontrollierten Moscheen auf, bei denen von Tausenden Gläubigen zugleich politische Forderungen nach kurdischsprachigem Schulunterricht und der Freilassung der politischen Gefangenen gestellt werden. Regierungsnahe Zeitungen beschuldigen daher »PKK-Imame«, »das religiöse Volk zu spalten, das dann das Vertrauen gegenüber der Regierungspartei AKP verlieren und mit der kurdischen BDP sympathisieren soll«.
* Aus: junge Welt, 20. April 2011
Dokumentiert: Zwei Pressemeldungen
Angriff auf den Willen des Volkes
Türkische Wahlbehörde sperrt 14 kurdische und linke
ParlamentskandidatInnen
Die Oberste Wahlaufsichtsbehörde (YSK) der Türkei hat am Montag (18. April) die Kandidatur von mindestens acht Direktkandidatinnen und -kandidaten des
linken „Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ sowie sechs
Kandidaten der sozialistischen Partei für „Freiheit und Solidarität“ ÖDP
verboten. Unter den Kandidaten des Linksblocks, denen eine Kandidatur
für die Parlamentswahl am 12. Juni 2011 verweigert wird, sind die
jetzige Abgeordnete und Parteivorsitzende der Partei für Frieden und
Demokratie (BDP), Gülten Kışanak sowie die Istanbuler Abgeordnete
Sebahat Tuncel. Betroffen sind weiterhin die Sacharow Preisträgerin
Leyla Zana, die zusammen mit Hatip Dicle, als damalige pro-kurdische
DEP-Abgeordnete aufgrund ihres Einsatzes für eine politische Lösung der
kurdischen Frage 1994 aus dem Parlament heraus verhaftet und bis 2004
inhaftiert wurden. Auch der bekannte türkische Linksintellektuelle und
frühere Studentenführer Ertuğrul Kürkçü darf nicht zur Wahl in Mersin
antreten. Als Begründung gab die Wahlaufsicht an, die gesperrten
Kandidaten seien früher einmal im Gefängnis gewesen. Nach dieser Logik
dürfte auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyıp Erdoğan nicht
erneut zur Wahl antreten, da er Ende der 90er Jahre selber wegen
Agitation gegen die säkulare Ordnung im Gefängnis war.
Der prokurdischen Partei BDP ist mit rund 20 weiteren sozialistischen
Organisationen, sowie demokratischen Persönlichkeiten eine Vertretung
aus einem breiten Spektrum von Kurden, türkischen linken Kräften bis
hin zu allen Unterdrückten gelungen. Der Block für Arbeit, Demokratie
und Freiheit unterstützt 60 unabhängige Direktkandidaten. Diese optimale
Vereinung tritt für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage, die
sozialen Rechte der werktätigen Bevölkerung und eine neue freiheitliche
Verfassung ein.
Nach dem Verbot der prokurdischen „Partei für eine demokratische
Gesellschaft“ DTP Ende 2009 und der Verhaftung von rund 2.000 kurdischen
Politikern innerhalb von zwei Jahren ist die Entscheidung der YSK der
nächste Versuch, jede demokratische Willensäußerung des kurdischen
Volkes zu unterbinden. Es ist auch der Versuch, die Stimmen der
sozialistischen Linken zum Schweigen zu bringen, die die neoliberale
Politik der AKP, ihre Vasallendienste für die NATO und die Untergrabung
der laizistischen Ordnung kritisieren. Immer offener zeigt das
AKP-Regime hinter der Maske seiner Reformversprechen die Fratze des
Polizeistaates, der seine Kritiker inhaftiert, nicht davon
zurückschreckt, mit Polizeiknüppeln und Tränengas das Volk zu
attackieren und nun auch noch des passiven Wahlrechts beraubt.
Wir appellieren an alle demokratischen Organisationen und
Persönlichkeiten, gegen diesen politischen Putsch der türkischen
Regierung zu protestieren. Diese undemokratische Entscheidung der
Wahlbehörde muss unverzüglich rückgängig gemacht werden. Die
internationale Staatengemeinschaft ist aufgerufen, eine Lösung der
kurdischen Frage auf politischer Ebene zu unterstützen und alles zu
unternehmen, um eine demokratische Parlamentswahl zu ermöglichen.
Die Chance für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage und einen
gesellschaftlichen Frieden in der Türkei darf nicht dem Machthunger des
Erdoğan-Regimes geopfert werden!
Düsseldorf, 19. April 2011
YEK-KOM e.V.
Nordkurdistan/Türkei: Proteste gegen Veto der Hohen Wahlkommission
Am 12. Juli stehen erneut Parlamentswahlen in der Türkei an. Jetzt hat
die Hohe Wahlkommission (YSK) eine Krise ausgelöst deren Ausmaß schwer
abzuschätzen ist. Sie hat ihr Veto gegen 12 unabhängige Kandidaten des
Wahlbündnisses „Block für Arbeit, Freiheit und Demokratie“ eingelegt um
im Anschluss auch die ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität/Özgürlük
ve Dayanışma Partisi) von der Wahl auszuschließen. Betroffen von dem
Veto sind unter anderem Hatip Dicle, Leyla Zana, Sabahat Tuncel, Gülten
Kışanak (beide derzeit Abgeordnete im türkischen Parlament) und Ertuğrul
Kürkçü. In einer ersten Erklärung eröffnete Ahmet Türk daraufhin die
Diskussion unter Einbeziehung aller Möglichkeiten auch die einer nicht
Teilnahme an den Parlamentswahlen. Selahattin Demirtaş, bis vor einigen
Tagen Co-Vorsitzender der BDP (Partei für Frieden und Demokratie) und
einer der Kandidaten des Bündnisses hält den Beschluss der Hohen
Wahlkommission für „rechtlich bedenklich, politisch werde der Beschluss
schwere Folgen haben.“ Parteien, deren Kandidaten nicht zugelassen
würden, könnten Ersatz aufstellen, unabhängigen Kandidaten hingegen sei
dies nicht möglich. So sind wir doppelt geschädigt sagte er, einmal
durch die 10%-Hürde und jetzt auch noch durch den Beschluss der Hohen
Wahlkommission, der einer „Kriegserklärung“ gleich kommt.
Die Entscheidung der Hohen Wahlkommission kam für alle überraschend. Das
erklärte jetzt Sırrı Sakık, Abgeordneter für Mûş. Er erklärte dass sie
bis zum letzten Moment mit der Hohen Wahlkommission in engem Kontakt
gestanden haben. Man habe ihnen dort bis zu Letzt versichert es gäbe nur
in Bezug auf den Kandidaten in Agiri (Ağrı), Murat Öztürk, Probleme.
Ansonsten aber keine weiteren. Der Beschuss ist ein Schritt in Richtung
eines Krieges. Den Kurden seien alle Wege versperrt ihre Anliegen in der
politischen Arena vorzubringen. „Wir sahen für den Juli 2011 ein
Parlament voraus, mit dem man sich hätte zusammensetzen und verhandeln
können. Jetzt sehen wir dass dem nicht so sein wird.“
Derweil hat Selahattin Demirtaş die Bevölkerung dazu aufgerufen „ihre
Meinung auf demokratische Weise kundzutun und auf die Straße zu gehen.
Die Kandidaten der Parteien sollten - sollte ihnen irgendetwas an
Demokratie gelegen sein- umgehend zurücktreten. Ihnen sollte klar sein
das diese Wahl keine Wahl ist, es eine Wahl nicht geben wird. Denn dort
wo es nur eine Wahl gäbe, könne man nicht von einer Wahl sprechen. Um
eine Wahl zu haben bedarf es Alternativen.“
Bereits Stunden nach der Veröffentlichung des Vetos durch die Hohe
Wahlkommission, kam es zu ersten Demonstrationen in Amed (Diyarbekır,
Wan (Van), Êlih (Batman) und Mersin. Am folgenden Tag setzen sich die
Proteste gegen das Veto in Massendemonstrationen weiter fort. Es kam zu
Massenprotesten in vielen weiteren Städten. Bei den Protesten in Amed
(Diyarbekır) wurde einem Demonstranten von der Polizei in den Rücken
geschossen. Bei dem Verletzten, der immer noch in Lebensgefahr schwebt,
handelt es sich um den 15jährigen Remzi Ç.
Mittlerweile hat die Hohe Wahlkommission eine Erklärung abgegeben nach
der sie, wenn ausreichend Dokumente vorgelegt werden, die Kandidatur von
10 der 12 mit Veto belegten Kandidaten, erneut überprüfen werde. Eine
Zustimmung zur Kandidatur von Sabahat Tuncel und Şerafettin Efe sei aber
in jedem Fall auszuschließen.
Quelle: ANF, 18./19.04.2011, ISKU
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