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Wolfgang Thierse: "Eine Unverschämtheit"

Türkischer Botschafter versuchte Bundestagsvizepräsidenten zu zensieren

Von Martin Dolzer

Bei einem Treffen mit türkischen ParlamentarierInnen ist Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) mit dem Berliner Botschafter der Türkei in Streit geraten. Nach einem Gespräch in freundschaftlicher Atmosphäre versuchte der Botschafter Hüseyin Avni Karslioglu zu verhindern, dass Thierse die Inhaftierungen von 8 ParlamentarierInnen in der Türkei weiter thematisiert. Das Büro des Bundestagsvizepräsidenten teilte am Donnerstag mit, Thierse habe dies als "Unverschämtheit" zurückgewiesen: Zensurversuche eines Parlamentariergesprächs durch einen Botschafter seien "schlicht unerträglich", so der Politiker. Thierse verließ Berichten zufolge nach einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Botschafter das Treffen.

Der Delegation aus der Türkei bestand aus den ParlamenatrierInnen Çiğdem Münevver Ökten (AKP), Şafak Pavey (CHP), Tunca Toskay (MHP) and Nazmi Gür (BDP). Die Gespräche fokussierten auf das Thema der NSU Attentate, die allerseits aufs schärfste verurteilt wurden. Nach einer angeregten Diskussion über die Möglichkeiten Vorurteile gegenüber türkischen MigrantInnen in Deutschland zu überwinden äußerte Thierse sich besorgt: „Als Parlamentarier möchte ich gerne folgendes zum Ausdruck bringen: Einige Parlamentarier sind in der Türkei inhaftiert. Eine solche Situation ist für einen europäischen Parlamentarier nicht nachvollziehbar. Ich hoffe sie werden alles in ihren Möglichkleiten stehende unternehmen um ihren Kollegen zu helfen.“

Thierse nahm Bezug auf die anhaltende Inhaftierung der 6 Abgeordneten der BDP, Hatip Dicle, İbrahim Ayhan, Gülseren Yıldırım, Selma Irmak, Faysal Sarıyıldız und Kemal Aktaş. sowie den Abgeordneten der CHP, Mustafa Balbay und einen Abgeordneten der MHP. Nach den Parlamentswahlen 2011 hatte die AKP beschlossen den ParlamentarierInnen auf diese Weise von der Wahrnehmung ihrer Mandate abzuhalten. Hatip Dicle hatte bereits in den neunziger Jahren gemeinsam mit der Sacharowpreisträgerin Leyla Zana 10 Jahre Haft wegen Kurdischsprechens im Parlament verbüßt.

Die anhaltende Inhaftierung der Gewählten stieß auf internationalen Protest. U.a. Prof.Noam Chomsky, Prof. Dr. Norman Paech, Dr. Les Davidov, Luisa Morgantini (ehem. Vizepräsidentin des Europaparlaments) und der Südafrikanische Anwalt Joye Moses hatten gemeinsam mit weiteren 250 Persönlichkeiten und ParlamentarierInnen diverser Parlamente die türkische Regierung zur Einhaltung der eigenen Verfassung aufgerufen und die sofortige Freilassung der Parlamentarierinnen gefordert. Die Regierung Erdogan ignorierte dieses Anliegen.

Die jetzige Haltung des türkischen Botschafters in Berlin, Hüseyin Avni Karslioglu, spiegelt die zunehmend autokratische und gewaltorientierte Politikausrichtung der AKP Regierung wieder. In der Türkei wird mittlerweile jeder Mensch kriminalisiert, der es wagt die Regierung oder die die AKP dominierende Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zu kritisieren. Gülen hatte erst Oktober letzten Jahres zur Vernichtung der politisch aktiven KurdInnen aufgerufen. Zunehmend wird diese Politikausrichtung auf internationalem diplomatischen Parkett oder auch in den Medien, wie z.b. jüngst in einem Artikel in der New York Times, kritisiert.

Den immer noch inhaftierten BDP-Abgeordneten wird die Mitgliedschaft im Dachverband KCK, dem auch die PKK angehört, vorgeworfen. Auf dieser Grundlage sind nicht nur die sechs Abgeordneten, sondern 31 BürgermeisterInnen, sowie 6500 BDPlerInnen, bekannte türkische MenschenrechtlerInnen, Frauenaktivistinnen und JournalistInnen inhaftiert. Allen werden keine konkreten Straftaten sondern z.b. die Teilnahme an Pressekonferenzen oder Veranstaltungen vorgeworfen. Mustafa Balbay beschuldigen die Behörden am „Ergenekon-Netzwerk“, einer vermeintlichen Verschwörung zum Sturz der AKP-Regierung beteiligt zu sein.

Andrej Hunko, MdB Die Linke und Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats besuchte vor kurzem zwei der inhaftierten BDPlerInnen in Mardin und Diyarbakir und den CHPler Mustafa Balbay in Istanbul und äußerte sich besorgt über die menschenverachtenden Zustände in den türkischen Gefängnissen. 1500 politische Gefangene und 15 ExilkurdInnen in Strasbourg befanden sich 50 Tage im Hungerstreik um das Schweigen über die Situation der kurdischen Bevölkerung aufzubrechen. „Mein Eindruck ist, dass es bei dem Ergenekon Verfahren nicht primär um die Aufklärung einer möglichen Verschwörung, sondern - ähnlich wie bei den KCK-Verfahren - um die Schaffung einer Konstruktion geht, mittels derer Oppositionelle etwa aufgrund anonymer Hinweise beliebig aus dem Verkehr gezogen werden können. Das hat schon Orwell’sche Züge. (…) Was den türkisch-kurdischen Konflikt angeht, so muss klar sein, dass es keine militärische oder repressive Lösung geben kann. Hier müssen endlich die Waffen schweigen und, auch unter Einbeziehung von Abdullah Öcalan, verhandelt werden. Alle Erfahrungen mit ähnlichen Konflikten - etwa in Südafrika oder Nordirland - zeigen, dass es keinen anderen vertretbaren Weg gibt,“ so der Abgeordnete nach seiner Reise.

Kein Verständnis zeigt Hunko für die Haltung der Bundesregierung und vieler EU-Verantwortlicher, die aus geopolitischen Opportunitätsgründen zur dramatischen Verschlechterung der Lage in der Türkei schweigen und das AKP-Regime sogar als Vorbild für die arabische Welt hinstellen würden. „Ein solcher Doppelstandard in puncto Menschenrechte und Demokratie ist einfach nur ekelhaft,“ so der Linke Bundestagsabgeordnete.

Dass der türkische Botschafter versuchte Wolfgang Thierse zu zensieren, der dieses Schweigen beendete, zeigt deutlich die derzeitige Herangehensweise der türkischen Regierung und deren VertreterInnen in der Bundesrepublik. Immer wieder versuchen diese eine Politik der Zensur und Verleugnung, besonders was die Rechte der KurdInnen und religiöser Minderheiten angeht auch im bundesdeutschen Alltag, z.b. auf politischer und administrativer Ebene, bei Veranstaltungen oder im Bildungsbereich mit Druck und Drohungen durchzusetzen. Kurdische MigrantInnen sind täglich damit konfrontiert.


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