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Kriegspolitik am Pranger

Opposition beschuldigt türkische Regierung, Täterschaft von Freier Syrischer Armee an Anschlägen in Reyhanli und wahre Zahl der Opfer zu vertuschen

Von Nick Brauns *

Türkische Oppositionspolitiker erheben im Zusammenhang mit den Autobombenanschlägen in der Provinz Hatay schwere Vorwürfe gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Bei den Anschlägen waren am Samstag in der Stadt Reyhanli nahe der syrischen Grenze nach jüngsten Angaben mindestens 51 Menschen getötet worden. Die Zeitung der Kommunistischen Partei der Türkei, Sol, meldete unter Berufung auf Krankenhausmitarbeiter in Reyhanli, es habe über 100 Tote gegeben. Die Regierung vertusche die wahre Zahl der Opfer. Die AKP-Regierung beschuldigt Mitglieder linksradikaler Gruppen aus der Türkei, die Anschläge im Auftrag der syrischen Regierung begangen zu haben. Linke und kemalistische Oppositionspolitiker vermuten dagegen, daß die Anschläge durch Kräfte der Freien Syrischen Armee (FSA) wie der Al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front begangen wurden, um ein militärisches Eingreifen der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg zu provozieren. »Das war das Werk einer sehr professionellen Terrororganisation und schaut wie ein Angriff im Al-Qaida-Stil aus«, meint der Abgeordnete der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) für Hatay, Mehmet Ali Ediboglu. »Sie wollen die Türkei in den Krieg ziehen.« Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu bezeichnete Regierungschef Erdogan während einer Fraktionssitzung am Dienstag als »Hauptschuldigen« an den Anschlägen, da die AKP-Regierung »Terroristen« bewaffne und nach Syrien schicke.

»Es ist die Kriegspolitik der AKP-Regierung gegenüber Syrien, die den Menschen dieses Leid zugefügt hat«, erklärte auch der Demokratische Kongreß der Völker (HDK). Diese Dachorganisation aus der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), der Partei der Arbeit EMEP und weiteren sozialistischen Organisationen fordert ein Ende der türkischen Unterstützung für die FSA. Für Mittwoch abend ruft der HDK dazu auf, landesweit auf die Straße zu gehen und Kerzen zu entzünden, um so die Aufklärung der Anschläge anzumahnen.

Die Bevölkerung von Reyhanli sei davon überzeugt, daß die FSA hinter den Anschlägen steckt und die türkische Regierung die Verantwortung dafür trage, twitterte der BDP-Abgeordnete Ertugrul Kürkcü am Montag abend aus der Grenzstadt. Die Bevölkerung befürchte weitere Sabotageaktionen, die einen Konflikt zwischen der alawitischen Minderheit und den Sunniten in der Provinz Hatay provozieren.

Solche Meldungen können aufgrund einer vom Gerichtshof in Reyhanli verhängten Mediensperre in der Türkei nicht verbreitet werden. Der Fernsehsender NTV löschte bereits Aufnahmen aus Reyhanli von seinem Onlineauftritt. Oppositionspolitiker beschuldigten die Regierung, durch diesen von Erdogan ausdrücklich verteidigten Zensurerlaß eine mögliche Täterschaft syrischer Rebellen vertuschen zu wollen.

Bis Dienstag hatte die Polizei 13 Tatverdächtige festgenommen, die der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) und der seit Anfang der 80er Jahren nicht mehr in Erscheinung getretenen Türkischen Volksbefreiungspartei-Front (Acilciler) angehören sollen. Die DHKP/C bestreitet jede Verwicklung in das »Massaker« und erklärte in einer am Montag verbreiteten Stellungnahme: »Keine revolutionäre Organisation, die sich marxistisch-leninistisch nennt, kann eine derartige Aktion, die dem Volk schadet durchführen oder gutheißen.« (Siehe unten) Auch der seit dem Militärputsch von 1980 in Syrien lebende, von der türkischen Justiz gesuchte frühere Anführer der Acilciler, Mihrac Ural, wies jegliche Schuld von sich. Über Soziale Netzwerke erklärte Ural, der in Syrien eine regimetreue Miliz gegen die aus der Türkei in das Land eindringenden Dschihadisten kommandiert, am Montag, daß »der Massenmord in Reyhanli von der selben Hand begangen wurde, die in Damaskus und Aleppo gemordet hatte«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. Mai 2013


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