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Im Glashaus

Das NATO-Mitglied Türkei unterstützt die Aufständischen in Syrien – und verfolgt die kurdische Oppositionsbewegung im eigenen Land

Von Norman Paech *

Die Türkei ist in einer komplizierten Situation, die Premier Recep Tayyip Erdogan mit seiner AKP-Regierung jedoch souverän zu überspielen scheint. Die unbestreitbaren ökonomischen Erfolge – wobei die völlig unterentwickelten Rechte der arbeitenden Bevölkerung in Kauf genommen werden – machen das Land zu einem Machtfaktor zwischen Orient und Okzident. Die strategische Lage der Türkei für den Transport von Öl und Gas aus der kaspischen Region und dem Nahen Osten nach Europa verschafft der immer selbstbewußter auftretenden Regierung ohnehin eine komfortable Verhandlungsposition mit den Europäern. Das erlaubt es Ankara offensichtlich, den EU-Beitritt aufs Spiel zu setzen, um beim größten Hindernis, der ungelösten Zypernfrage, keinen Kompromiß eingehen zu müssen. Griechenland ist schwach und wird in der EU zusehends seiner Souveränität beraubt und zum Protektorat degradiert. Warum also gegenüber EU und UNO einlenken, wenn ersichtlich nur eine Politik mit der Faust auf dem Tisch honoriert wird? Das zeigt sich auch daran, daß Erdogan es sich leisten kann, seine noch vor gar nicht so langer Zeit ausgezeichneten Beziehungen zu dem heikelsten Protegé der EU, Israel, an einem Streit festzumachen – der Behandlung der Palästinenser –, den er in gleicher Weise im eigenen Land mit den Kurden hat. Schließlich ermöglicht die jahrzehntelange Mitgliedschaft in der NATO der türkischen Regierung, sich nunmehr gegen ihren langjährigen Freund und Nachbarn Syrien zu stellen. Sie organisiert nicht nur die Aufnahme von Flüchtlingen, sondern sie stellt den Aufständischen Ankara als Forum zur Verfügung, um für den Sturz Baschar Al-Assads zu werben. Erdogan öffnet der oppositionellen »Freien Syrischen Armee« die Grenzen des Landes, um Geld, Waffen und Logistik nach Syrien transferieren zu können. Während Katar und Saudi-Arabien die Aufständischen mit Geld versorgen, die westlichen »Freunde Syriens« über CIA und verwandte Organisationen deren Kampfkraft stärken und für den »Regime change« in der Weltöffentlichkeit Propaganda treiben, nimmt die Türkei offen Partei im Bürgerkrieg gegen die Regierung Assad und droht mit dem Einmarsch. Das völkerrechtliche Gebot der Neutralität in einer solchen Situation ist schon lange ignoriert worden. Was den »Freunden Syriens« das Veto der Russen und Chinesen im UN-Sicherheitsrat versagt, verschaffen sie sich über die inoffiziellen Kanäle der Infiltration, dagegen bleibt auch ein Veto machtlos.

Man kann der Regierung Erdogan Geschicklichkeit nicht absprechen. In dem Maße, wie sie die EU mit ihrer Konfrontation in der Zypernfrage brüskiert und gegen Israel Front macht, arbeitet sie in vorderster Linie an der Auswechselung des Regimes in Damaskus. Sie macht sich damit unentbehrlich für die strategischen Interessen der USA und der EU bei der Neuordnung des ganzen Mittleren Ostens. Das war von Anfang an der Sinn ihrer Mitgliedschaft in der NATO und hatte sich bereits im Krieg gegen Irak bewährt.

Doch diese von Militanz und Nationalismus geprägte Außenpolitik nützt vor allem im Innern des eigenen Landes. Sie lenkt das Ausland von einem Bürgerkrieg ab, der die türkische Gesellschaft seit Jahrzehnten zerreißt. Nie haben die türkischen Regierungen eine andere Antwort auf die Forderungen der kurdischen Bevölkerung nach Selbstbestimmung und Gleichberechtigung gehabt als die Gewalt der Armee, der Polizei und Gerichte. Es gab immer wieder Phasen der Hoffnung auf eine friedliche politische Lösung. Dann jedoch unterwarf sich die Regierung wieder dem Militär und schreckte selbst vor schweren Kriegsverbrechen mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung und auf irakisches Gebiet sowie dem Einsatz von Giftgas nicht zurück.

An Stabilität interessiert

Die NATO hat sich nie um die katastrophale Situation der Menschen im kurdischen Teil ihres Mitgliedsstaates gekümmert. Sie war allein an der Stabilität ihres Bündnispartners interessiert – und sei es um den Preis der Unterdrückung eines ganzen Volkes. Die anderen Mitglieder des Militärpakts haben die Stigmatisierung der Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, als terroristisch übernommen und dabei aktiv die Auslieferung und Isolierung deren Führers Abdullah Öcalan betrieben. Sie haben mit dieser Unterstützung die Militarisierung des Konfliktes vorangetrieben, um eine politische Lösung zu boykottieren, denn mit Terroristen verhandelt man nicht. Das Menschenrechtsverständnis der ­NATO-Staaten gebietet diesen zwar, sich nachhaltig und unübersehbar in die Gerichtsprozesse eines fremden Staates einzumischen, in der Ukraine etwa, zum Schutz einer in kürzester Zeit und in noch jugendlichem Alter im Gasgeschäft zu märchenhaftem Reichtum gekommenen und als zeitweilige Ministerpräsidentin dieses Staates dem Westen auffällig zugeneigten Frau. Vor der elenden Situation von Millionen Kurden, vor ihrem Kampf um ihre Sprache, die Anerkennung ihrer Identität, um ihre politischen, kulturellen und sozialen Rechte kapituliert aber dieses Menschenrechtsverständnis offensichtlich.

Die Strategie des AKP-Regimes ist nur scheinbar unentschlossen und widersprüchlich. Im vergangenen Sommer gab es eine Reihe von Gesprächen zwischen Vertretern des nationalen Geheimdienstes MIT und dem auf der Insel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Außerdem fanden insgesamt fünf Treffen mit PKK-Vertretern in Oslo statt. Öcalan hat die Kontakte wegen Sinn- und Zwecklosigkeit abgebrochen, und aus den Oslo-Treffen ist auch kein substantieller Ansatz für eine politische Lösung erwachsen. Denn gleichzeitig nahm die Verhaftungswelle gigantische Ausmaße an. Mehr als 7000 kurdische Aktivisten befinden sich in den überfüllten Gefängnissen, Mitglieder des Parlaments, Bürgermeister, Anwälte und Journalisten. Auch 2300 Minderjährige. Berichte von Folter und Vergewaltigung lassen ebenso wie mehrere Aufstände in den Haftanstalten und der 50tägige Hungerstreik von 1500 Gefangenen in diesem Frühjahr keinen Zweifel an dem miserablen Zustand von Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei. Keins der »Kopenhagener Kriterien« des Beitrittsprozesses zur EU kann so erfüllt werden. Zudem haben die militärischen Aktivitäten der Armee in Nordkurdistan, dem Südosten der Türkei, wieder zugenommen. Die Erdogan-Regierung fordert von den Kurden die Niederlegung aller Waffen, bevor es zu politischen Verhandlungen kommen könne. Sie hat offensichtlich die Illusion, die PKK könnte vergessen, daß die Regierung alle deren Angebote zu einem Waffenstillstand und das einseitige Ruhenlassen der Waffen mißachtet und mit eigenen militärischen Operationen beantwortet hat.

Stellt Ankara nicht definitiv die militärischen Aktivitäten ein, wird es kein Ende dieses Bürgerkrieges geben. Denn ein Ergebnis der nun schon Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzungen ist, daß das kurdische Volk seinen Widerstandswillen gestärkt hat, alle Spaltungsversuche gescheitert und insbesondere die Isolation und Trennung Abdullah Öcalans von der kurdischen Bewegung fehlgeschlagen sind. Die Regierung in Ankara steht wie die Regierung in Tel Aviv vor dem gleichen Paradox. Je härter die militärischen Schläge und je schärfer die politische Repression, desto größer ist der Zusammenhalt der Verfolgten und die Entschlossenheit des Widerstands geworden. Das wird nicht unbedingt an politischen oder militärischen Erfolgen gegenüber den Regierungen deutlich, zeigt sich aber an der Breite und Tiefe des Widerstands im Volk. Die große Schwäche der kurdischen Bewegung gegenüber der palästinensischen ist ihre mangelnde internationale Resonanz. An ihr klebt immer noch das Terroretikett, welches die PLO erst Ende der neunziger Jahre loswerden konnte, obwohl sie bereits 1974 von der UNO als Befreiungsbewegung anerkannt worden war.

Eigene Stärke

Der kurdischen Bewegung bleibt nur, sich auf ihre eigene Stärke zu konzentrieren, um ihre Rechte durchzusetzen. Der Regierung Erdogan muß zumindest zweierlei klargemacht werden: daß es eine militärische Lösung wie in Sri Lanka gegen die Tamilen nicht geben wird, und daß für eine politische Lösung Öcalan aus seiner Isolation befreit werden muß. Das alte, aus der Zerschlagung des osmanischen Reiches mitgeschleppte Trauma des Auseinanderbrechens der Türkei, wenn sie ihren Völkern Selbstbestimmung und föderale Rechte einräumt, sollte überwunden und der Vorwurf des Separatismus bei jeder kurdischen Regung zu den Akten gelegt werden. Öcalan hat den Ruf nach einem kurdischen Staat schon im vergangenen Jahrhundert aufgegeben und diesen durch die Forderung nach Selbstbestimmung in den Grenzen der Türkei ersetzt. Zudem gib es das Beispiel einer Reihe europäischer Staaten, deren Zusammenhalt gerade durch eine föderale Verfassung garantiert wird. Der Stand der Zivilisation bemißt sich nicht so sehr nach den Zahlen des Bruttosozialprodukts und der Stärke der Armee, sondern nach den Rechten und Freiheiten, die die Bevölkerung genießt.

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Völkerrecht. Er war von 2005 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. August 2012



Angst vor Kurden in Syrien

Im Osten der Türkei sind einem Medienbericht zufolge in den vergangenen drei Tagen 22 kurdische Kämpfer bei Auseinandersetzungen mit Regierungstruppen getötet worden. Auch zwei türkische Soldaten seien bei den Gefechten ums Leben gekommen, berichtete der Fernsehsender CNN Türk am Dienstag auf seiner Internetseite. Die Kämpfe hätten am Sonntag in der Provinz Hakkari begonnen, die an den Iran und den Irak grenzt.

Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am Dienstag abend: »Sorgen bereiten der Türkei derzeit auch die Aktivitäten syrischer Kurden. Sie sollen jetzt Gebiete kontrollieren, die an die Türkei grenzen und von syrischen Regierungstruppen geräumt wurden.« Außenminister Ahmet Davotuglu sagte am Sonntag im türkischen Fernsehen, Ankara werde die »Bildung terroristischer Strukturen an unserer Grenze« nicht zulassen. Egal ob es sich um Al-Qaida oder die in der Türkei als terroristische Gruppe verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) handele, werde die Regierung »alle Maßnahmen treffen«, erklärte Davotuglu, ohne Einzelheiten zu nennen. Der Minister relativierte zugleich Äußerungen von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, der zuvor mit einem militärischen Einmarsch ins Nachbarland gedroht hatte. Erdogan hatte gesagt, der syrische Präsident Baschar Al-Assad habe fünf Gebiete nahe der Grenze zur Türkei Kämpfern der PKK und ihres syrischen Arms »anvertraut«. Dazu erklärte Davotuglu, nicht der gesamte Norden Syriens werde von der PKK kontrolliert. Allerdings bestehe Gefahr, und diese werde ernst genommen, selbst wenn sie »nur ein Prozent« ausmache.

Hintergrund der Drohungen und Propaganda ist, daß sich die Kurden in Syrien nicht dem von Ankara gesponserten Aufstand der »Freien Syrischen Armee« (FSA) gegen Assad anschließen. Mittlerweile haben sich die syrischen Streitkräfte aus mehreren Kurdengebieten an der nördlichen Grenze des Landes zurückgezogen. »Die Orte Afrin und Kobani im Norden von Aleppo sowie Amude und Deirik weit im Osten des Landes sollen nun weitgehend unter der Kontrolle der PYD stehen, des syrischen Arms der türkischen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK)«, berichtete am Montag selbst die Welt. »Videoclips im Internet zeigen, wie neuerdings die rot-weiß-grün gestreifte Fahne der Kurden vor den Verwaltungsgebäuden im Wind weht. Jugendliche reißen syrische Nationalflaggen herunter; die Menschen feiern auf der Straße. Auch das Banner der PKK hängt an den Fassaden und Poster des inhaftierten Parteigründers Abdullah Öcalan. Auf öffentlichen Plätzen patrouillieren bewaffnete kurdische Milizionäre.« (rg)

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. August 2012


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