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"Vier Dörfer sind vollständig verlassen"

Angst vor Einsatz verbotener Waffen in Semdinli: Türkische Armee bombardiert Umland. Ein Gespräch mit Sedat Töre


Sedat Töre ist Bürgermeister der kurdischen Stadt Semdinli und Mitglied der Partei für Frieden und Demokratie (BDP).


Im Kreis Semdinli, an der Grenze zu Iran und Irak, finden intensive Gefechte zwischen der türkischen Armee und den kurdischen Volksverteidigungskräften, HPG, statt. Die Guerilla kontrolliert ganze Regionen und hat mehrere Hubschrauber abgeschossen. Das Militär bombardiert seit einer Woche die Umgebung der Stadt und setzt modernste Waffen ein. Wie ist die aktuelle Situation?

Die Kämpfe im Landkreis Semdinli dauern seit dem 23. Juli ununterbrochen an. Sie finden hauptsächlich auf einem 20 Quadratkilometer großen Gebiet statt, daß an den einen Kilometer von der Stadt Semdinli entfernten Hängen des Berges Goman beginnt und sich bis zur irakischen Grenze erstreckt. Dort liegen die Dörfer Baglar, Cem, Güzelkaya, Mus, Bemlate, Rüzgarli, Zorgecit und Yigitler mit insgesamt rund 1000 Einwohnern. Militäreinheiten versuchten, sämtliche »Dorfschützer« zu zwingen, an den Operationen teilzunehmen. Viele weigerten sich – obwohl es sich um Personen handelt, die vor einiger Zeit als Kollaborateure angeworben worden sind. Berichten zufolge nehmen nur 30 bis 40 »Dorfschützer« an den Operationen teil. Regionale Medien informierten, daß in Derecik Häuser von den Dorfschützerfamilien, die sich weigerten, nachts von »unbekannten Tätern« beschossen wurden.

In den 1990er Jahren wurden in den kurdischen Provinzen der Türkei rund 4000 Dörfer entvölkert. Attackieren Militär und »Sondereinheiten« auch jetzt die Zivilbevölkerung?

Seit dem 1. August waren ungefähr 60 Familien aus den Dörfern gezwungen zu fliehen. 31 Familien befinden sich bei Verwandten in der Nähe des Stadtzentrums, 29 in Nachbardörfern außerhalb des Kampfgebiets. Vier Dörfer sind vollständig verlassen. Aufgrund der Attacken des Militärs am Boden, der weiträumig angelegten Luftangriffe sowie durch den Beschuß mit Granaten und Raketen ist das Leben der Menschen bedroht. Eine große Zahl von Obstgärten wurde zerstört, Viehherden getötet. Für die Flüchtlinge hat die Stadtverwaltung einen Hilfspunkt eingerichtet, an dem Nahrungsmittel, Medizin, Kleidung verteilt werden.

Wie geht die Bevölkerung mit der Situation um?

Die Dörfer sind von der Außenwelt abgeschnitten – es gibt dort auch keinen Strom. Das Verlassen und Betreten des gesamten Gebiets ist seit dem 26. Juli verboten. Wir haben versucht, mit Delegationen, auch mit den Abgeordneten der Friedens- und Demokratiepartei BDP, Esan Canan und Özdal Ücer, in die Dörfer zu gelangen, um humanitäre Hilfe zu leisten. Der Zugang wurde uns verweigert. Die Bevölkerung in der Stadt ist beunruhigt. Die Menschen erleben hier seit 30 Jahren Krieg. Eine so ausgeweitete und lang andauernde Militäraktion hat es bisher aber nicht gegeben. Die Vertriebenen können nicht in die Dörfer zurück. Das »Aufenthaltsverbot«, der Versuch, das Geschehen zu verschweigen und die Politik der Entvölkerung des Gebiets lassen befürchten, daß auch verbotene Waffen und Kriegs­praktiken eingesetzt werden.

Wie reagiert die türkischsprachige Presse?

In den letzten drei Tagen haben auch Mainstream-Medien, allerdings mit gezielter Desinformation, begonnen, über die Gefechte zu berichten. Aufgrund der ausführlichen Nachrichten in unabhängigen Medien und sozialen Netzwerken lassen sich die Kämpfe nicht mehr völlig verschweigen.

Welche Hoffnungen haben BDP und Bevölkerung?

Die Grundlage, auf der vor 30 Jahren der Bürgerkrieg begann, hat sich leider kaum verändert. Die türkische Regierung verleugnet weiterhin die kulturellen, sozialen und politischen Rechte der kurdischen Bevölkerung. In Deutschland fordert der türkische Ministerpräsident für die dort lebenden Türken »Erziehung in der Muttersprache«, für die syrische Bevölkerung fordert er »Freiheit«, – seine Regierung verweigert der kurdischen Bevölkerung beides. Die Politik muß sich grundlegend ändern. Der Staat sollte den einzigen Weg der Konfliktlösung gehen, den er die letzten dreißig Jahren noch nicht versucht hat – den Weg des ernsthaften Dialogs und der Anerkennung der genannten Rechte. Unser größter Wunsch ist, daß die Länder Europas ihre über Jahrhunderte errungenen demokratischen Werte nicht einer profitorientierten Zusammenarbeit mit der Türkei opfern, sondern die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie unterstützen.

Interview: Martin Dolzer

* Aus: junge Welt, Samstag, 4. August 2012


Guerilla erobert Militärstützpunkte

Krieg in Semdinli. 10000 türkische Soldaten im Einsatz gegen Hunderte PKK-Kämpfer

Von Nick Brauns **


Türkische Truppen führen seit Tagen Manöver mit Dutzenden Kampfpanzern wenige Kilometer von der türkisch-syrischen Grenze durch. Sie richteten sich gegen die mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK verbündete Partei der Demokratischen Einheit PYD, die die Kontrolle über eine Reihe kurdischer Städte auf syrischer Seite ausübt, heißt es in der regierungsnahen Tageszeitung Todays Zaman. Gleichzeitig herrscht im türkisch-iranisch-irakischen Grenzgebiet seit dem 23. Juli Krieg. Hier sind 10000 türkische Soldaten mit schweren Waffen im Einsatz gegen Hunderte PKK-Guerillakämpfer, die sich im gebirgigen Gelände rund um die Kleinstadt Semdinli verschanzt haben. Die mit Luftabwehrgeschützen ausgestattete Guerilla hat mehrere Militärstützpunkte erobert, darunter die Stellung Gediktepe, auf der sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im letzten Jahr noch in Siegerpose ablichten ließ. Militäreinheiten in der Stadt können ihre Kasernen nicht mehr verlassen. »Es ist eine Belagerung«, heißt es in einer Erklärung der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG. »Die Kontrolle der Region liegt in der Hand der HPG. Egal wie hoch der Preis sein wird, wir werden nicht zurückweichen.«

Tausende Bewohner aus umliegenden Dörfern, die durch die andauernden Luftangriffe ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage verloren haben, sind geflohen. Nach Angaben der Guerilla wurden allein seit dem 29. Juli rund 50 türkische Soldaten und fünf PKK-Kämpfer getötet. Während türkische Sicherheitsexperten vom »schwersten PKK-Angriff aller Zeiten« sprechen, hat die Armee lediglich zwei Gefallene angegeben. Weder Journalisten noch Politiker der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie, BDP, werden in die Region gelassen, so daß der Kurdistan-Nationalkongreß am Donnerstag abend vor einem »humanitären Drama« in Semdinli warnte.

** Aus: junge Welt, Samstag, 4. August 2012


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