Im Räderwerk der Justiz
Türkische Soziologin Pinar Selek erneut vor Gericht
Von Nick Brauns *
Drohende lebenslange Haft für einen Bombenanschlag, den es überhaupt nicht gegeben hat – mit diesem kafkaesken Alptraum muß die türkische Soziologin Pinar Selek nun schon seit 13 Jahren leben. Am Mittwoch sollte ihr Fall bereits zum dritten Mal vor einem Istanbuler Schwurgericht aufgerollt werden. Doch nach kurzer Verhandlung wurde der weitere Prozeß auf den 22. Juni vertagt.
Vor dem Gerichtsgebäude demonstrierten Unterstützer von Selek aus der Türkei und Westeuropa unter der Losung »Wir sind alle Zeugen und warten auf Gerechtigkeit«. Unter den Prozeßbeobachtern befanden sich die Schriftsteller Günter Wallraff und Yasar Kemal, die Copräsidentin der Gemeinsamen Parlamentskommission EU–Türkei, Hélène Flautre, und der Vorsitzende des türkischen Gewerkschaftsdachverbandes DISK, Süleyman Celebi.
Die seit 2009 mit einem Stipendium des PEN-Zentrums für Schriftsteller im Exil in Deutschland lebende Angeklagte Selek war dagegen nicht erschienen. »Ich gehe davon aus, daß ich freigesprochen werde«, hatte sie sich gegenüber der Zeitung Sabah zuversichtlich gezeigt. Seleks Verteidigerin kündigte neue Beweise für die Unschuld ihrer Mandantin sowie einen medizinischen Bericht über deren in Polizeihaft erlittene Folter an.
Ins Räderwerk der Justiz war die damals 27 Jahre alte Soziologin Selek im Sommer 1998 durch ihr feministisches und antimilitaristisches Engagement geraten. Kurz nach einer Explosion auf dem »Ägyptischen Basar« von Istanbul, bei der sieben Menschen getötet und 127 verwundet wurden, wurde sie verhaftet. Sie wurde aufgrund einer erfolterten Aussage eines ebenfalls verhafteten Jugendlichen beschuldigt, Mitglied der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu sein und sollte Namen ihrer Interviewpartner für ein wissenschaftliches Projekt zu den Ursachen des Kurdenkonfliktes nennen. Als sie sich weigerte, wurde sie unter Folter zur Unterzeichnung eines vorformulierten Geständnisdes erpreßt, Bomben in einem von ihr mit aufgebauten Atelier für Straßenkinder versteckt zu haben. Erst aus dem Fernsehen erfuhr sie, daß ihr eine Beteiligung an einem Bombenanschlag auf den Basar vorgeworfen wurde.
Doch von Anfang an gab es Zweifel, ob es sich überhaupt um einen Anschlag gehandelt hatte, da die Polizei weder Sprengstoffreste noch Bombenteile gefunden hatte. Nur zwei von elf seitdem vorgenommene Sachverständigengutachten schließen einen Anschlag nicht aus, während die übrigen von einer defekten Gasflasche als wahrscheinlichster Ursache ausgehen.
Selek war 2001 nach zweieinhalbjähriger Haft von einem Istanbuler Gerichtshof freigesprochen worden. Auch nachdem der Oberste Kassationsgerichtshof in Ankara das Verfahren an das Istanbuler Gericht zurückverwies, erfolgte 2006 erneut ein Freispruch. Ende November 2010 kassierte das Kassationsgericht auch diesen Freispruch, da nicht auszuschließen sei, daß es sich bei der Explosion um einen Bombenanschlag gehandelt habe.
Über 6000 Menschen haben einen Appell des deutschen PEN-Zentrums unterzeichnet, der eine sofortige Einstellung des Verfahrens fordert. In der Türkei unterstützten 100000 Menschen die Kampagne »Gerechtigkeit für Pinar Selek«.
»Von einem rechtsstaatlichen Verfahren kann keine Rede sein«, erklärte die Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag, Sevim Dagdelen. Offenkundig solle zur Einschüchterung demokratischer Kräfte in der Türkei solange gegen Selek prozessiert werden, bis ein der türkischen Regierung genehmes Urteil herauskomme.
* Aus: junge Welt, 10. Februar 2011
SPD feiert bereits "Freispruch"
Pressemitteilung der AG Menschenrechte und humanitaere Hilfe
09. Februar 2011 - 143
Erleichterung ueber Freispruch von Pinar Selek
Zu dem heutigen Urteil des Istanbuler Schwurgerichtes im Fall
Pinar Selek erklaert die stellvertretende Sprecherin der
SPD-Bundestagsfraktion fuer Menschenrechte und humanitaere Hilfe
und zustaendige Tuerkei-Berichterstatterin Angelika Graf:
Die im deutschen Exil lebende und in der Tuerkei von einer
lebenslangen Haftstrafe bedrohte Soziologin Pinar Selek ist
heute faktisch freigesprochen worden. Die Erleichterung unter
den mehr als 30 angereisten internationalen Unterstuetzern war
so gross, dass sie spontan in Jubel ausbrachen. Offensichtlich
hat die grosse internationale Unterstuetzung von
Menschenrechtsaktivisten, Schriftstellervereinigung P.E.N. und
Politikern verschiedenster Parteien zu einem Einsehen gefuehrt.
Ein grosser Dank gilt daher dem Feministischen Netzwerk Amargi,
welches die Prozessbeobachtung organisiert hat.
Das endgueltige Urteil wird erst am 22. Juni diesen Jahres
erwartet, aber die Prognose ist positiv, da das Gericht auf dem
Freispruch fuer Pinar Selek bestand. Wir hoffen nun, dass die
Staatsanwaltschaft Einsehen hat, die Anklage fallen laesst und
den bisherigen Freispruch endlich akzeptiert.
Die SPD-Bundestagsfraktion will Pinar Selek unterstuetzen. Wie
viele andere auch, haben wir die tuerkische Regierung im
Vorhinein aufgefordert, das Verfahren gegen Pinar Selek
einzustellen. Wer sich mit den Vorwuerfen und dem Verfahren
beschaeftigt, kann schnell erkennen, dass die Unschuld von Pinar
Selek zweifelsfrei ist. Es scheint, dass Pinar Selek der
tuerkischen Regierung ein Dorn im Auge ist, weil sie sich seit
Jahren kritisch und mutig in der Kurdenfrage, der allgemeinen
Minderheitenpolitik und in der Geschlechterpolitik engagiert.
Hintergrund der Anklage gegen Pinar Selek ist, dass der
Soziologin und Autorin vorgeworfen wird, fuer ein Attentat vor
zwoelf Jahren verantwortlich zu sein. Bei dem Attentat auf dem
Istanbuler Gewuerzmarkt sind sieben Menschen ums Leben gekommen.
Niemand weiss bis heute, ob die Ursache eine Bombenexplosion war
oder auf eine versehentlich explodierte Gasflasche
zurueckzufuehren ist. Pinar Selek wurde dafuer bereits einmal
verurteilt, dann wieder freigesprochen. Die heutige Verhandlung
wollte den Freispruch wieder anfechten. Sie hat aber im
Gegenteil wieder bewiesen, dass Pinar Selek nichts mit diesem
tragischen Unglueck zu tun hat.
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