Die kurdische Proletarisierung
Die sozialen und regionalen Unterschiede in der Türkei haben sich während der AKP-Regierung verschärft
Von Murat Çakir *
Der in Muş geborene Mehmet Yalçın war 31 Jahre alt,
als er am 25. Februar 2011 in seinem Dorf elendig
starb. Zuerst dachten die Ärzte, Mehmet leide an Tuberkulose.
Doch es handelte sich um eine chronische
Pneumokoniose, Silikose. Viel zu lange hatte er Staub
eingeatmet – drei Jahre lang beim Bleichen von Jeans
in einem der dunklen Hinterhofateliers in Istanbul-
Güngören. Als Niedriglöhner und ohne Sozialversicherung.
Mehmet ist kein Einzelfall. Er gehörte zu den rund
600 an Silikose erkrankten kurdischen TextilarbeiterInnen,
von denen in den letzten 5 Jahren über 50
starben. Mehmet war Nummer 49. Er starb just an
dem Tag, an dem eine befristete Gesetzesänderung in
Kraft trat, die für an Silikose erkrankte ArbeiterInnen
auf Antrag eine monatliche Zahlung vorsah. Die Betroffenen
hatten bis zum 24. Mai 2011 Zeit, ihren Antrag
zu stellen. Abgeordnete der prokurdischen BDP
hatten diese Gesetzesänderung initiiert. Für Mehmet
kam sie zu spät.
Die Tragödie der kurdischen Niedriglöhner ist das
Ergebnis einer unsäglichen Entwicklung in der Türkei,
in deren Folge die kurdische Frage zu einem
Synonym für Armut, Proletarisierung und Hunger
geworden ist. Im Zuge des seit über 30 Jahren andauernden
Krieges und des autoritären Neoliberalismus
der AKP-Regierung haben sich in der Türkei die Klassengegensätze
verschärft und eine Ethnisierung der
sozialen Frage hervorgebracht.
»Die Armut ist kurdisch«
Zahlreiche Studien bestätigen diese Entwicklung. Das
Zentrum für wirtschaftliche und gesellschaftliche Studien
(BETAM) der Bahçeşehir Universität führte 2011
eine Untersuchung über die »Positionierung auf dem
Arbeitsmarkt anhand muttersprachlicher Unterschiede
« durch und stellte eine besondere Prekarisierung
von KurdInnen fest [1]. Laut dieser Studie liegt der Anteil
von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit
kurdischer Muttersprache bei knapp 38 Prozent. 66,3
Prozent von ihnen sind prekär Beschäftigte. Bei Personen
mit türkischer Muttersprache liegt der Anteil der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei 57 Prozent.
Der Leiter der Studie, Prof. Dr. Seyfettin Gürsel,
zieht das Fazit: »Die Armut ist kurdisch«. Wichtigste
Ursache dieser Entwicklung ist die Binnenmigration
der unqualifizierten Billigstkräften. Auch aus den offiziellen
Statistiken kann das herausgelesen werden.
Während die staatliche Statistikbehörde TUIK für das
Jahr 2009 eine landesweite Arbeitslosenquote von 14
Prozent feststellt [2], bescheinigt sie den von der Binnenmigration
besonders betroffenen Städten eine
doppelt so hohe Quote: so z.B. Adana 26,5 Prozent.
Die offiziellen Zahlen sind auch in den kurdischen
Städten besonders hoch: so z.B. Diyarbakır 20,6 Prozent
oder Hakkâri 19,7 Prozent.
Staatliche Armutsuntersuchungen belegen, dass sich
zwischen den Regionen der Türkei immense Unterschiede
verfestigt haben – laut einer Studie der staatlichen
Planungsorganisation DPT zwischen der am
weitesten entwickelten Region (Istanbul) und der am
wenigsten entwickelten Region (Muş) am Beispiel des
Arbeitsmarktes wie folgt [3]:
Beschäftigte in Prozent
Region\Wirtschaftssektor | Landwirtschaft | Industrie | Handel |
Istanbul | 8,13 | 32,15 | 18,73 |
Muş | 84,00 | 1,56 | 1,86 |
Zwar wird in der DPT-Studie in den wenig entwickelten
Regionen von hoher Beschäftigung in der Landwirtschaft
gesprochen, aber eine andere Zahl macht
deutlich, dass die Situation in den ländlichen Gebieten
keinen Deut besser ist. So z.B. in Diyarbakır: Der
Anteil von landlosen bzw. kleinste Flächen besitzenden
Familien liegt bei 42 Prozent. Sie besitzen rund
4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen. Dem
gegenüber kontrolliert eine Minderheit von 3 Prozent
mehr als 41 Prozent der Nutzflächen. Ähnliche Zahlen
sind auch aus Şanlıurfa bekannt: Während die
Landlosen 26,4 Prozent und Familien mit Kleinbesitz
rund 72 Prozent ausmachen, verfügt eine Minderheit
von 1,5 Prozent über mehr als 30 Prozent der Nutzflächen.
Zudem können Bauern auf rund 13.600 Hektar
eigener Fläche keine Landwirtschaft betreiben, da diese
Flächen vermint sind.
Auch in den Bereichen Bildung, Mobilität und Gesundheit
existieren erhebliche Unterschiede: Während die Analphabetenquote in Istanbul mit knapp 7 Prozent angegeben wird, liegt diese Quote in Muş bei 29,5 Prozent. In Istanbul sind pro zehntausend EinwohnerInnen
20,58 Ärzte tätig, in Muş gerade mal
2,76. Die Zahl von Krankenhausbetten pro zehntausend
EinwohnerInnen liegt in Istanbul bei 34,14, in
Muş bei 7,94. In Istanbul wurden pro zehntausend
EinwohnerInnen 1.000, in Muş 71 PKWs zugelassen.
Diese Unterschiede werden auch innerhalb der Regionen
festgestellt. Insbesondere in den von der Binnenmigration
betroffenen Städten wie Istanbul, Ankara,
Izmir, Adana und Mersin verschärfen sich die
Ungleichheiten zwischen den Stadtteilen. Städtische
Vororte und Slums werden zunehmend von kurdischen
BinnenmigrantInnen bevölkert, die sich als
Tagelöhner und unqualifizierte Billigstkräfte anbieten
müssen.
Eine weitere Studie macht deutlich, dass Armut in der
Türkei mittlerweile vorwiegend Kurdisch ist: In der
Studie des renommierten Forschungsinstituts KONDA [
4] wird festgestellt, dass von den KurdInnen, die
über 15 Jahre alt sind, nur 39 Prozent einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Innerhalb der erwerbsfähigen
Bevölkerung der Türkei liegt die kurdische Arbeitslosigkeit
bei 29,6 Prozent. 27 Prozent der KurdInnen
sind von den sozialen Sicherungssystemen ausgeschlossen.
Von dieser Situation sind besonders kurdische
Frauen betroffen. Der Ökonom Mustafa Sönmez
weist darauf hin, dass in den kurdischen Gebieten
rund 6,5 Millionen Frauen leben (2008) und 4,1 Millionen
von ihnen über 15 Jahre alt sind. Allerdings liegt
die Frauenbeschäftigung in den kurdischen Städten
bei nur rund 3 Prozent.
Die staatlich anerkannte Bedürftigkeit ist bei KurdInnen
überdurchschnittlich hoch. Laut Gesetz können
Personen, die nachweisen, dass sie über ein Einkommen
von höchstens einem Drittel des gesetzlichen
Mindestlohns (rund 265 Euro in 2012) verfügen, auf
Antrag die »Grüne Karte für kostenlose Gesundheitsversorgung
« erhalten. Die Zahl der »Grüne-Karte«-
InhaberInnen lag 2011 bei 9,5 Millionen – 46 Prozent
von ihnen lebten in den kurdischen Gebieten.
In der KONDA-Studie, die auf TUIK-Zahlen basiert,
wird ausgehend vom Familieneinkommen festgestellt,
dass 23,4 Prozent der KurdInnen über ein monatliches
Einkommen von 64 Lira oder weniger (1
Dollar oder weniger pro Tag) und 29,4 Prozent über
ein monatliches Einkommen zwischen 65 und 138
Lira (2,15 Dollar pro Tag) verfügen. Ausgehend vom
durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen lebten somit
23 Prozent der KurdInnen unterhalb der Hungergrenze
und 53 Prozent unterhalb der Armutsgrenze.
Laut KONDA sind KurdInnen die ärmste und unter
schwierigsten materiellen Bedingungen lebende Bevölkerungsgruppe
der Türkei. Dies gilt jedoch nicht
nur für die kurdischen Gebiete. Zwar ist laut TUIKAngaben
der Anteil von armen Familien in den kurdischen
Gebieten von 13,7 Prozent (2009) auf 11,5
Prozent (2010) zurückgegangen. Zugleich hat er sich
in der östlichen Mittelmeerregion von 11,8 Prozent
(2009) auf 12,6 Prozent (2010) erhöht. Der Wirtschaftswissenschaftler
Prof. Dr. İzzettin Önder interpretiert
dies folgendermaßen: »Diese Zahlen, wenn
sie denn zutreffen, belegen nicht einen Rückgang
der kurdischen Armut, sondern dessen Verschiebung
durch die Binnenmigration in die westlichen Regionen
«. Laut KONDA wohnen 22,3 Prozent der in Istanbul
lebenden KurdInnen in einem Slumgebiet der
Stadt. In der östlichen Mittelmeerregion, z.B. in Mersin
und Antalya, sind es dagegen 72 Prozent, in Izmir
59,3 Prozent.
Die soziale Frage und die kurdische Bewegung
Die forcierte Binnenmigration und die kurdische
Proletarisierung, vor allem im informellen Sektor,
haben nach 2000 dazu geführt, dass die kurdische
Bewegung eine städtische Bewegung wurde, deren
soziale Basis hochpolitisierte Prekäre, Niedriglöhner
und Frauen sind. Die durch den Krieg, durch Zwangsumsiedlungen
und massive Umstrukturierungen in
der Landwirtschaft ausgelöste Binnenmigration steht
auch mit den kommunalen Wahlerfolgen der prokurdischen
BDP und ihrem Einzug ins türkische Parlament
in engem Zusammenhang.
Diese Entwicklung bringt die kurdische Bewegung
in ein Dilemma. Zum einen muss sie auf die soziale
Frage reagieren, zum anderen Bündnisse für die parlamentarische
Arbeit schmieden. In den kurdischen
Gebieten konnten breitere Bündnisse, da eine gewerkschaftlich
organisierte ArbeiterInnenbewegung
fehlt, bislang nur über die nationale Frage begründet
werden. So änderten sich die politischen Prioritäten:
Während die kurdische Bewegung sich lange Jahre
gegen die feudalen Großgrundbesitzer positionierte,
verkümmerte die Forderung nach einer Landreform
zu einer programmatischen Floskel im Programm
der BDP. Obwohl Teile der kurdischen Bewegung antikapitalistische
Positionen vertreten und im Westen
des Landes weiterhin der Schulterschluss mit türkischen Linken gesucht wird, findet die nationale Frage
innerhalb der BDP zunehmend mehr Beachtung.
Die Polarisierung der Gesellschaft entlang sozialer,
ethnischer und religiöser Spaltungen, die besonderen
Bedingungen in den kurdischen Gebieten und gesetzliche
Hindernisse wie die 10-Prozent-Hürde für die
parlamentarische Vertretung erfordern ein pragmatisches
Vorgehen der BDP. Sie ist die einzige legale,
im Parlament vertretene und kommunal stark verankerte
prokurdische Partei – eine ebenso vielfältige wie
prekäre Koalition unterschiedlicher kurdischer Kräfte.
Der Kitt, der diese Koalition zusammenhält, ist der
gemeinsame Bezug auf eine kurdische Identität. Das
heißt nicht, dass die BDP die soziale Frage ignoriert.
Es gibt bemerkenswerte Bemühungen, besonders in
den von der BDP geführten Kommunalverwaltungen,
chronische Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen.
Ohne die vielen NGOs und sozialen Hilfseinrichtungen
wäre die Situation in den kurdischen Städten
um ein vielfaches schlimmer.
In der Tarifpolitik verhalten sich die BDP-Kommunen
beispielhaft für die Türkei. So hat z.B. die Stadt
Diyarbakır mit der Gewerkschaft Genel-İş (Dachverband
DİSK) einen Tarifvertrag für kommunale Angestellte
und ArbeiterInnen geschlossen, die vor Symbolik
strotzt. Für 960 Angestellte und ArbeiterInnen
sind der 1. Mai und das kurdische Newroz-Fest offizielle
Urlaubstage. Zudem haben beschäftigte Frauen
am 8. März und 25. November jeweils einen zusätzlichen
bezahlten Urlaubstag. Auch die kommunal Beschäftigten
zeigen Flagge für gesellschaftliche Solidarität:
Sie spenden aus ihren Löhnen monatlich 15 Lira
(etwas mehr als 7 Euro) an den Sarmaşık-Verein, der
aus diesen Beiträgen Lebensmittel kauft und kostenlos
an bedürftige Familien verteilt.
Doch reicht diese Symbolpolitik aus, um angemessen
auf die kurdische Proletarisierung zu reagieren?
Haben die Erfahrungen der »nationalen Befreiungsbewegungen
« des letzten Jahrhunderts nicht gelehrt,
dass die Fokussierung auf die nationale Frage kaum
zu einer Lösung der sozialen Frage führen kann? Die
kurdische Bewegung steht vor der gewaltigen Herausforderung,
die nationale Frage – die sich in der Türkei
in der Forderung nach Anerkennung der kurdischen
Identität erschöpft – und die soziale Frage mit einer
ökologisch-feministisch-emanzipatorischen Perspektive
zu verbinden. Eine solche Verbindung befreit
aus dem engen Korsett des Regionalpartei-Profils,
wodurch die Forderungen nach demokratischer Autonomie
und Anerkennung der kurdischen Identität
die notwendige Kraft für historische Veränderungen
im Land entfalten können. Wenngleich dies den Kitt
in der BDP brüchig werden ließe und Bündnisse mit
bürgerlichen, feudalen und islamischen Kräften in
den kurdischen Gebieten erschweren würde, machen
der alltägliche Hunger, die Armut, Ausgegrenztheit
und Entrechtung großer Teile der kurdischen Bevölkerung
eine konsequente Parteinahme zugunsten der
Schwächsten notwendig.
Die toten »Silikose-Arbeiter« mahnen: Die dringlichste
Aufgabe der kurdischen Bewegung besteht darin,
ihre Politik entsprechend der unzertrennbaren Einheit
von politischen Freiheiten und sozialen Rechten
auszurichten. Ohne das Selbstbestimmungsrecht in
Abrede stellen zu wollen: Die sozialen Rechte, die
notwendige Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse
der kurdischen Bevölkerung dürfen einer
wie auch immer gearteten Nationalstaatswerdung
nicht geopfert werden.
Anmerkungen-
Siehe: http://betam.bahcesehir.edu.tr/tr/wp-content/
uploads/2009/12/ArastirmaNotu060.pdf
- Siehe offizielle Website der TUIK: http://www.tuik.gov.tr/
PreTablo.do?tb_id=25&ust_id=8
- Siehe: www.dpt.gov.tr/DocObjects/
Download/8143/2003-05.pdf und http://arsiv.petrol-is.org.tr/
yayinlar/kriz/snmz_kriz.htm
- Siehe Bericht der Tageszeitung Radikal: http://www.
radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType=RadikalDetayV3&Catego
ryID=77&ArticleID=1031209 und die offizielle Website von
KONDA: http://www.konda.com.tr/tr/raporlar.php (Die Studie
kann auf Anforderung heruntergeladen werden).
* Dieser Artikel erschien in der zweiten Ausgabe des von Murat Cakir, Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, herausgegebenen "Infobriefs Türkei", April 2012. Den ganzen Infobrief können Sie auch im Internet-Blog lesen: infobrief-tuerkei
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