Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

PKK will Frieden mit Ankara

Rätselraten um Anschlag vom Sonntag in Istanbul

Von Jan Keetman, Istanbul *

Trotz des Selbstmordanschlags vom Sonntag (31. Okt.) wächst in der Türkei die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes. Der inhaftierte PKK-Chef Öcalan ließ am Montagabend (1. Nov.) mitteilen, seine Kontakte mit dem türkischen Staat hätten inzwischen die Dimension regelrechter »Verhandlungen« über eine Friedenslösung angenommen.

Wie im Laufe des Montags bekannt wurde, hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihren Waffenstillstand bis zu den Parlamentswahlen im Juni 2011 verlängert. Bei dieser Entscheidung spielte der gefangene PKK-Chef Abdullah Öcalan eine zentrale Rolle. Einerseits führt er seit einiger Zeit Gespräche mit Vertretern des türkischen Staates, andererseits wurde ihm ein Briefwechsel mit dem Kommandanten der PKK in Irak, Murat Karayilan, ermöglicht. Karayilan hatte mit dem Befehl zum Waffenstillstand und einem Rückzug der PKK-Kämpfer aus der Türkei gezögert, weil viele Waffenstillstände nur dem türkischen Militär genützt haben, ohne politisch etwas zu bewegen.

In der über den Satellitensender Roj TV verkündeten Erklärung der PKK zum Waffenstillstand werden denn auch fünf Bedingungen genannt: Es soll keine militärischen Operationen gegen die PKK geben. In Haft befindliche kurdische Politiker sollen frei kommen. Die Gespräche mit Öcalan sollen zu regelrechten Verhandlungen werden. Es soll eine Kommission zur Untersuchung der »Verfassung und der Realitäten« gegründet werden. Die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament soll aufgehoben werden. Die Erfüllung dieser Bedingungen wurde an keine Fristen gebunden.

Der PKK geht es offenbar um mehr als einen Vorwand, um etwa nach Beendigung des Winters, der ihre Operationsmöglichkeiten einschränkt, gleich wieder loszuschlagen. Getrieben wird sie dabei von einer alten Erkenntnis, die Karayilan vor kurzem in einem Interview wiederholt hat: »Wir können den Staat nicht besiegen, und der Staat kann uns nicht vernichten.«

Am Montag konnte Aysel Tugluk, eine kurdische Politikerin, Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besuchen. Tugluk teilte sich den Vorsitz der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) mit Ahmet Türk. Als die DTP im Dezember vergangenen Jahres verboten wurde, verloren beide ihr Abgeordnetenmandat und erhielten ein Politikverbot. Die beiden Politiker stehen nun im Zentrum der Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts.

Angesichts der neuen Entwicklung herrscht in der Türkei Rätselraten über den Selbstmordanschlag auf einen Polizeiposten am Sonntag in Istanbul, bei dem 15 Polizisten und 17 Passanten verletzt wurden. Die PKK bestreitet entschieden, am letzten Tag ihres auslaufenden Waffenstillstandes und kurz vor der Verkündung der Verlängerung einen Anschlag mitten in Istanbul begangen zu haben.

Die Ermittlungen der Polizei sind bisher nicht entscheidend vorangekommen. Der Sprengstoff wurde zwar häufig von der PKK verwendet, gelegentlich aber auch von anderen Organisationen. Die Identität des Attentäters, der von der eigenen Bombe zerrissen wurde, konnte bisher nicht geklärt werden. Also schießen die Spekulationen ins Kraut. Eine davon ist, dass es doch die PKK war, die noch kurz vor der Verlängerung des Waffenstillstands an ihre Krallen erinnern wollte. Andere vermuten Kräfte innerhalb des Staates, die von dem Konflikt mit der PKK politisch profitieren, als Urheber. Schließlich wird auch noch vermutet, die PKK sei gespalten. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass ein Teil der PKK dem Waffenstillstand sehr skeptisch gegenüber steht. Selbst wenn diese Gruppe nicht hinter dem Anschlag am Sonntag stehen sollte, besteht die Möglichkeit, dass sie auch gegen den Willen der PKK-Führung etwa im Frühjahr wieder zuschlägt, falls es bis dahin keine greifbaren politischen Veränderungen gibt.

Die Gefahr, dass der Friedensprozess scheitert, ist nach wie vor vorhanden. Doch andererseits ist wohl das erste Mal wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen – nach 26 Jahren Krieg und Terror und rund 40 000 Toten ein Funken Hoffnung.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2010


Vom Dialog zu Verhandlungen

PKK-Chef Öcalan spricht mit unbekannten Regierungsvertretern

Von Nick Brauns **


Vertreter des türkischen Staates verhandeln mit dem inhaftierten Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, offenbar über eine Lösung der kurdischen Frage. »Man ist von einer Dialogphase in eine Art Verhandlungen übergegangen«, berichtete die ehemalige Parlamentsabgeordnete und jetzige stellvertretende Vorsitzende des von kurdischen Nichtregierungsorganisationen gebildeten Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), Aysel Tugluk. Die Rechtsanwältin durfte Öcalan am Montag (1. Nov.) auf der Gefängnis­insel Imrali besuchen. Nachdem die türkische Regierung bereits im September erstmals Kontakte von Geheimdienstleuten mit Öcalan eingeräumt hatte, habe mittlerweile ein »wichtiges und ernst zu nehmendes Gespräch« von Vertretern des türkischen Staates mit Öcalan gegeben, bei dem klargeworden wäre, daß Ankara an einer friedlichen Lösung interessiert sei, erklärte Tugluk. Öcalan habe dabei nochmals deutlich gemacht, daß sein Lösungsmodell einer demokratischen Autonomie keinerlei eigenen Staat für die Kurden vorsehe. Die Nachrichtenagentur AFP zitierte unterdessen Osmar Baydemir, den Bürgermeister der Kurdenmetropole Diyarbakir. Als einer der prominentesten kurdischen Politiker des Landes habe dieser die Phase der Gewalt für beendet erklärt. Die PKK und die türkische Armee könnten den jeweiligen Gegnern mit Waffengewalt nicht besiegen. Nun gebe es die Chance auf Frieden.

Unklar ist allerdings, wer genau Öcalans Verhandlungspartner ist. So bezeichnete der PKK-Führer sowohl die Haltung der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP als auch die der nationalistischen Opposition aus CHP und MHP als Hindernis für eine Lösung der kurdischen Frage, da diese Parteien lediglich kurzfristige eigene Interessen verfolgten, was der Türkei großen Schaden zufüge. Deshalb vermuten manche, daß die Regierung hofft, durch suggerierte Geheimverhandlungen mit Öcalan die kurdische Bewegung vor den Parlamentswahlen im kommenden Juni in eine passive Abwartehaltung zu drängen, ohne weitere von der PKK geforderte Zugeständnisse wie ein Ende der Militäroperationen oder eine Freilassung der bis zu 2000 kurdischen politischen Gefangenen zu machen. Tatsächlich verlängerte die PKK nach Tugluks Besuch bei Öcalan am Montag ihren im August ausgerufenen einseitigen Waffenstillstand: »Unsere Bewegung hat beschlossen, den Nicht-Aktionsprozeß bis zu den Parlamentswahlen 2011 auszudehnen, um einen demokratischen Lösungsprozeß anzustoßen und sicherzustellen, daß die Wahlen in einer gesunden Umgebung stattfinden«, heißt es in der Erklärung der PKK-Führung. Diese wies zugleich jede Verantwortung für den Selbstmordanschlag auf Polizisten auf dem Istanbuler Taksim-Platz vom Sonntag zurück, bei dem mehr als 30 Personen verletzt wurden und der Attentäter getötet worden war. Abdullah Öcalan forderte zur Aufklärung dieses und weiterer Anschläge der letzten Zeit eine parlamentarische Wahrheitskommission.

** Aus: junge Welt, 3. November 2010


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage