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Es wird ernst! Die türkische Regierung fordert Patriots von der NATO

Bundesregierung will Patriot-Raketen in die Türkei entsenden - Opposition im Bundestag in unterschiedlicher Weise dagegen. Statement der NATO und Artikel


Vor den Artikeln das Aktuellste:

Es wird ernst! Die türkische Regierung fordert Patriots von der NATO - Statement des NATO-Generalsekretärs

Statement by the NATO Secretary General on Patriot Missile Deployment to Turkey

I have received a letter from the Turkish government requesting the deployment of Patriot missiles. Such a deployment would augment Turkey’s air defence capabilities to defend the population and territory of Turkey. It would contribute to the de-escalation of the crisis along NATO’s south-eastern border. And it would be a concrete demonstration of Alliance solidarity and resolve.

In its letter, the Turkish government stressed that the deployment will be defensive only, and that it will in no way support a no-fly zone or any offensive operation.

NATO will discuss Turkey’s request without delay. If approved, the deployment would be undertaken in accordance with NATO’s standing air defence plan. It is up to the individual NATO countries that have available Patriots - Germany, the Netherlands and the United States - to decide if they can provide them for deployment in Turkey and for how long. Next week a joint team will visit Turkey to conduct a site-survey for the possible deployment of Patriots.

The security of the Alliance is indivisible. NATO is fully committed to deterring against any threats and defending Turkey’s territorial integrity.

Quelle: NATO-Newsletter, Mittwoch, 21. November 2012




Opposition gibt sich unpatriotisch

SPD, Grüne und LINKE lehnen Einsatz der Bundeswehr-Raketentruppe in der Türkei ab

Von Fabian Lambeck *


Die Regierung scheint entschlossen, Luftabwehrraketen in die Türkei zu entsenden. Die Opposition ist nicht begeistert. Während die SPD erst einmal besser informiert werden möchte, lehnen Grüne und LINKE den Einsatz der Patriots kategorisch ab.

Der Bundesverteidigungsminister stimmte sich am Montag schon mal auf den Ernstfall ein: »Wenn es um eine Beteiligung von Patriots an der türkischen Grenze geht, dann auch mit deutschen Soldaten.« Doch ganz so einfach kann Thomas de Maizière (CDU) die Bundeswehrangehörigen dann doch nicht ins Krisengebiet verlegen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Brüssel betonte sein Kabinettskollege Guido Westerwelle (FDP), dass man den »Bundestag so oder so engstens einbinden« werde, selbst wenn rechtlich kein Mandat des Bundestags für eine Verlegung der Raketen nötig sei. Westerwelle unterstrich zudem, dass die Parlamentarier ohnehin in die Überlegungen bereits eingebunden seien. »Es ist nicht so, als würde der deutsche Bundestag, als würden die Abgeordneten zum ersten Mal jetzt in die Gespräche einbezogen werden.«

Offenbar galt das nicht für die Sozialdemokraten. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles beschwerte sich am Montag über die »grobe Missachtung« des Bundestags. Bislang seien die Parlamentarier noch nicht informiert worden. Auch SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann kritisierte die Informationspolitik der Regierung. »Es ist schon ein erstaunlicher Vorgang, dass bei einer Frage von solcher Tragweite die Opposition aus der Zeitung erfährt, dass die Bundesregierung darüber nachdenkt, deutsche Flugabwehrraketen und deutsche Soldaten an der türkischen Grenze zu Syrien zu stationieren«, so Oppermann in der ARD.

Laut Thomas de Maizière will Schwarz-Gelb die beiden kommenden Sitzungswochen des Parlaments nutzen, um die Fraktionen »einzubinden und zu konsultieren«. Schon zuvor hatte der Minister eingeräumt, dass »sehr viel dafür« spreche, dass für einen solchen Einsatz ein Bundestagsmandat nötig sei. Genaue Angaben über die Zahl der zu entsendenden Soldaten wollte de Maizière nicht machen. Dazu sei es noch zu früh. Allerdings ist bekannt, dass für den Betrieb von zwei Patriot-Staffeln 170 Soldaten benötigt werden.

Die Sozialdemokraten profilieren sich unterdessen als Friedenshüter. Während Alt-Kanzler Gerhard Schröder im Jahre 2001 noch die Vertauensfrage stellte, um seine Genossen in den Afghanistan-Krieg zu treiben, gibt sich die Parteiführung nun zurückhaltender. Der damalige Außenminister und heutige SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagte »Bild« vom Montag, dass die Türkei als Nato-Partner Anspruch auf Unterstützung habe, wenn ihr Staatsgebiet und seine Menschen angegriffen werden. »Ob das der Fall ist, darf in der hochgefährlichen Lage im Nahen und Mittleren Osten nicht leichtfertig entschieden werden«, warnte er.

Die Grünen wollen das heikle Thema möglichst schnell in den Bundestags-Ausschüssen behandeln. Der verteidigungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Omid Nouripour, sagte der »Leipziger Volkszeitung«, seine Grünen-Fraktion habe für Donnerstag je eine Sondersitzung der Ausschüsse für Verteidigung und Auswärtiges beantragt. Man erwarte eine »rückhaltlose Aufklärung« der militärischen und politischen Überlegungen der Bundesregierung, so Nouripour. Grünen-Chef Jürgen Trittin stellte klar: »Jegliche militärische Operation über dem Hoheitsgebiet von Syrien ohne ein UN-Mandat geht für Deutschland nicht.«

Noch deutlicher wurde Paul Schäfer, der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion: »Jetzt die Bundeswehr an der türkisch-syrischen Grenze zu stationieren, kann nur als einseitige Parteinahme mit großer Auswirkung auf den syrischen Bürgerkrieg gewertet werden«, warnte der Linkspolitiker. Die LINKE lehnt die Verlegung der Luftabwehrraketen kategorisch ab.

Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Philipp Mißfelder, zeigte kein Verständnis für die Bedenken der Opposition. Ihr Widerstand gefährde Deutschlands Stellung als verlässlicher Partner in der Nato. »Ich schäme mich für meine Bundestagskollegen«, so der Junge-Union-Chef und ausgewiesene Transatlantiker gegenüber »Spiegel online«.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 20. November 2012


Ein Fall für die NATO?

Von Olaf Standke **

Der Bürgerkrieg in Syrien ist ein Reizthema für den Nordatlantik- Pakt, denn während das NATO-Mitglied Türkei als direkter Nachbar schon lange involviert ist, zeigte die Militärallianz offiziell bislang wenig Neigung, sich direkt einzuschalten. Auch bei grenzüberschreitenden Zwischenfällen blieb es bei verbaler Unterstützung für den Verbündeten. Nun scheint man vor der Stationierung des Raketenabwehrsystems »Patriot « durch die schnelle Eingreiftruppe »NATO Response Force« an der türkisch-syrischen Grenze zu stehen, wobei nur drei der 28 NATOStaaten über entsprechende Einheiten verfügen – Deutschland, die Niederlande und die USA. Stellt sich die Frage: auf welcher politisch-rechtlichen Grundlage? Zumal sich hier die Möglichkeit eröffnet, gleichsam durch die Hintertür eine Flugverbotszone im Norden Syriens auch ohne UNOMandat zu installieren.

Ankara hat bisher zwei Mal Beratungen nach Artikel 4 des NATO-Vertrages gefordert. Danach kann jedes Mitgliedsland, das seine »territoriale Integrität, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit« gefährdet sieht, die anderen Staaten zur »Konsultation« zwingen. Im Juni ging es um den Abschuss eines türkischen Kampfflugzeugs, im Oktober um einen Granatenbeschuss mit tödlichen Folgen. Artikel 5 sieht für den Fall eines Angriffs auf einen Verbündeten auch den militärischen Beistand der anderen Mitglieder vor. Das blieb Kernstück der 2010 auf dem Lissabon-Gipfel beschlossenen neuen NATO-Strategie. Artikel 6 des Vertrags definiert, welche Situationen den Bündnisfall auslösen können; dabei müsste auch bei Angriffen im oder über dem Mittelmeer reagiert werden.

Dieser »kollektive Verteidigungsfall« wurde bisher in Sachen Syrien nicht aufgerufen und Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière will ihn wohl am liebsten jenseits von Grundgesetz und Bundestagsmandat umschiffen. Er sprach jetzt von einer »vorsorglichen und defensiven Maßnahme«. Der NATO-Oberkommandeur für Europa habe die Befugnis, »militärische Fähigkeiten im gesamten Bündnisgebiet zu dislozieren«. Erst ein Mal trat der Bündnisfall in Kraft: nach den Terrorangriffen auf die USA vom 11. September 2001. Und das, obwohl nach Ansicht von Völkerrechtlern gar keine adäquate Kriegssituation vorlag. Trotzdem patrouillieren auch elf Jahre später noch immer deutsche Kriegsschiffe im Rahmen der Operation Active Endeavour im Mittelmeer unter dieser Überschrift. Wie wenig der Bündnisfall allerdings Voraussetzung für ein militärisches Eingreifen der NATO sein muss, zeigte sich seit dem Krieg gegen Jugoslawien 1999 immer wieder.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 20. November 2012


Drängen auf Intervention

Bundesregierung will mit der Entsendung von Patriot-Raketen in die Türkei Flugverbotszone über Syrien vorbereiten

Von Knut Mellenthin ***


Die deutsche Regierung brennt darauf, die Bundeswehr mit Flugabwehrraketen vom Typ Patriot an die türkische Grenze zu Syrien zu schicken. Vor allem der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestags, Philipp Mißfelder, schwadronierte am Sonntag schon mal vorauseilend über »Bündnissolidarität«, die eine nicht zu diskutierende Selbstverständlichkeit sein müsse. Zuvor hatte bereits Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) am Donnerstag behauptet, ein solcher Einsatz wäre »keinerlei Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg«.

Die Sache hat nur noch zwei Schönheitsfehler. Erstens: Die Türkei müßte um die Stationierung des Waffensystems formal bitten. Das war am Wochenende noch nicht geschehen, sondern wurde – einem Gerücht der Süddeutschen Zeitung zufolge – frühestens am Montag erwartet. Zweitens: Läge ein solcher Antrag vor, müßte die NATO ihn beraten und zu einer positiven Konsensentscheidung aller 28 Mitgliedstaaten kommen. Ein automatischer Handlungszwang für Deutschland ergäbe sich jedoch selbst in diesem Fall nicht.

Die »Bündnissolidarität« ist ein scheinheiliger Vorwand, da zur Zeit niemand damit rechnet, daß die NATO im Fall der Türkei den Bündnisfall nach Artikel 5 erklären oder darüber auch nur diskutieren wird. Dieser Artikel sieht vor, daß ein »bewaffneter Angriff« auf ein Mitgliedsland oder mehrere von ihnen als Angriff auf die gesamte Allianz betrachtet wird. Der Artikel 5 wurde seit Gründung der NATO im Jahre 1949 nur ein einziges Mal in Anspruch genommen: nach den Angriffen auf Ziele in New York und Washington am 11. September 2001. Der damals erklärte Bündnisfall, zu dessen praktischen Konsequenzen die Militärintervention in Afghanistan gehört, wurde bis heute nicht aufgehoben.

Gegenwärtig wird damit gerechnet, daß die türkische Regierung sich lediglich auf den Artikel 4 des NATO-Vertrags beziehen könnte. Er besagt, daß jedes Mitglied »Beratungen« verlangen kann, wenn es das »Gefühl« hat, seine Unabhängigkeit oder Sicherheit seien bedroht. Verpflichtungen, wie von der deutschen Regierungskoalition jetzt lautstark und aggressiv beschworen, würden sich daraus nicht ergeben. Die Türkei hat vom Artikel 4 bereits dreimal Gebrauch gemacht: Im Februar 2003 kurz vor Beginn des Irak-Kriegs, nach dem Abschuß eines türkischen Militärflugzeugs über Syrien im Juni dieses Jahres, und nach der Explosion einer aus Syrien kommenden Artilleriegranate auf türkischem Boden Anfang Oktober.

In den beiden letzten Fällen beschränkte sich die Solidarität der NATO auf vollmundige Stellungnahmen. Anders war die Reaktion im Jahr 2003: Die NATO beschloß die »Unterstützung« der Türkei durch Patriot-Abwehrraketen, AWACS-Aufklärungsflüge, Gerät gegen chemische und biologische Waffen sowie sechs spanische Kampfflugzeuge. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung, ebenso wie Frankreich und Belgien, widersprachen diesen Maßnahmen, weil sie darin wohlbegründet eine Beteiligung an der bevorstehenden US-amerikanischen Aggression gegen Irak sahen. Letztlich stellte Deutschland zwar Patriot-Raketen zur Verfügung, aber keine Soldaten zu deren Bedienung; diesen Job hätten im Bedarfsfall, der natürlich nicht eintrat, Niederländer übernehmen sollen.

Sachlich betrachtet war die Türkei damals vom Irak so wenig bedroht wie heute von Syrien. Sollten demnächst wirklich Patriot-Luftabwehrraketen der Bundeswehr, der USA und der Niederlande – nur diese drei Länder haben solche Waffen – in der Türkei stationiert werden, käme nur ein einziger militärischer Zweck in Frage: die Erzwingung einer Flugverbotszone über einem Teil Syriens, um dort ein völlig von islamisch-fundamentalistischen Rebellen beherrschtes Gebiet zu schaffen. Mit einer Reichweite von bis zu 100 Kilometern ist die Patriot dafür hinreichend ausgestattet. Das wäre eine offene Entscheidung für ein direktes militärisches Eingreifen in den Bürgerkrieg.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 20. November 2012


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