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"Ich befürchte, dass die Bundesrepublik Deutschland mit einer solchen Stationierung selbst zum Akteur im Syrien-Konflikt wird."

Erklärung der SPD-Abgeordneten Hilde Mattheis zur Abstimmung über die Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei


Hilde Mattheis stimmte als eine der wenigen SPD-Abgeordneten gegen den Antrag der Bundesregierung, Patriot-Raketen und Bundeswehrsoldaten im türkisch-syrischen Grenzgebiet aufzustellen. Wir dokumentieren im Folgenden ihre Persönliche Erklärung, womit sie ihr von der SPD-Fraktion abweichendes Abstimmungsverhalten begründet.

Erklärkung zur Abstimmung: Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei

Hilde Mattheis MdB

Zur Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung „Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung (Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen) sowie des Beschlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012“, Drucksache 17/11783 vom 14.12.2012 – TOP 43

Ich freue mich, dass durch hartnäckiges Insistieren u.a. der SPD- Bundestagsfraktion durchgesetzt werden konnte, dass der Deutsche Bundestag trotz der anfänglichen Weigerung der Bundesregierung die Gelegenheit bekommen hat, sich mit dem Mandat zur Stationierung der Patriot-Raketen in der Türkei auseinander zu setzen und darüber abzustimmen. Dies gibt mir Gelegenheit, meine Ablehnung dieses Antrags der Bundesregierung zu begründen:

1) Ich bezweifle einerseits, dass Syrien feindliche Absichten gegenüber der Türkei hat und diese angreifen möchte. Eine wirkliche Bedrohung, auf die sich der Einsatz begründen könnte, kann ich aus dem bisherigen Konfliktverlauf nicht erkennen. Im Juni hat Syrien ein türkisches Militärflugzeug abgeschossen. Auch kommt es immer wieder zu Einschlägen einzelner syrischer Granaten auf türkischem Territorium. Diese Vorfälle sind sehr bedauerlich, zumal dabei Menschen ums Leben gekommen sind. Dennoch stellen sie meines Erachtens keine so weitreichende Bedrohung der türkischen Integrität oder der türkischen Bürger dar, dass sie im angedachten Maße das Recht auf Selbstverteidigung aktivieren würde bzw. in der Konsequenz eine Unterstützung der NATO- Partner zur Folge haben müssten. Darüber hinaus sind die „Patriots“ für die unterste Stufe der Raketenabwehr und gegen den Beschuss durch ballistische Raketen gebaut. Syrien hat die Türkei bisher aber weder mit diesen Waffensystemen angegriffen, noch gibt es Anzeichen dafür, dass Syrien dies tun werde. Zudem gilt die türkische Armee als eine der bestausgebildetsten und - ausgerüsteten Armee im Nahen Osten. Bei einem Angriff würde sofort der Bündnisfall eintreten, was eine militärische Niederlage Syriens und das Ende des Assad Regimes zur Folge hätte. Die Begründung dieses Antrages, nämlich die Notwendigkeit der Stationierung dieser Raketen und der deutschen Soldaten zur Verteidigung und Abwehr eines Angriffs auf die Türkei, ist daher nicht logisch.
Dazu kommt, dass die Raketen laut Medienberichten anscheinend nur sehr punktuell „zum Schutz von Kampftruppen und hochwertigen Zielen“ geeignet sind und nur eine sehr geringe Reichweite haben. Eine Art Schutzschirm erscheint mir dadurch nicht gewährleistet.

2) Ein Hinweis auf eine evtl. Bedrohung der Türkei im Falle des Sturzes von Assad ist für mich ebenfalls nicht zu erkennen, zumal die türkische Seite durch die Einrichtung von Flüchtlingslagern gegenüber den Aufständischen zu erkennen gegeben hat, dass sie ihnen nicht feindlich gegenüber steht. Allerdings sind in den vergangenen Wochen wegen der Überfüllung der Lager anscheinend auch Flüchtlinge abgewiesen wurden.

3) Ungeachtet der Tatsache, dass m.E. eine Bedrohungslage also nicht gegeben ist, lässt der Antrag der Bundesregierung zusätzlich einen stark symbolischen Charakter erkennen. Die Stationierung unterstreiche die „Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner“. Hier widerspricht sich die Bundesregierung in ihrer Argumentation: Eine Stationierung macht für mich nur Sinn, bzw. kann nur dann eine abschreckende Wirkung entfalten, wenn die NATO und die Bundesregierung auch wirklich zu einem Einsatz entschlossen sind. Reine Drohgebärden sollte man in einer angespannten Situation – wie sie im Nahen Osten derzeit fast überall festzustellen ist – unterlassen.

4) Für den Fall, dass meine Einschätzung falsch ist und sich die Lage dramatisch zuspitzen sollte, erschließt sich mir aus dem Antrag der Bundesregierung auch nicht, wie sie im Falle einer Eskalation zu verfahren gedenkt. Das hat auch der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes Ulrich Kirsch in einer Reihe von Interviews deutlich gemacht. Der Bundestag – so Kirsch – müsse sich auch mit der Frage beschäftigen, in welcher Situation die Bundeswehr ihre Patriot- Einheiten zurückziehen müsse. Darüber finde ich nichts in diesem Antrag.

5) Mich beunruhigt zudem, dass die Raketen wohl in einer Region des türkischen Staatsgebietes stationiert werden sollen, in der es durch den derzeit wieder aufflammenden Kurdenkonflikt immer wieder zu Unruhen kommt. Dies liegt m.E. in weiten Teilen in der Verantwortung der türkischen Regierung. Ich befürchte aber, dass die Stationierung der „Patriots“ nicht zur friedlichen Entwicklung im Südosten der Türkei beitragen wird.

6) In ihrem Antrag zur Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der Türkei verweist die Bundesregierung darauf, dass der Einsatz in „unmittelbaren Zusammenhang mit dem andauernden umfangreichen deutschen zivilen Engagement zur Unterstützung der Zivilbevölkerung in Syrien“ steht. Dies zweifle ich an. Meiner Meinung nach sind die zivilen Mittel zur Unterstützung der zivilen syrischen Kräfte noch lange nicht ausgereizt.

Statt Waffen an bzw. hinter der türkisch- syrischen Grenze zu stationieren, sollten wir der Türkei helfen, mit den Flüchtlingswellen zurecht zu kommen und innerhalb der EU darauf drängen, unser ziviles Engagement für die syrischen Flüchtlinge in den Grenzgebieten zu verstärken sowie syrische Flüchtlinge aller Konfessionen in Deutschland aufzunehmen. In diesem Zusammenhang sollten wir von der türkischen Regierung mehr Offenheit gegenüber den bisherigen Angeboten der EU fordern.

7) Ich kritisiere das Vorgehen der türkischen Regierung gegenüber dem türkischen Parlament. Das türkische Parlament wurde zu keinem Zeitpunkt in die Diskussionen und in den Entscheidungsfindungsprozess über eine mögliche Stationierung und einen Einsatz internationaler Soldaten einbezogen. Dies macht auf mich den Eindruck eines Alleingangs des Präsidenten, da kein Beschluss des Parlaments vorliegt.

8) Ich habe Sorge, dass die Stationierung von Patriot-Raketen und deutschen Soldaten trotz des defensiven Charakters der Patriot- Einheiten zu einer weiteren Eskalation des Konflikts in der Region sowie in der empfindlichen Region des Nahen und Mittleren Ostens zur Folge hat. Ich befürchte, dass die Bundesrepublik Deutschland mit einer solchen Stationierung selbst zum Akteur im Syrien-Konflikt wird. Die Erfahrungen im Irak und im arabischen Raum zeigen, dass Entscheidungen für Einsätze in sensiblen Regionen nicht überstürzt getroffen werden dürfen. Die Lage in Syrien ist derzeit alles andere als durchschaubar. Auch vor dem Hintergrund des Umgangs der türkischen Regierung mit der kurdischen Minderheit sowie anderen menschenrechtlichen Defiziten der Türkei, finde ich einen solchen Einsatz leichtfertig.

9) Ich habe den Beitrittswunsch der Türkei zur EU immer unterstützt und sehe ihn heute noch als Ziel. Deshalb besorgt mich auch die jetzige Situation in der Türkei. Und deshalb bin ich auch der Meinung, dass es wirksamere Wege gibt, dem Freund und NATO- Partner beizustehen. Daher plädiere ich dafür, dass die internationale Gemeinschaft statt eine militärische Intervention zu avisieren, sich mehr als bisher um eine nachhaltige politische Lösung bemühen sollte. Ich kann keinerlei ernstgemeinte Bemühungen der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten erkennen, eine Deeskalation der Situation vor Ort zu forcieren. Immer noch werden Waffen oder Dual- Use- Güter in die gesamte Konflikt- beladene Region geliefert. Dies heizt den Krieg an, statt ihn zu stoppen.

Falls es im Rahmen eines UN- Mandats zu einem international- geführten Engagement kommen sollte, unterstütze ich eine Beteiligung Deutschlands im Bereich der Logistik oder durch Bereitstellung von Infrastruktur.

Aus den genannten Gründen kann ich dem Antrag nicht zustimmen.

* Veröffentlicht auf der Website von Hilde Mattheis, 14. Dezember 2012; www.hilde-mattheis.de; die Abgeordnete vertritt den Wahlkreis Ulm (Baden-Württemberg)


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