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Prozeß ohne Angeklagte

Verfahren gegen türkische Putschgeneräle gerät zur Farce

Von Nick Brauns, Ankara *

Für eine uneingeschränkte Aufarbeitung der Militärdiktatur haben am Freitag in Ankara Mitstreiter und Angehörige der von der Militärjunta Ermordeten demonstriert. Kurz nach dem 32. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980 wurde hier vor dem 12. Hohen Strafgericht der beim Auftakt im April in der Presse noch als »historisch« bezeichnete Prozeß gegen den früheren Juntachef Kenan Evren und den ehemaligen Luftwaffenchef Tahsin Sahinkaya fortgesetzt. Doch zusehends entpuppt sich das Procedere als Farce, da die von der islamisch-konservativen AKP gestellte Regierung kein Interesse an einer wirklichen Aufarbeitung der Hintergründe hat.

So gab es offiziell auch am vierten Verhandlungstag am Freitag noch keine Angeklagten, da bislang nicht einmal die Personalienfeststellung der beiden nicht vor Gericht anwesenden Generäle stattgefunden hat. Die heute 94 und 86 Jahre alten Militärs seien nicht verhandlungsfähig, heißt es in einem Gutachten von zehn Medizinprofessoren. In den Augen der Opferanwälte handelt es sich dabei um eine Gefälligkeitsdiagnose von Akademikern, die ihre Karriere der Förderung durch das Putschregime verdanken. »Was bei Pinochet und Mubarak möglich war, muß auch bei den Putschgenerälen in der Türkei möglich sein«, begründen die Opferanwälte die Vorführung der greisen Militärs. Das Gericht lehnte dies erneut ab, beschloß aber für den 20. November eine in den Gerichtssaal übertragene Videoanhörung.

Der Prozeß müsse alle am Staatsstreich beteiligten Personen erfassen, um nicht rein symbolisch zu bleiben, forderte Nebenklagevertreter Medeni Ayhan von der Revolutionär-Demokratischen Gruppe innerhalb der Anwaltskammer unter Verweis auf rund 160 weitere identifizierte Putschisten und Folterer. Auch dürfe die Anklage nicht alleine auf den Vorwurf der »Auflösung der verfassungsmäßigen Ordnung« begrenzt bleiben, sondern müsse auch die von der Junta zu verantwortenden Massaker an Kurden und Aleviten umfassen, so Ayhan. Sein KollegeYasar Kaya entschuldigte sich, er könne sich erst jetzt am Prozeß beteiligen. Bis vor kurzem war der kurdische Jurist selber aufgrund des türkischen Antiterrorgesetzes unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in den Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans (KCK) inhaftiert gewesen. »Im Rahmen der KCK-Verfahren wurden Tausende Menschen inhaftiert, aber das Gericht sieht sich nicht in der Lage, zwei Putschisten in Gewahrsam zu nehmen«, kritisierte Kaya deshalb.

Einer »nationalen Versöhnung«, die Faschisten und Revolutionäre gleichermaßen als Opfer der Junta sehen will, widersetzt sich die »Revolutionäre 78er-Föderation«, eine Vereinigung von Mitgliedern sozialistischer Organisationen, die zum Zeitpunkt des Putsches zwischen 20 und 25 Jahre alt waren. »Wir sind keine Opfer, sondern Kämpfer, die verloren hatten«, erläutert eine 78erin das Ziel einer Ausstellung, die die Gruppe im Kulturzentrum von Ankara zeigt. Diese spannt den Bogen von den Massakern an den Aleviten in Dersim 1937/38 bis heute. Hunderte Bilder geben den in der Geschichte der Türkischen Republik ermordeten Revolutionären ein Gesicht. Gezeigt wird auch das von Kugeln durchlöcherte Hemd des damals zwölfjährigen Ugur Kaymaz. Der Kurde wurde 2004 vor seiner Haustür in Kiziltepe zusammen mit seinem Vater von der Polizei als »Terrorist« erschossen. Die letzten Bilder zeigen Aufnahmen von 34 kurdischen Bauern, die Ende letzten Jahres bei einem Luftangriff getötet wurden.

Direkt gegenüber dem Kulturzentrum schirmen Wasserwerfer die US-Botschaft ab. Hier residierte bis 1980 der Leiter der CIA-Vertretung in Ankara, Paul Henze. »Unsere Jungs haben es geschafft«, meldete der General dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, als in der Türkei die Panzer rollten. In Folge des Staatsstreichs wurden rund 650000 zumeist linke Oppositionelle inhaftiert, 230000 von Militärgerichten verurteilt und Hunderte hingerichtet, zu Tode gefoltert oder bei Militäroperationen ermordet.

* Aus: junge Welt, Montag, 17. September 2012


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