Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Friedensruf aus der Zelle

PKK-Vorsitzender Öcalan will Rückzug der kurdischen Guerilla und »Neubeginn«. Millionen Menschen auf Newroz-Fest im südosttürkischen Diyarbakir

Von Nick Brauns *

Die Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sollen sich aus der Türkei zurückziehen. Dazu rief der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan am Donnerstag in einer anläßlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz vor Millionen Menschen in Diyarbakir verlesenen Botschaft auf. »Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Waffen schweigen und die Ideen sprechen. Es ist an der Zeit für unsere bewaffneten Kräfte, sich zurückzuziehen. Das ist nicht das Ende, sondern ein Neubeginn«, heißt es in der in türkischer und kurdischer Sprache von Abgeordneten der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) verlesenen Botschaft. Nach dem bewaffneten Kampf sei nun die Tür für einen demokratischen Prozeß geöffnet. Der Kampf der PKK habe sich nie gegen ein anderes Volk gerichtet, sondern gegen Unrecht, Reaktion und Ausbeutung, erklärte Öcalan und rief zum Zusammenleben von Türken und Kurden auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit auf. Bislang hätten die westlichen Großmächte mit ihren Interventionen das Schicksal »Mesopotamiens« bestimmt. Doch »die Völker des Mittleren Ostens und Asiens sind jetzt erwacht und sagen ›nein‹ zu den Kriegen, die gegen sie geführt werden«.

Öcalan machte keine Angaben darüber, ob die türkische Regierung bereits konkrete Zusagen für den Fall eines Rückzugs der Guerilla gegeben habe und wie der weitere Friedensprozeß verlaufen soll. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete Öcalans Aufruf am Donnerstag als »positive Entwicklung«. Seit Ende 2012 laufen Gespräche zwischen dem seit 14 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftierten PKK-Vorsitzenden und Vertretern der türkischen Regierung. Vorangegangen war im Sommer letzten Jahres die seit den 1990er Jahren stärkste Guerillaoffensive sowie ein von tausenden politischen Gefangenen unterstützter monatelanger Hungerstreik mit der Forderung nach Friedensverhandlungen mit Öcalan.

Über zwei Millionen Menschen hatten sich am Donnerstag nach Angaben der Nachrichtenagentur ­Dicle zum zentralen Newroz-Fest in der kurdischen Metropole Diyarbakir im Südosten der Türkei versammelt – mehr als jemals zuvor. Viele waren aus anderen Provinzen, in denen in den letzten Tagen bereits Hunderttausende an Newroz-Feiern teilgenommen hatten, angereist. »Wir sind bereit zum Kampf und zu Verhandlungen« hieß es auf großen Bannern über dem Festplatz und »Für eine demokratische Lösung – Freiheit für Öcalan – einen offiziellen Status für die Kurden«. Bilder des PKK-Vorsitzenden, die rot-gelb-grünen Fahnen der PKK sowie die Porträts der drei im Januar in Paris von einem mutmaßlichen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordeten kurdischen Revolutionärinnen waren allgegenwärtig.

Die Menschenmenge begrüßte Öcalans Aufruf mit minutenlangem Jubel. Der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas erklärte die Unterstützung seiner Partei für die Friedens­initiative. Die PKK-Führung in den nordirakischen Kandilbergen hatte zuvor schon in einem Brief an Öcalan ihre Zustimmung gegeben. Nach seiner Gefangennahme 1999 hatte Öcalan bereits einmal die Guerilla zum Verlassen der Türkei aufgerufen. Damals waren rund 500 abziehende Kämpfer von der türkischen Armee getötet worden. Diesmal werde es im Falle eines Rückzugs zu keinen Angriffen kommen, hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor einigen Wochen zugesagt.

* Aus: junge Welt, Freitag, 22. März 2013


Friedenssignal der PKK?

Interview mit Norman Paech **


Norman Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht in Hamburg.

Abdullah Öcalan, vom türkischen Staat zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilter Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), hat sich mit einem Friedensaufruf an diesen gewandt. Wie repräsentativ ist Öcalan für die Kurden in der Türkei?

Öcalan ist eine historische Figur seit 1984, seit der Kampf der Kurden begann, damals um die Unabhängigkeit. Insofern ist er auch weit über den begrenzten Rahmen der Region bekannt und auch respektiert, das ist gar keine Frage.

Es hat zumindest in den vergangenen zwölf Monaten eine Reihe informeller Gespräche zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegeben. Was ist Ihnen darüber bekannt geworden?

Das waren Gespräche in Oslo und in den USA, auch auf der Insel Imrali, wo das Gefängnis Öcalans liegt. Diese Runden wurden ohne jedes Ergebnis beendet und hatten seinerzeit keine sehr optimistische Perspektive. Das hat sich offensichtlich etwas geändert.

Kürzlich beging Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zehnjähriges Jubiläum als Ministerpräsident. Gab es in seiner Amtszeit eine kurdisch-türkische Annäherung?

Nach der Regierungsübernahme durchaus. Bei der Umgestaltung des Staates, insbesondere seinen Auseinandersetzungen mit dem Militär, brauchte er weitere Kreise der Unterstützung. Da näherte er sich den Kurden an und machte ihnen auch Angebote, die allerdings in dem Maße wieder zurückgenommen wurden, wie es ihm gelang, seine Macht zu festigen. Es ist immer ein Auf und Ab gewesen. Erdogan hat nie eine konstante Perspektive für eine politische Lösung des Kurdenproblems eröffnet. Auch jetzt ist es außerordentlich zweifelhaft, ob er zum Beispiel die Militäroperationen gegen die PKK, die nach wie vor auch über die Grenze nach Irak gehen, jetzt mit einem Waffenstillstand einstellt.

Warum hat Öcalan seine Botschaft gerade jetzt veröffentlicht?

Newroz, das Frühlingsfest, ist immer ein großes Fest nicht nur der Kurden in der Türkei, sondern auch der Afghanen oder der Perser. Er hat es sich offensichtlich ausgewählt, um einen, vielleicht den entscheidenden Durchbruch in den politischen Verhandlungen zu erzielen. Im Augenblick ist nicht klar, was von der türkischen Regierung als Gegenleistung zu diesem Waffenstillstand angeboten worden ist. Waffenstillstände haben wir schon öfter gehabt. Sie haben sich nie durchsetzen lassen können. Mal hat das Militär, mal haben sich manche kurdische Gruppen nicht daran gehalten haben.

Kann man sagen, dass allein die Tatsache ein Fortschritt ist, dass die Botschaft in Diyarbakir, vor Tausenden Menschen in kurdischer Sprache vorgetragen werden konnte?

Das würde ich schon sagen. Auf jeden Fall zeigt es die große Sehnsucht der Kurden nach einem nicht nur friedlichen Leben, sondern auch auf Demokratisierung, Anerkennung ihrer kurdischen Identität, ihres Selbstbestimmungsrechts. Sie verbinden damit die große Hoffnung, mit dem türkischen Volk auf gleicher Augenhöhe behandelt zu werden. Dieses ist zweifelsohne eine Botschaft in Richtung Erdogan. Warten wir einmal ab, ob er darauf nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten antworten wird.

Fragen: Roland Etzel

** Aus: neues deutschland, Freitag, 22. März 2013


Öcalans Offensive

Von Roland Etzel ***

Es war nicht Öcalans erster Appell für einen friedlichen Interessenausgleich zwischen kurdischer und türkischer Bevölkerung in der Türkei, und es war auch nicht sein erstes Angebot, dass die PKK die Waffen niederlegt. Wie immer es ausgeht - es wurde medial beachtet wie nie zuvor. Seit Erdogan die Türkei regiert, gibt es immer wieder informelle Dialogkanäle zwischen beiden Seiten. Allmählich verblasst jene großtürkische Attitüde Ankaras, in deren Verständnis Öcalan nur als Monster vorkam und in der es die Identität eines Staatsbürgers der Türkei als Kurde nicht geben durfte.

Doch vollzieht sich die Annäherung des türkischen Establishments an die Realität - vor allem für die Menschen in Türkisch-Kurdistan, aber auch der kurdischen Diaspora in aller Welt - in unnötig quälender Langsamkeit. Ein vernünftiger Grund dafür ist nicht erkennbar. Die PKK von heute erhebt keinen Anspruch mehr auf Eigenstaatlichkeit. Die Gefahr einer Aufspaltung des türkischen Staates besteht also eher in der weiteren Verfolgung des Kriegskurses gegenüber der PKK als in einem Dialog der Regierung mit ihr. Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, dass der auch wirtschaftlich aufstrebende türkische Staat noch erheblich besser dastünde ohne die faktische Stigmatisierung eines Fünftels der Bevölkerung, ohne Guerilla-Krieg und ohne die permanente Angst vor Terror und Gegenterror.

Berlin könnte einen Beitrag zur Annäherung leisten, indem es die PKK von der Terrorliste streicht.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 22. März 2013 (Kommentar)


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage