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"Türkische Medien haben keine positive Rolle gespielt"

Berichterstattung über Morde des Neonazitrios "NSU" mit nationalistischen Tönen. Ein Gespräch mit Murat Cakir



Seit dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle im November 2011 hat sich deren Entstehungsmilieu als Geheimdienstsumpf entpuppt – etwa jeder Vierte im »Thüringer Heimatschutz« soll V-Person gewesen sein; wichtige Akten wurden noch 2012 geschreddert. In deutschen Medien ist immer noch von »Pannen« die Rede. Wie beurteilen Sie die Sicht der türkischen Presse?

Am Anfang waren auch die türkischen Medien verwirrt. Während und nach der Mordserie an überwiegend aus der Türkei stammenden Männern hatten auch sie über ganz andere Zusammenhänge spekuliert. Zum Beispiel über eine Beteiligung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Nachdem die Existenz des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) bekannt wurde und auf einmal klar war, daß hier Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft ermordet wurden, war natürlich die türkische Öffentlichkeit sehr betroffen. Tenor der Zeitungen war, daß es auch in der BRD einen »tiefen Staat« gebe und Deutschland gegenüber der Türkei in der Verantwortung stehe. Das war auch nicht frei von nationalistischen Tönen. Im großen und ganzen haben die türkischen Medien hier keine positive Rolle gespielt.

Weil die PKK-Theorie dazu beigetragen hat, die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken?

Erstens das, zweitens auch durch die Doppelmoral, einerseits den Deutschen und ihren Behörden jahrelang unterschwellig Rassismus vorzuwerfen und gleichzeitig den türkischen Nationalismus zu pflegen.

Ist der Vorwurf des behördlichen Rassismus ungerechtfertigt?

Behördlichen Rassismus gibt es selbstverständlich. Aber wenn auf der Titelseite der Tageszeitung Hürriyet als festes Layout-Element jeden Morgen steht »Die Türkei den Türken«, dann wirkt es unglaubwürdig, sich über rassistische Aussagen wie »Deutschland den Deutschen« zu beschweren. Wer Rassismus in Deutschland verurteilt und damit ernstgenommen werden will, muß auch selbstkritischer werden, was den eigenen Nationalismus betrifft. Zudem greifen türkische Massenmedien eher den Rassismus des kleinen deutschen Beamten auf, der nicht richtig hinschaut – die Bundesregierung und ihren Behördenspitzen sollen dabei nicht zu sehr verunglimpft werden.

Der »tiefe Staat« ist in der Türkei ein Begriff, der für die Verfilzung von Staat und organisiertem Verbrechen steht – Ministerpräsident Erdogan hat im Fall NSU den Deutschen geraten, auch in der BRD danach zu suchen. Andererseits gibt es in der Türkei ein Antiterrorgesetz, nach dem auch Journalisten inhaftiert wurden, die zu kritisch über staatliche Stellen berichteten, weil dies als Unterstützung der PKK ausgelegt wurde. Wo stoßen türkische Medien an ihre Grenzen?

Abgesehen von den Inhaftierungen findet auch eine Selbstzensur statt. Wenn es in der Türkei um die Verwicklung staatlicher Stellen in rund 17000 Morde in den letzten 20 Jahren geht, hält man sich an die Regierung, weil die türkischen Medien in den Händen von Konzernen sind, die auch andere Geschäftsbereiche haben und zum Teil von staatlichen Aufträgen abhängig sind. So hat es die konservative AKP-Regierung geschafft, die Medien fast gleichzuschalten. Die Dogan-Holding, die führende Mediengruppe der Türkei, hat über eine Milliarde Euro Steuern nachzuzahlen. Der wirtschaftliche Druck führt dazu, daß kritische Journalistinnen und Journalisten gemobbt oder auf die Straße gesetzt werden. Die Kolumnistin der Tageszeitung Milliyet, Nuray Mert, wurde nur zwei Tage, nachdem der Ministerpräsident sich über ihre kritische Berichterstattung beschwert hatte, einfach entlassen.

Aber es wurden doch gerade erst einige Militärs wegen eines Putschversuchs verurteilt.

Putschversuche sollen auch bestraft werden – allerdings ist in der Türkei zur Zeit kein rechtsstaatliches Verfahren möglich. Das kritisieren auch regierungsnahe Medien, weil derartige Rachejustiz einen Schatten auf den Kampf gegen die Putschisten wirft. Andererseits arbeitet die AKP-Regierung nach wie vor eng mit den Militärs zusammen. Oft werden gerade die Generäle geschützt, die schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Mit Necdet Özel wurde ein Kriegsverbrecher zum Generalstabschef gemacht, der im Kampf gegen die kurdische Guerilla verbotene Chemiewaffen eingesetzt hatte.

Interview: Claudia Wangerin

* Murat Cakir ist Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und Kolumnist der türkischsprachigen linken Tageszeitungen Yeni Özgür Politika und Özgür Gündem

Aus: junge Welt, Donnerstag, 04. Oktober 2012


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