Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Es geht um internationalen Widerstand"

Gewerkschafter im kurdischen Teil der Türkei erleben eine neue Repressionswelle. Ein Gespräch mit Kasim Birtek *


Kasim Birtek (geb. 1954) ist Vorsitzender der Lehrergewerkschaft Egitim Sen in Diyarbakir.


Wie ist die aktuelle Situation der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei?

Wie stark und einflußreich Gewerkschaften sind, hängt nicht nur von ihnen ab, sondern auch von der gesamten politischen Entwicklung in einer Gesellschaft. Seit jeher ist die Arbeiterbewegung in der Türkei stark von sozialistischen Gedanken beeinflußt. Die allgemeine Tendenz zur Abwendung von der Politik und geringe Hoffnung auf Veränderung des Herrschaftssystems hat die Gewerkschaften bei uns wie überall auf der Welt geschwächt. Sie sind zu großen Teilen in den Kapitalismus integriert. Die Föderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (KESK) stellt allerdings eine Ausnahme dar. Sie wehrt sich dagegen, ihre Orientierung am Klassenkampf aufzugeben. Generell sind die Gewerkschaften in den kurdischen Gebieten sehr politisiert und auch stärker als in anderen Regionen.

Momentan nimmt die Repression gegen kurdische Gewerkschafter zu. Im Januar und Februar wurden Dutzende Mitglieder festgenommen. Geschieht das, weil sie Kurden oder weil sie Gewerkschafter sind?

In den letzten drei Jahren wurden Hunderte kurdische Gewerkschafter festgenommen. Die meisten von ihnen sind zu mehr als sechsjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Darüber hinaus werden Hunderte unserer Mitglieder und Funktionäre aufgrund konstruierter Vorwürfe verwaltungsrechtlich und strafrechtlich verfolgt. Einige von ihnen werden so bewußt ins Exil vertrieben. Viele Aktivisten stehen kurz vor einer Kündigung in ihrem Beruf, da die kurdischen Gewerkschafter oft die aktivsten in Arbeitskämpfen sind. Sie vertreten zugleich die Position, daß die Kurden ein eigenes Volk sind und ihnen somit auch die demokratischen Grundrechte zugestanden werden müssen.

Gibt es offizielle Reaktionen aus dem Ausland auf diese Repression? Was sagt die EU zu den willkürlichen Verhaftungen?

Es scheint ganz so, daß es keine Reaktionen gibt. Die Regierungen kümmern sich offenbar nur um Profitinteressen. Die EU-Gründungsstaaten unterstützen wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen offen die Politik der türkischen Regierung.

Als am 1. Mai 2011 auf dem Taksim-Platz in Istanbul eine Gewerkschaftserklärung auf kurdisch verlesen wurde, gab es Pfiffe und Buhrufe. Wie ist das Verhältnis der kurdischen Bewegung zur Arbeiterbewegung und umgekehrt?

An diesem 1. Mai war ich der Vorsitzender des KESK-Organisationskomitees, das die Demonstration und Kundgebung dort in Istanbul vorbereitet hat. Das herrschende System versucht, den 1. Mai, wie alle anderen revolutionären Werte und Überzeugungen, für sich zu vereinnahmen. Daher haben die systemtreuen Gewerkschaften begonnen, sich an diesen Feierlichkeiten zu beteiligen. Diejenigen, die Probleme mit der in kurdisch gehaltenen Rede hatten, waren Mitglieder eben dieser Organisationen. Ich will jedoch sehr deutlich hervorheben, daß der 1. Mai dennoch als Tag des Widerstandes begangen wurde.

Welche Perspektive hat die Gewerkschaftsbewegung in der Türkei? Wie soll es gelingen, die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Einfluß der islamisch-neoliberalen Regierungspartei AKP zu entziehen?

Die Politik muß von den neoliberal so genannten Sachzwängen befreit werden. Arbeiter und sozialistische Kräfte haben eine große Verantwortung, damit das erreicht wird. Es bedarf außerordentlicher Anstrengungen. Dem internationalen Kapitalismus muß internationaler Widerstand entgegengesetzt werden. Es gibt keine Alternative.

Interview: Kerem Schamberger, Diyarbakir

* Aus: junge Welt, 22. März 2012


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage