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Umorientierung in Ankara

Nach Israels Sturmangriff auf Gaza-Hilfskonvoi: Türkischer Ministerpräsident in Abwendung vom Westen gestärkt. Erdogan intensiviert Verbindungen zu Syrien, Iran und Rußland

Von Rainer Rupp *

Das US-amerikanisch-türkische Verhältnis ist im Umbruch. Am Mittwoch lamentierte die New York Times: »Jahrzehntelang war die Türkei einer der fügsamsten Verbündeten der Vereinigten Staaten, ein strategischer Grenzstaat am Rande des Nahen Ostens, der zuverlässig der amerikanischen Politik folgte. Aber seitdem das Land in jüngster Zeit einen neuen Politikansatz in der Region verfolgt, um seine eigenen Interessen zu fördern, provoziert es Washington mit seinen Erklärungen und Methoden: « Dabei ist es nicht nur das inzwischen gespannte Verhältnis zum »eisernen Wächter« des US-Imperiums am Bosporus, das die Zeitung beklagt, sondern auch das sich abzeichnende Dilemma Washingtons, zwischen seinen zwei wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten, zwischen Israel und der Türkei, wählen zu müssen. Denn seit dem tödlichen Sturmangriff der israelischen Marine auf die »Mavi Marmara«, das türkische Leitschiff der Hilfsflotte für Gaza, am 31. Mai in internationalen Gewässern hat Ankara Tel Aviv die bisherige enge und umfangreiche politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit aufgekündigt.

»Nichts wie es war«

In den türkisch-israelischen Beziehungen werde »nichts wieder so sein, wie es war«, hatte der türkische Ministerpräsident nach der Ermordung von neun türkischen Passagieren entrüstet erklärt. Und er scheint es ernst zu meinen, zumal Israel die von ihm geforderte internationale Untersuchung des Piratenakts ebenso wie eine Entschuldigung ablehnt. Zugleich machen sich israelische Eiferer – mit Duldung oder Ermunterung durch ihre Regierungsstellen – einen Spaß daraus, die Türken weiterhin bis aufs Blut zu reizen. So hat der auf Medienmanipulation spezialisierte israelische Regierungssprecher Mark Regev z.B. ein angeblich privat produziertes Video an die Presse verteilt, in dem die Free-Gaza-Aktivisten lächerlich gemacht werden. Auch die Tausenden Davidstern-Fahnen schwingenden Zionisten, die unmittelbar nach dem Massaker auf der »Mavi Marmara »und deren Kaperung vor der türkischen Botschaft in Tel Aviv lauthals und mit beleidigenden Parolen ihren »Sieg« feierten und dabei auch noch Plakate mit Fotos von Erdogan als neuem Hitler hochhielten, schürten den türkischen Zorn.

Die wachsende antizionistische Stimmung in der türkischen Bevölkerung gibt Recep Tayyip Erdogans regierender Partei, der islamischen AKP, zusätzlichen Rückhalt, um sich verstärkt gegen die westlich, insbesondere US-orientierte militärische Führung und die säkularen Eliten der Türkei zu wenden und seinen Kurs der guten und engen Nachbarschaft mit Syrien, Iran und sogar einer angestrebten strategischen Partnerschaft mit Rußland durchzusetzen. Genau diese Entwicklung wird jedoch von Washington höchst mißtrauisch und mit wachsender Sorge beobachtet. So kamen denn auch aus den Kreisen der prowestlichen zivilen und militärischen Eliten der Türkei am Dienstag bereits die ersten öffentlichen Warnungen an die Erdogan-Regierung, in ihrem Kurs gegen Israel, und somit gegen dessen Schutzmacht USA, nicht zu weit zu gehen.

Heldenstatus

Erdogan, der in der islamischen, insbesondere in der arabischen Welt inzwischen Heldenstatus erreicht und in diesen Ländern enormes politisches Prestige gewonnen hat, scheint jedoch nicht daran zu denken, in der Auseinandersetzung mit Israel, dem er Staatsterrorismus vorwirft, klein beizugeben. Medienberichten zufolge hat er ins Gespräch gebracht, nicht nur bei der nächsten Freiheitsflotte für Gaza selbst als Passagier mitzufahren, sondern den Konvoi auch von türkischen Kriegsschiffen begleiten zu lassen. Der frührere stellvertretende israelische Generalstabschef Uzi Dayan hatte daraufhin im populären Armeeradio nichts Eiligeres zu tun, als in gewohnter Arroganz zu erklären: »Wir sollten ihnen (den Türken) klarmachen, daß wir das Schiff, auf dem er (Erdogan) ist, diesmal nicht übernehmen, sondern versenken werden.«

Offensichtlich ist die israelische Führung bereit, den Konflikt mit der Türkei auf die Spitze zu treiben. Denn nach einer solchen Drohung kann sich Erdogan nicht erlauben, nicht bei der nächsten Hilfsflotte mitzufahren, ohne den Ruf zu riskieren, ein Angsthase zu sein. Dennoch spielt das israelische Säbelrasseln weiter in die Hände des türkischen Premiers, denn je mehr die türkische Bevölkerung Israel als die eigentliche Gefahr für den Frieden erkennt, desto mehr außenpolitischen Handlungsspielraum erhält er und umso nachhaltiger kann seine AKP-Regierung die militärischen und säkularen Eliten des Landes marginalisieren.

Bei aller Wut auf die Politik Israels weiß die türkische Bevölkerung sehr wohl zwischen Antizionismus und Antisemitismus zu unterscheiden. »Die jüdische Gemeinschaft in der Türkei ist überhaupt nicht alarmiert«, zitierte die New York Times am Mittwoch den prominenten jüdischen Geschäftsmann Ishak Alaton aus Istanbul.

* Aus: junge Welt, 10. Juni 2010


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