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"Das ist ein Machtkampf in der herrschenden Klasse"

In der Türkei machen die Neoliberalen dem Militär die Führungsrolle streitig. Mit guten Aussichten. Ein Gespräch mit Haluk Gerger


Haluk Gerger ist ein marxistischer Politikwissenschaftler und Publizist. Bis zu seiner Absetzung unter der türkischen Militärdiktatur 1982 war er Professor und Leiter des Fachbereichs für Internationale Beziehungen der Universität Ankara.



Die jüngsten Personalentscheidungen an der Spitze der türkischen Armee, insbesondere die Ernennung von Erdal Ceylanoglu zum Chef des Heeres, werten viele als Erfolg von AKP-Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Hat die Regierung damit ihre Position gestärkt?

Das ist Teil des Machtkampfes, der zwischen Teilen der herrschenden Klasse stattfindet. Auf der einen Seite stehen die Nationalisten unter Führung der Streitkräfte. Auf der anderen die Neoliberalen in all ihren Varianten. Sie bilden eine neue Gruppe innerhalb der Großbourgeoisie, die als »Grünes Kapital« oder als »Anatolische Tiger« bezeichnet wird.

Mit Hilfe der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) will sich die neoliberale Fraktion von der alten kemalistischen Ideologie befreien, die auf den Staatsgründer Atatürk zurückgeht. Sie setzt auf die »Vorherrschaft der Werte«, auf den Islam und den Konservatismus Anatoliens - eine Art Synthese, die ich »Turkismus-Osmanismus« nennen möchte. Diese Fraktion zielt darauf, daß die Bourgeoisie die Bürokratie beherrscht, anstatt die Macht mit ihr zu teilen. Sie strebt also ein »normales« kapitalistisches System an.

Und das gegnerische Lager?

Die militärische Bürokratie ihrerseits hat mehrere Probleme: Mit den Kurden, mit dem kulturellen Einfluß der Globalisierung auf die Türkei, sowie damit, daß bisher vom Staat kontrollierte Bereiche zunehmend vom internationalen Kapital verschlungen werden. Das Militär hat den Eindruck, daß es vom Imperialismus schlichtweg »verkauft« wurde. Und dabei hatte es ihm in der alten Weltordnung des Kalten Krieges so treu gedient.

Es geht also im internen Machtkampf der Türkei auch um die Rolle der USA?

Aber sicher. Es sieht sogar so aus, daß eine Art von Übereinkommen in der Kurdenfrage gefunden wurde. Bislang bestand die Strategie des Staates in der »totalen Liquidierung des Problems mit Hilfe von Gewalt«. Das war der nationalistisch-kemalistische Ansatz, aber er hat nicht funktioniert. Bereits in der Regierungskoalition des islamisch inspirierten Ministerpräsidenten und späteren Staatschefs Turgut Özal gab es 1983 bis 1993 Stimmen, die das kritisierten.

Jetzt versucht die auf Freihandel setzende AKP-Koalition - dank der Unterstützung von US-Präsident Barack Obama -, mit ihrer »Demokratischen Initiative« eine neue Phase einzuleiten. Ich nenne sie mal: »neoliberale Liquidierung«. Diese Strategie sieht vor, den militärischen Flügel der kurdischen PKK-Rebellen zu vernichten und dann Reformen vorzutäuschen, deren eigentliches Ziel die Zerschlagung auch des politischen Flügels der Kurdischen Arbeiterpartei ist. Damit wäre das gesamte Problem gelöst.

Welche Rolle spielt Europa in diesem Machtkampf?

Europa will nicht, daß die türkische Armee allein von den USA gesteuert wird - immerhin ist sie die zweitgrößte der NATO. Deshalb hält Brüssel die Perspektive eines EU-Beitritts offen, um die Türkei in der europäischen Umlaufbahn zu halten.

Parallel dazu arbeitet die EU-Führung bewußt daran, jede Hoffnung auf Demokratisierung und relativen Massenwohlstand zu untergraben. Die wirtschaftliche Strangulierung des Landes führt zu einer Stärkung des militärischen Establishments sowie zu enormen Militärausgaben. Deren Kehrseite ist ein exponentieller Anstieg der Armut und der Unzufriedenheit unter den Arbeitern. Das wiederum führt dazu, daß sich die Regierung vor der Demokratie und vor ihren Mitbürgern fürchtet - also setzt sie auf noch mehr Repression.

Anders ausgedrückt: Die EU trägt mit ihrer Politik dazu bei, daß mehr Militarismus, mehr Sozialabbau und weniger Demokratie entstehen

Am 12. September wird es ein Referendum geben, um die von den Militärs ausgearbeitete Verfassung zu ändern. Was halten Sie davon?

Auch dieses Referendum ist Bestandteil des aktuellen Machtkampfes. AKP und Neoliberale wollen die Schulen, die Universitäten und das Justizwesen erobern. Die Gegenseite hingegen will den Status quo aufrechterhalten, das wird noch ein Grabenkampf. Ich glaube aber, daß Erdogan und seine Regierung im Augenblick am längeren Hebel sitzen.

Interview: Orsola Casagrande

Übersetzung: Andreas Schuchardt

Dieses Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung il manifesto

* Aus: junge Welt, 23. August 2010



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