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Kein Rat für Frau Merkel?

Interview mit Ali Atalan


Der Münsteraner Politologe Ali Atalan stammt aus einer jesidisch-kurdischen Familie.


nd: Was missfällt Ihnen an der Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und der Regierungspartei AKP?

Atalan: Nicht wenige hatten gehofft, dass die AKP mit der Entmachtung des Militärs die Türkei demokratisieren und die angehäuften Probleme lösen würde. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt. Die AKP versucht, die offensichtlich gewordene Islamisierung der Gesellschaft schleichend zu forcieren. Ihre Politik ist in Bezug auf Kurden, Aleviten und andere Minderheiten, Gewerkschaften, kritische Juristen, fortschrittliche Journalisten alles andere als demokratisch. Rund 10 000 Menschen sitzen aus politischen Gründen im Gefängnis.

Wie beurteilen Sie die türkische Haltung zum Syrien-Konflikt?

Nach dem Vorbild des osmanischen Imperiums soll - ausgehend von der Türkei - der gesamte Nahe und Mittlere Osten in ein einheitliches System islamisch-sunnitischer Prägung umgewandelt werden. Das jetzige alevitisch dominierte System in Syrien steht dem entgegen. Es gibt derzeit faktisch ein Bündnis zwischen den USA, der Türkei, den Salafisten und der Muslimbruderschaft im syrischen Territorium. Die undemokratischen Verhältnisse in Syrien, die leider unstrittig sind, werden als Vorwand genutzt, um den brutalen Krieg zu legitimieren. Die angeblichen Demokratiebestrebungen gelten allerdings nicht für die syrischen Kurden: Die Türkei droht militärisch einzugreifen, sofern sie ihre Freiheit erlangen würden.

Wie beurteilen Sie die Stationierung der Patriot-Raketensysteme der Bundeswehr in Kahramanmaraş?

Die These, dass die Türkei von Syrien angegriffen werden könnte, ist völlig abwegig. Fakt ist aber, dass die Türkei militärisch wie logistisch hinter der »Freien Syrischen Armee« (FSA) steht und damit unmittelbar an diesem Krieg beteiligt ist. Insofern ist die Stationierung der deutschen Patriot-Raketensysteme eine indirekte Unterstützung des Krieges gegen Syrien.

Wenn Sie Frau Merkel hätten beraten dürfen, was hätten Sie ihr für die Gespräche mit Herrn Erdoğan empfohlen?

Ich würde Frau Merkels Berater sein wollen. Aber ernsthaft: Die pauschale und kulturalistische Ablehnung der Merkel-Regierung hinsichtlich des EU-Beitritts der Türkei halte ich für anachronistisch. Genau so falsch finde ich die völlig unkritische Unterstützung der Türkei immer dann, wenn sich das mit den eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen deckt.

Die Türkei sollte in die EU aufgenommen werden, wenn sie die entsprechende Reife erlangt hat, als Demokratie, soziale Gerechtigkeit, gleiche Rechte für alle Minderheiten und eine friedliche Außenpolitik. Deutschland kann und muss die Türkei in diesem Sinne beeinflussen. Dazu sollten Gespräche im Rahmen solcher Zusammenkünfte genutzt werden.

Was wünschen Sie sich von der Bundesregierung in Bezug auf Türken, Kurden, Aleviten und Jesiden in Deutschland?

Die Bundesregierung muss die integrationspolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte durch eine grundlegende Umstrukturierung in rechtlicher wie in sozialer Hinsicht aufholen. Das bedeutet, nicht nur eine formale Gleichberechtigung, sondern eine tatsächliche und messbare Gleichstellung und Möglichkeiten zur gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft zu garantieren.

Fragen: Birgit Gärtner

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 27. Februar 2013


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