Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Im Aufmarschgebiet

Truppenbesuch in der Türkei: Bundeskanzlerin Merkel warnt Syrien vor Ausweitung des Krieges auf NATO-Gebiet

Von Karin Leukefeld *

Beim Besuch bei Bundeswehrsoldaten in der osttürkischen Stadt Kahramanmaras hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Syrien gewarnt, den Krieg in benachbarte Länder zu tragen. Man werde das nicht zulassen, soweit es sich um NATO-Gebiet handle, fügte die deutsche Regierungschefin am Sonntag hinzu. Die Stationierung von zwei deutschen »Patriot«-Raketenstaffeln sei ein Zeichen der Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei und habe für die Bundesregierung »einen sehr hohen politischen Stellenwert«.

Seit Anfang Januar sind bei Kahramanmaras in den kurdischen Gebieten der Osttürkei 320 deutsche Soldaten stationiert. Auch die USA und Holland haben jeweils zwei »Patriot«-Raketenstaffeln im Grenzgebiet zu Syrien stationiert. Die Soldaten leisteten »einen Beitrag dazu, daß sich Türkei und Deutschland besser verstehen«, behauptete Merkel. Der Schutz der Türkei sei auch Dank dafür, was die Türkei im Kalten Krieg an Grenzsicherung für die Bundesrepublik geleistet habe. Nun sei wichtig, daß der Konflikt nicht aus Syrien hinaus getragen werde. Was in Syrien passiere sehe sie »mit einem Stück Fassungslosigkeit«, so die Kanzlerin. Sie wisse, »daß Konflikte wie der in Syrien letztlich einer politischen Lösung bedürfen«.

Bei Waffenlieferungen an die syrische Opposition sei Deutschland »sehr zurückhaltend«, erklärte die Bundeskanzlerin weiter. Man habe im Fall Libyen gesehen, daß solche Waffen in falsche Hände gelangt seien und nun in Mali eingesetzt würden. In Mali kämpfen französische Truppen gegen islamistische Gruppen im Norden des Landes. Die Kämpfer haben sich mit Waffen eingedeckt, die westliche Staaten vor zwei Jahren an libysche Aufständische in Benghasi geliefert hatten, um den damaligen Präsidenten Muammar Al-Ghaddafi zu stürzen. Das gelang ihnen wenige Monate später mit Unterstützung der NATO, die vom UN-Sicherheitsrat durch die Schaffung einer Flugverbotszone ermöglicht worden war. Die Flugverbotszone galt ausschließlich für die libysche Luftwaffe und diente gleichzeitig der ungehinderten Anlieferung von Waffen an die Aufständischen per Schiff.

Ein ähnliches Szenario hatten Teile der syrischen Exilopposition auch für die Gegner von Präsident Baschar Al-Assad gefordert. Ihr Ziel war, im Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei, eine Flugverbotszone durchzusetzen. Eine dafür erforderliche Resolution des UN-Sicherheitsrates scheiterte mehrmals an der Haltung von Rußland und China, die ihr Veto einlegten. Inzwischen fordern die Aufständischen – und mit ihnen eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen und oppositionellen Aktivisten – die Einrichtung von »humanitären Korridoren« zu den Gebieten, die sie als »befreit« bezeichnen.

Merkel nutzte ihren Besuch bei der Truppe in Kahramanmaras, um die Haltung der Regierungen in Moskau und Peking zu kritisieren. Die beiden Vetomächte lehnen nicht nur ein militärisches Eingreifen in Syrien ab, sie verweigern auch die Verhängung von UN-Sanktionen gegen Syrien und lehnen einen erzwungenen »Regime change« in Damaskus ab. Beide Staaten setzten sich konsequent für eine politische Lösung ein und haben mehrfach die Vermittlung zwischen der Opposition und der syrischen Regierung angeboten. Sie unterstützten auch ein auf Vermittlung von Kofi Annan zwischen den fünf Vetomächten im UN-Sicherheitsrat – Rußland, China, USA, Großbritannien und Frankreich – in Genf im Juni 2012 vereinbartes Abkommen über die Bildung einer Übergangsregierung mit Oppositionellen und Regierungsvertretern in Syrien. US-Außenministerin Hillary Clinton hatte unmittelbar nach der Vereinbarung selbige für obsolet erklärt. Voraussetzung für jede Veränderung in Syrien sei der Rücktritt Assads, dekretierte sie mit einem Mal. Diese Forderung erneuerte nun wieder Angela Merkel bei ihrem Türkei-Besuch. Rußland und China müßten einsehen, »daß Herr Assad keine Zukunft hat, daß seine Zeit abgelaufen ist und es eine demokratische Regierung geben muß«, sagte sie.

Nur einen Tag vor Merkel war bereits Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) bei den deutschen Soldaten. Auch er hatte Syrien vor einer Ausweitung des Bürgerkrieges auf die Nachbarstaaten gewarnt. »Die NATO steht hier, damit niemand in Syrien auf dumme Gedanken kommt«, behauptete de Maizière am Samstag nach einer Besichtigung der Stellungen bei Kah­ramanmaras. Sein türkischer Amtskollege Ismet Yilmaz räumte ein, daß von türkischer Seite die Gefahr eines Angriffs aus Syrien derzeit als nicht sehr hoch eingeschätzt werde. Das sei ein »Ergebnis von Abschreckung«.

Syrien hatte wiederholt deutlich gemacht, keine Absicht zu haben, irgend ein Nachbarland anzugreifen. In einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat hatte Damaskus kürzlich dagegen protestiert, daß die Türkei den bewaffneten Aufständischen das Grenzgebiet als Aufmarschgebiet zur Verfügung stellt. Kampfwillige Gotteskrieger, die aus aller Welt nach Syrien strömen, werden in Camps gesammelt, bewaffnet und ausgebildet. Anschließend läßt die Türkei sie ungehindert über die Grenze nach Syrien einsickern.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 26. Februar 2013


Waffenruhe: Zweifelhafte Partner **

Nach monatelangen Kämpfen im türkisch-syrischen Grenzort Ras Al-Ain (kurdisch: Sere Kaniye) haben sich verschiedene bewaffnete Gruppen auf einen Waffenstillstand geeinigt. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten, die auf syrischer Seite verschiedene Gebiete im Grenzgebiet zur Türkei kontrolliert haben, waren von Kämpfern verschiedener Couleur mehrfach angegriffen worden. Nach mehreren vergeblichen Versuchen am 17. Februar soll sich nun die Partei der Demokratischen Einheit (YPG) mit Vertretern der »Freien Syrischen Armee« (FSA) darauf geeinigt haben, daß alle bewaffneten Kräfte aus Ras Al-Ain (Sere Kaniye) zurückgezogen werden.

Vermittelt wurde die Vereinbarung durch Michel Kilo vom oppositionellen Syrischen Demokratischen Forum. Der bekannte Oppositionelle, der seit über einem Jahr in Paris lebt, hatte mehrmals versucht, zwischen den gegnerischen Seiten zu schlichten. Das nun vorliegende Abkommen umfaßt elf Punkte und sieht neben dem Abzug der bewaffneten Gruppen die Bildung eines Ausschusses vor, der die Einhaltung des Abkommens überwachen soll. Ein noch zu gründender »ziviler Rat«, in dem alle »Völker Syriens« vertreten sein sollen, soll die Kontrolle der Grenze in die Türkei übernehmen. Zudem werden gemeinsame Kontrollpunkte um den Ort Ras Al-Ain errichtet. Nach Angabe von Michel Kilo, der sich nach der Vereinbarung gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP äußerte, hätten auch islamistische Gruppen wie die Guraba Al-Sham erklärt, sich an das Abkommen halten zu wollen. Auch die Al Qaida zugerechnte Al-Nusra-Front habe an den Verhandlungen teilgenommen und Zustimmung signalisiert.

Die Al-Nusra-Front hat für eine Reihe von schweren Anschlägen in Syrien, denen Hunderte Menschen zum Opfer fielen, die Verantwortung übernommen. Die USA hat die Gruppe auf die Liste »terroristischer Organisationen« gesetzt.

Der Vorsitzende des Ende 2012 in der Türkei gegründeten Obersten Militärrates der Aufständischen, General Selim Idriss, erklärte gegenüber der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu (20.2.2013), die Führung der »FSA« erkenne das Abkommen nicht an. (kl)

** Aus: junge Welt, Dienstag, 26. Februar 2013


Rosen für Merkel

Bundeskanzlerin in der Türkei

Von Sevim Dagdelen ***


Mit Rosenschauern aus einem Heißluftballon soll Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag anläßlich ihres Türkei-Besuchs empfangen worden sein. Und in der Tat. Die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan in Ankara hat allen Grund, sich überschwenglich bei der Besucherin aus Berlin zu bedanken. Merkel soll der Türöffner für einen EU-Beitritt sein. Auch wenn Tausende politisch Verfolgte hinter Gittern sitzen, auch wenn die Obstruktionspolitik gegenüber einer Normalisierung der Beziehungen zur Republik Zypern anhält und der Weg in Richtung Unterdrückungsstaat fortgesetzt wird, die Bundesregierung eröffnet offensichtlich ein neues Kapitel mit Ankara. Dabei galt Merkel immer als Gegnerin eines EU-Beitritts. Warum jetzt diese Wende? Zu mächtig ist offenbar das Drängen des deutschen Kapitals geworden, hier aktiv zu werden. Vor dem Hintergrund, daß die gesamten südeuropäischen Märkte wegbrechen und auch Frankreich auf absehbare Zeit nicht wieder auf die Beine kommt, ist Ersatz gefragt. China, Rußland und Indien allein reichen nicht, um die Misere in Europa auszugleichen. Da ist die Türkei mehr als willkommen.

Auch wenn es dort weiterhin ein riesiges Leistungsbilanzdefizit gibt und enorme Risiken eines auf Pump finanzierten Wirtschaftsbooms, für die deutsche Industrie zählt allein der Absatzmarkt von über 70 Millionen Menschen. Und die regierende AKP privatisiert alles was nicht niet- und nagelfest ist. Vor wenigen Tagen erst wurde die Raiffeisen International mit der Privatisierung türkischer Häfen beauftragt. Das ist es, was zählt. Und so darf Erdogan nun hoffen, Merkel auch für die angepeilte neue Verfassungsänderung als Unterstützerin mit an Bord zu nehmen. Hatte die Bundesregierung bereits die letzte Verfassungsänderung 2010 überschwenglich begrüßt, mit der die AKP die Justiz unter Kontrolle brachte und Tausende Verfahren gegen Regierungskritiker wie den Komponisten Fazil Say und die Schriftstellerin Pinar Selek oder kurdische Politiker eröffnete, wird sie sich nun erst recht hinter die Etablierung eines autoritären Präsidialsystems stellen, das der AKP zum Preis einiger symbolischer Brosamen für Kurden auf Jahrzehnte die Macht sichern soll.

Die neue Kumpanei von Merkel und Erdogan, seit Monatsbeginn mit einer direkten deutschen Unterstützung des NATO-Frontstaats Türkei durch Truppen und Raketen der Bundeswehr besiegelt sowie dem gemeinsamen »Antiterrorkampf«, der eine verstärkte Auslieferung von PKK-Angehörigen an die Türkei vorsieht, diese neue Kumpanei richtet sich gegen die Bevölkerung in beiden Ländern. Sie sind die Verlierer dieses teuflischen Pakts. Für sie bleibt nur mehr Armut, mehr Ausbeutung und mehr Unterdrückung. Es ist Zeit, den Widerstand gemeinsam zu verstärken.

*** Die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion.

Aus: junge Welt, Dienstag, 26. Februar 2013 (Gastkommentar)



Zurück zur Türkei-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage