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Türkische Journalisten hinter Gittern

Pressefreiheit endet bei pro-kurdischen und sozialistischen Medien. Vortragsreise durch die BRD

Von Julius Kaiser *

Rund 100 Journalisten und Schriftsteller befinden sich nach Angaben des internationalen PEN-Clubs in der Türkei in Haft – mehr als in jedem anderen Land. Auf deren Situation soll eine am Tag der Pressefreiheit am 3. Mai angelaufene Veranstaltungsreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Roten Hilfe und der Föderation der Arbeitsimmigranten in Deutschland AGIF hinweisen. Als Referent tritt der Sprecher der aus Gewerkschaften und Berufsverbänden in der Türkei gebildeten »Solidaritätsplattform für inhaftierte Journalisten« (TGDP), Necati Abay, in zehn deutschen Städten auf.

»In der Türkei ist die Pressefreiheit von staatlicher Repression regelrecht umzingelt«, beklagte Abay am Donnerstag in Berlin. »Wer sich wirklich für Pressefreiheit einsetzt, muß auch für die Freiheit der kurdischen und sozialistischen Presse eintreten«, forderte er. Denn für solche Medien arbeiten die meisten der aufgrund des Antiterrorgesetzes inhaftierten Journalisten. Extrem lange Untersuchungshaftzeiten nehmen eine mögliche Strafe vorweg. So befindet sich die Leiterin des Radiosenders Özgür Radio (Freiheitsradio), Füsün Erdogan, seit sechs Jahren ohne Urteil im Gefägnis. Antiterrortribunale mit Sondervollmachten verhängen drakonische Strafen. Der Herausgeber der kurdischsprachigen Tageszeitung Azadiya Welat (Freies Land), Vedat Kursun, wurde im vergangenen Jahr wegen des Abdrucks mehrerer Artikel zur kurdischen Befreiungsbewegung zu 166 Jahren Haft verurteilt. Auch Abay droht nach seiner Rückkehr in die Türkei Gefängnis. Als Redakteur der sozialistischen Zeitung Atilim war er vor einem Jahr erstinstanzlich zu einer Haftstrafe von über 18 Jahren verurteilt worden. Ohne Beweise hatte sich das Gericht »überzeugt« gezeigt, daß Abay Drahtzieher einer in seiner Zeitung geschilderten Anschlagserie sei. Die islamisch-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bestreitet schlicht, daß sich überhaupt Journalisten in Gefangenschaft befinden. Es handle sich vielmehr um »Vergewaltiger« und »Terroristen«.

»Während Bundeskanzlerin Angela Merkel die Haftsituation der in der Ukraine wegen krimineller Machenschaften verurteilten Oligarchin Julia Timoschenko zur Chefsache erklärt hat, fand ein Hungerstreik von tausenden politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen kaum Erwähnung in deutschen Medien«, beklagte jW-Mitarbeiter Nick Brauns auf dem Podium. Er vertritt die Kampagne »Demokratie hinter Gittern« und konnte auch von Erfolgen der internationalen Solidaritätsarbeit berichten. In den letzten Monaten seien einige der inhaftierten Publizisten wie der für sein prokurdisches Engagement bekannte Verleger Ragip Zarakolu und die aufgrund ihrer Berichte über Menschenrechtsverletzungen verfolgte Journalistin Hamdiye Ciftci freigekommen. Auch das Schweigen deutscher Medien und Politiker gegenüber den Massenverhaftungen von Oppositionellen in der Türkei werde langsam durchbrochen.

So berichtete die Tageszeitung Hürriyet Daily News, daß es Mitte der Woche zum Eklat kam, als Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) gegenüber einer türkischen Parlamentariergruppe die Situation von neun in der Türkei inhaftierten Oppositionsabgeordneten ansprach. Als sich der anwesende türkische Botschafter Avni Karslioglu weigerte, diese Thematik zu erörtern, habe Thierse das Treffen im Bundestag erzürnt abgebrochen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Mai 2012


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